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Johann

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23.10.2004
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Johann

Johann- Ein Leben für die Mathematik


Ich fürchtete seine unglaubliche Fähigkeit, ständig die Lösung zu sehen.
Bereits in unserer frühesten Kindheit war seine große Begabung zu erkennen, doch dies wurde mir natürlich erst sehr viel später bewusst.
Damals wirkte Johann auf mich nur sehr seltsam. Da wir direkt gegenüber wohnten, konnte ich häufig beobachten, während ich im Freien herumtollte und meine ganze kindliche Energie täglich aufs Neue verbrauchte, wie er Schach spielte, oder völlig versessen versuchte, vom Vater vorgegebene Rechenaufgaben zu lösen.
Auch mein Vater gab mir einige Mathematikhefte, die ich als Vorbereitung auf den Beginn der Schulzeit bearbeiten sollte. Doch es war eher meine Mutter , die mir den Weg dorthin erleichterte. Sie unterstützte mich meistens bei Schwierigkeiten, da mein Vater oft den ganzen Tag in seiner Schreinerei verbrachte, um die immer unsicherer werdende Existenz zu erhalten.
In dieser Hinsicht gab es für Johann weniger Hindernisse : Sein Vater war Ingenieur, hielt sich aber für einen missverstandenen Mathematikprofessor.
Überhaupt genoss Johanns Familie ein hohes Ansehen, zumal sich seine Mutter sehr in der örtlichen Kirchengemeinde engagierte.
Besonders fiel mir an ihm auf, dass er beinahe niemals lächelte, geschweige denn, wie es bei Kindern doch eigentlich selbstverständlich ist, seine Freude frei, laut herausschrie.
Im August war es dann schließlich soweit, Johann und ich hatten unseren ersten Schultag. Es sollte der Beginn einer lang währenden Rivalität werden. Schon nach wenigen Wochen zeigte sich, dass wir ungefähr die gleiche Leistungsstärke besaßen. Um sein Niveau aber halten zu können, hatte ich, geleitet von meinen Eltern, enorm viel zu lernen. Ihm schien Vieles leichter zu fallen, er spielte, jonglierte förmlich mit den Zahlen.
Während ich die Schule noch nicht vollends ernst nahm, war Johann wahrhaftig vom Ehrgeiz zerfressen, der Beste sein zu wollen. Dieses Ziel erreichte er auch, und als die ersten Noten vergeben wurden, strahlte er eine innere Zufriedenheit aus, denn nun konnte jeder exakt ablesen, wer der Klügste von allen war. Mir haftete der Ruf an , lediglich der Zweibeste zu sein.
Eines Nachmittags lief ich nach Johann hinüber, um ihn zu einer gemeinsamen Unternehmung einzuladen. Doch er erwiderte in seiner sehr langsamen, stockenden Aussprache : „ Es tut mir leid, Adam. Aber in den nächsten Tagen möchte ich mich ausschließlich mit Mathematik beschäftigen, denn in der letzten Prüfung war eine meiner Lösungen falsch.
Das darf mir nicht passieren.“
Durch diese Äußerung begann sich in mir eine leichte Abneigung gegenüber Johann zu entwickeln. Zwar hatte ich durchaus Respekt vor seiner Leistung, seinem Können, seiner Intelligenz, doch dieser starr perfektionistischen Einstellung konnte ich nichts abgewinnen. So blieben wir uns weitest gehend fremd.
Heute weiß ich, dass jenes für ihn empfundene Gefühl am treffendsten als Neid zu bezeichnen ist, da ich mir selbst dieses dauernde Streben nach Perfektion wünschte. Dafür aber konnte ich kein ausreichendes Durchhaltevermögen aufbringen. Als der Wechsel zu einer weiterführenden Schule bevorstand, wählten wir beide das gleiche Gymnasium. Es war bekannt für seine hohen Ansprüche und gute Förderung im Bereich der Naturwissenschaften.
Wir waren wohl nicht die Einzigen, welche sich aus diesen Gründen für jene Lehranstalt entschieden hatten, denn es bildeten sich in meiner Klasse viele weitere Konkurrenten heraus, gerade im Fach Mathematik. Zunächst fand ich mich deswegen dort gar nicht zurecht, und meine Noten verschlechterten sich ein wenig. Doch nach einer Weile passte ich mich den Verhältnissen an, ragte schließlich auch aus dieser großen Gruppe von exzellenten Schülern hervor. Johann schien wenig beeindruckt von der Umstellung. Auch hier hatte er sein Ziel erreicht, er übertraf jeden um Längen , verblüffte mit seiner erstaunlichen Auffassungsgabe oft sogar die Lehrer.
Mit dem ungefähr gleichzeitigen Einsetzen der Flegeljahre bei Johann und mir ging die Schere unserer Leistungen immer weiter auseinander.
Ich entdeckte den Alkohol, die Zigaretten, die Mädchen, mir fehlte meistens die Zeit zum Lernen, weil ich mich am Wochenende, und häufig auch während der Woche auf zahllosen Festen amüsierte . Johann hingegen war dort nirgends anzutreffen, auch nicht auf feierlichen, klasseninternen Veranstaltungen. Während ich viele unglückliche Lieben zu überwinden hatte, galt sein Interesse niemandem, außer ihm selbst.
Meine Gefühle für ihn steigerten sich fast bis zum Hass. Gleichzeitig jedoch empfand ich auch Mitleid.
Denn Johann hielt seinen sehr tristen Lebensstil bei,
wurde dafür belohnt, er setzte seine Einserserie fort,
ich nahm ein starkes Absinken meiner Noten in Kauf,
konnte dafür aber mein Leben genießen. In polternden Schritten liefen wir auf das Abitur zu, und in der Qualifikationsphase galt meine ganze Konzentration wieder dem Schulalltag. So verbesserte ich mich wieder erheblich, doch die Leistungsstärke von Johann konnte ich einfach nicht erreichen.
Durch meine Lebensweise beim Durchlaufen der Mittelstufe hatte ich es verpasst, besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern, mir wichtige Grundlagen anzueignen. Nun musste ich mir diese schnellstmöglich erarbeiten, während Johann auf vielen Gebieten die Details, die Tiefen erforschen konnte.
Der Zorn auf mich selbst, welcher sich deswegen in mir regte, wurde von meinem Inneren auf Johann projiziert. Ich verabscheute ihn, weil ich glaubte, durch sein Elternhaus hätte er weitaus bessere Voraussetzungen als ich für diese Schule mitgebracht . Damals wünschte ich mir, von meinen Eltern auch zum Lernen gezwungen worden zu sein. Jetzt sehe ich jedoch ein, dass ich als Kind ganz bestimmt unglücklich gewesen wäre, hätten meine Eltern dies tatsächlich getan.
Zu diesem Zeitpunkt zeigte es sich: Auch Johann war nicht unfehlbar.
Er durchlebte eine kleine Krise, seine Überlegungen wurden unpräziser, er verrechnete sich, vergas Hausaufgaben. Dies ließ ihn in meinen Augen sympathischer erscheinen, doch Johann verzweifelte beinahe an sich selbst.
Nur mühsam gelang es ihm, zurückzukehren, auf seine ehemals so konsequente, unerbittliche Linie. Pünktlich zu den ersten Abiturprüfungen hatte er sie aber wieder vollständig erreicht.
In den davor liegenden Wochen bildete ich mir ein, Johann würde für die Mathematikklausur täglich weit über neun Stunden lernen, und so versuchte ich, es ihm gleich zu tun. Immer dann, wenn wegen anderen Verpflichtungen die Zeit hierfür fehlte, machte sich in mir ein schlechtes Gewissen bemerkbar, es war wie ein Stachel in meinem Kopf, der mich veranlasste, immer schneller, immer mehr, ohne Pausen, häufig ohne eine Nahrungsaufnahme zwischendurch zu lernen, mich nur auf die Aufgaben, auf die Zahlen zu konzentrieren.
Meistens arbeitete ich bis spät in die Nacht, um dann völlig erschöpft ins Bett zu fallen. Eine hervorragende Abiturnote war schließlich mein Lohn.
Johann übertraf mich trotzdem, doch der Abstand zu ihm war nicht sehr groß, er erreichte lediglich 4! (24) mehr Punkte als ich. In der rauschenden Abschlussnacht erlebte ich ihn als einen völlig neuen Menschen. Er schien die Ketten der Schulausbildung abgelegt zu haben, wirkte ungeheuer frei, trank enorm viel Alkohol, tanzte losgelöst mit den Frauen. Es war, als hätte er all seine Freude für diese eine Nacht aufgespart. Derweil fragte ich mich ständig, wie das Leben von Johann
wohl weitergehen würde, welche weiteren Pläne er für seine Zukunft hatte.
Aber da er kaum ansprechbar war, wollte ich mich am Tag darauf danach erkundigen, nachdem ich meinen furchtbaren Kater überwunden hatte. Johanns Eltern berichteten mir am Nachmittag, er wäre bereits weggezogen, weil er nun in München studieren würde.
So konnte ich mich nicht einmal von ihm verabschieden.
Die Jahre flossen dahin. Ich wurde ein erfolgreicher Bankkaufmann, stieg zum Prokuristen auf, und war lange Zeit der erste Anwärter auf die Position
des Direktorstellvertreters. Nach dauerndem Kampf wurde mir dieser Posten schließlich übertragen. Inzwischen hatte ich geheiratet, lebte glücklich mit meiner Frau und zwei Kindern.
Eines Tages verfolgte ich die abendliche Nachrichtensendung. Plötzlich wurde gemeldet, dass der Nobelpreis für Mathematik in jenem Jahr an Johann Naser vergeben worden war. Ungläubig schaute ich mir den Beitrag an. Es war darin die Rede von einer frühen, schweren, aber lange überwundenen Lebenskrise, die ihn in die Alkoholabhängigkeit geführt hätte. Als endlich Johanns Photo eingeblendet wurde, klatschte ich spontan laut in die Hände. Er war in seinem ganzen Leben tatsächlich der Mathematik treu geblieben.
„Nun wird er also belohnt“, dachte ich. Die folgende halbe Woche verbrachte ich damit, Johanns Adresse herauszufinden. Leider waren seine Eltern verstorben, so dass es hierzu
erheblich mehr Anstrengungen bedurfte, als nur in unseren Heimatort zu reisen.
Johann wohnte in Gräfelfing, einem Vorort von München. Sofort machte ich mich auf den Weg dorthin, um ihm persönlich zu gratulieren, und über die alte Schulzeit zu reden und ,um Freundschaft zu schließen.
Als ich ihn jedoch aus der Nähe erblickte, fuhr ich erschrocken zusammen.
Er war ein gebrochener Mann, konnte kaum noch sprechen. Den Nobelpreis schien man ihm verliehen zu haben, weil man sein baldiges Ende befürchtete.
Die Pflegerin Lena erklärte mir: „Herr Naser ist vor einiger Zeit sehr depressiv geworden. Sein Zustand hat sich dann immer weiter verschlimmert, so dass er mehrere Wochen in einer psychiatrischen Klinik verbringen musste.“
Johann begann ein wenig zu lächeln, je länger er mich betrachtete, und schließlich flüsterte er : „Adam.“
Als seine hilflosen Augen mich anstarrten, wurde mir bewusst, dass ich mich von nun an um ihn kümmern musste. Nach einem wochenlangen Streit mit seinen Ärzten, die ihn wieder in die Anstalt verlegen wollten, wohnte er schließlich bei uns, meiner Frau und mir.
Ich allein richtete ihn auf, half ihm, seine Unabhängigkeit zurück zu erlangen. Irgendwann war er sogar soweit, dass er uns im Haushalt behilflich sein konnte. So wurde Johann ein Teil meiner Familie.
Als mir ein früherer Rückzug aus dem Bankgeschäft mit einer annehmbaren Höhe der Lohnfortzahlung angeboten wurde, willigte ich auf der Stelle ein. – Johann war der Grund für mein Handeln.
Seitdem verbrachten wir beide den halben Tag zusammen, waren heiter wie noch niemals vorher. Wir lösten Rechenrätsel, soweit dies möglich war mit unseren immer langsamer arbeitenden Köpfen. Johann lehrte mich auch das Schachspielen, wenn er mich gewinnen ließ , und ich „Schach matt“ rief, war ein Lachen aus vollem Herzen zu vernehmen.
Drei Wochen sind nun nach seinem Tod vergangen. Feierlich wurde er beigesetzt, es gab Nachrufe in vielen großen Zeitungen.
Doch niemand hat ihn wohl wirklich gekannt, niemand konnte in sein Herz, in seine Seele sehen, leider auch ich nicht. Jeder, der glaubt, etwas über ihn zu wissen, sollte sich Johanns Grabinschrift vor Augen rufen, die er selbst im Testament festgelegt hatte.
Es ist ein Zitat von Sokrates :“ Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

 

Eine psychologisch interessante, wohl authentische Geschichte.

Deskriptive Teile hätte ich in höherem Maß durch Geschichten ersetzt.

Psychologisch ist es ja das tragische, wenn ein Mensch dazu gebracht wird, zu glauben, sich Liebe/Anerkennung nur durch Leistung verdienen zu können. Perfektionismus wird immer noch eher bewundert, statt kritisch betrachtet. Was ist mit dem Wohl des Einzelnen?

Der Eingangssatz ist toll:

Ich fürchtete seine unglaubliche Fähigkeit, ständig die Lösung zu sehen.

 

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