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Joker's wild

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19.08.2001
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Joker's wild

Dreißig Minuten. Mehr Zeit habe ich nicht. Ich schnappe mir meine Jacke und verlasse fluchtartig mein Büro. Während ich auf den Lift warte, der sich träge seinen Weg in den sechsten Stock bahnt, schließe ich meine Augen und schicke ein Stoßgebet in Richtung Himmel. Als der Lift ankommt, ertönt ein metallisches „Klonk“ und die Türen gleiten schleifend zur Seite. Ich trete ein und drücke den Knopf für das Erdgeschoss.

Als ich das Gebäude verlasse, scheint mir die Sonne ins Gesicht. Ich bleibe kurz stehen und bade in den warmen Sonnenstrahlen. Ein Glücksgefühl überkommt mich. Euphorisch setze ich meinen Weg fort, der mich schnurstracks in die, um die Ecke gelegene, Bankfiliale führt.

Während die Frau am Schalter die Barabhebung von meinem Konto bearbeitet, starre ich auf die Bündel von Geldscheinen, die in ihrer Kasse liegen. Ein Stoß Fünfhunderter haben es mir besonders angetan. Ich frage mich, wie viel Euro dort wohl liegen mögen. Fünfzig tausend? Möglicherweise einhundert tausend? Schließlich erhalte ich mein Geld. Fünf einzelne einhundert Euro Scheine. Druckfrisch und in sattem grün. Ich stecke das Geld ein und verlasse die Filiale.

Wie ferngesteuert bewege ich mich auf das Wettbüro auf der anderen Straßenseite zu. Durch einen separaten Eingang betrete ich schließlich die Räumlichkeiten der Spielhölle. Es stinkt nach kaltem, abgestandenem Rauch und menschlichen Ausdünstungen. Während im vorderen Bereich einige gescheiterte Existenzen alles Menschenmögliche versuchen, ihr Geld durch Setzen auf nahezu unmögliche Wetten zu vermehren, setze ich mich auf einen leeren Stuhl, der vor einem freien Spielautomaten steht. Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass ich nur mehr knapp zwanzig Minuten Zeit habe. Während die Maschine meinen ersten Hundert-Euro-Schein, den ich durch den Schlitz auf der Vorderseite einführe, schluckt, ertönt ein metallisches Rasseln aus dem Inneren. Nach einigen Sekunden erscheint auch schon mein Guthaben auf dem Monitor. Zufrieden stecke ich mir eine Zigarette in den Mund und gebe mir Feuer. Auf der Maschine befinden sich mehrere Spiele. Ich entscheide mich für klassisches Videopoker und drücke mit meinem Daumen auf das dazugehörige Symbol auf dem Bildschirm. Sofort erscheint das Spiel, begleitet von einer dahindudelnden Melodie, die sich bereits tief in mein Bewusstsein gebrannt hat. Ein Druck auf die Start-Taste und es kann losgehen. Vorher ändere ich meinen Einsatz noch von fünfzig Cent auf fünf Euro pro Drücker. Um Peanuts spiele ich nicht mehr, die Zeiten sind vorbei. Bei einem derartigen Einsatz bringt ein hoher Gewinn an die zweitausend Euro. Ohne weiter nachzudenken, starte ich das Spiel und beobachte das farbenfrohe Schaffen auf dem Monitor, erneut begleitet durch das raschelnde Geräusch von Karten die gegeben werden und der bereits erwähnten Melodie.

Es läuft nicht gut. Innerhalb von zwei Minuten habe ich die hundert Euro verbraten. Gewinne, die erzielt werden, können mittels der Risikotaste verdoppelt werden. Natürlich mache ich mehr als oft davon Gebrauch. Bei einem Gewinn von fünfzig Euro muss ich bei dem richtigen Riecher lediglich dreimal rot oder schwarz erraten und erhalte dafür satte eintausend Scheine. Leider misslingt mir das dreimal.

Entnervt stecke ich den zweiten Schein in den Automaten und verlasse das Videopokerspiel. Auf dem Startbildschirm erscheint erneut die Spielauswahl. Das Früchtebonus-Symbol leuchtet auf und eine Animation wird gestartet. Das Spiel scheint regelrecht auf sich aufmerksam machen zu wollen. Also halte ich den Daumen drauf und es geht auch schon weiter.

Beim Früchtebonus geht es darum so viele gleiche Früchte wie möglich auf einer der drei Walzen zu erhalten. Nach einem derartigen Gewinn bietet sich einem die Möglichkeit, den Gewinn zu vermehren, indem man verdeckte Früchtesymbole richtig errät. Ich erhöhe den Einsatz auch hier auf fünf Euro pro Drücker und starte das Spiel. Ratternd wird Guthaben in fünfzig Cent Schritten von dem am Bildschirm angezeigten Betrag abgezogen. Danach beginnen sich die Walzen zu drehen und ich starre gebannt auf das Geschehen. Melonen, Orangen, Kirschen, Zitronen und Weintrauben wirbeln auf und ab und lassen mich alles um mich herum vergessen. Ich stecke mir die nächste Zigarette an und betätige wie hypnotisiert die Start-Taste. Doch es hat keinen Sinn. Das Geld ist innerhalb von wenigen Minuten weg.

Grunzend hole ich die verbleibenden drei Hunderter aus meiner Hosentasche, stehe auf und setze mich an den Automaten daneben. Mit zitternder Hand stecke ich alle drei Scheine in den Schlitz und warte darauf, dass mein Guthaben am unteren Bildschirmrand erscheint. Schließlich starte ich erneut ein anderes Spiel – Bee Hunter.

Bee Hunter hat als einziges Spiel die Möglichkeit den Einsatz auf zehn Euro pro Drücker zu erhöhen. Nachdem mir nicht mehr viel Zeit bleibt, maximiere ich den Einsatz und knalle meinen Handballen auf die Start-Taste. Alle möglichen Insekten und Symbole drehen sich in Windeseile auf fünf Walzen und bleiben schließlich stehen. Das Bienensymbol ersetzt hierbei alle anderen, sozusagen ein Joker. Während mein Guthaben dahinschwindet, fange ich an mit mir selber zu reden. Genau genommen beginne ich mit dem Automaten zu reden. Ich bitte ihn flüsternd, mir doch einen Gewinn zu schenken. Nun komm schon, sei nicht so! Nur ein hoher Gewinn! Dann höre ich auf. Mein Guthaben fällt unter zweihundert Euro, die Walzen drehen sich weiter. Hier und da erscheint eine Biene, ohne jedoch irgendwelche Gewinnlinien zu komplettieren. Bei einem Höchstgewinn erwarten mich satte sechstausend Euro. Sehnsüchtig starre ich auf den Monitor und stecke mir eine weitere Zigarette in den Mund. Ein Blick auf meine Uhr verrät mir, dass ich eigentlich schon los müsste, als der Automat plötzlich laut zu klingeln beginnt. Verdutzt sehe ich auf den Monitor. Fünf Bienen! Während ich noch versuche zu glauben, dass ich in diesem Moment tatsächlich den höchstmöglichen Gewinn erzielt habe, ertönt eine Gewinnmelodie, die nicht zu enden scheint. Ich starre auf den unteren Bildschirmrand. Da steht es eindeutig – sechstausend Euro gewonnen! Meine Hände zittern, als ich auf den Risikobutton drücke. Eine schwarze und eine rote Karte erscheinen und das Geräusch von Karten, die gemischt werden untermalt das Ganze. Während sich meine Hand langsam dem rot-Button nähert, schreit alles in mir auf, es nicht zu tun, die sechstausend Euro einfach zu nehmen und zu verschwinden. Fassungslos betrachte ich meine Hand dabei, wie sie ihren Weg zur Taste fortsetzt und sich dabei allen meinen Versuchen widersetzt, mir zu gehorchen. Ein Druck auf die richtige Taste würde den Gewinn verdoppeln. Zwölftausend Euro in nur einer Sekunde! Ich beginne zu wimmern, als meine Hand schließlich über der rot-Taste stoppt und plötzlich zur Seite in Richtung schwarz-Taste gleitet. Ich möchte aufstehen und schreien. Ich möchte wieder Herr über meinen Körper werden, aber ich scheitere kläglich. Mein gesamtes Dasein hat sich in diesem Augenblick auf diesen Automaten und den möglichen Gewinn reduziert. Ein weiteres Mal schwenkt meine Hand zur rot-Taste hinüber, ehe sie herabsaust und die schwarz-Taste drückt. Der Automat gibt ein knarzendes Geräusch von sich, als er mir anzeigt, dass rot die richtige Wahl gewesen wäre. Als wäre nichts passiert, erscheint der normale Bildschirm und fordert mich auf, die Starttaste zu betätigen.

Keuchend lehne ich mich im Stuhl zurück und starre fassungslos auf den Bildschirm. Ich habe soeben sechstausend Euro verschenkt! Einfach so! Als würde ich ein Papiertaschentuch zusammenknüllen und in den Gully stopfen. Alles beginnt sich vor mir zu drehen und ich rutsche langsam vom Stuhl hinunter. Niemand scheint bemerkt zu haben, was sich gerade abgespielt hat, ich befinde mich immer noch alleine im Spielbereich. Ohne auf meine verbleibende Gutschrift von knapp einhundertzwanzig Euro zu achten, stolpere ich durch den Ausgang auf die Straße hinaus. Erst jetzt bemerke ich, dass meine Kleidung an mir klebt, als wäre ich zehn Kilometer gelaufen. Schweiß rinnt mir in meine geröteten Augen und den Nacken hinab. Ich muss aussehen, wie ein Verrückter, vorbeigehende Passanten werfen mir argwöhnische Blicke zu und weichen mir aus. Erst jetzt bemerke ich, dass es sich bei der Flüssigkeit in meinen Augen nicht um Schweiß sondern um Tränen handelt – ich weine! Ein lautes Schluchzen bahnt sich aus meinem Inneren seinen Weg nach Draußen und meine Schultern beginnen unkontrolliert zu zucken. Langsam schlurfe ich zu einer nahe gelegenen Parkbank und setze mich schwerfällig hin. Mit einem Schlag wird mir klar, dass ich Hilfe benötige. Mir wird klar, dass ich nicht um die verlorenen sechstausend Euro weine, die mir eigentlich nie gehört haben und die ich daher auch nie verlieren konnte. Ich weine, weil ich einfach nicht mehr weiß, wie ich mich aus diesem Schlamassel ziehen soll. Ich weine, weil ich seit Monaten Geld, das ich eigentlich für meine kleine Tochter oder meine Frau hätte ausgeben können, in Spielautomaten gestopft habe. Ich weine, weil mich Schamgefühle und schlechtes Gewissen so fertigmachen, dass ich am liebsten aufspringen und mich vor den nächsten Bus schmeißen möchte. Ich weine, weil ich immer dachte, dass ich niemals spielsüchtig werden könnte und letzten Endes weine ich einfach, weil ich nicht mehr Herr über mein eigenes Leben bin.

Als ich schließlich auf meine Uhr schaue, bin ich bereits seit einer Stunde überfällig. Zu Tode deprimiert stehe ich auf und wische mir mit dem Ärmel meiner Jacke Rotz und Tränen aus dem Gesicht. Mir kommt der Gedanke, erneut in die Bank zu gehen und noch einmal Geld abzuheben. Ich kann kaum fassen, dass ich es zulasse, aber ich denke tatsächlich ernsthaft darüber nach. Kopfschüttelnd und schwer deprimiert mache ich mich schließlich auf den Weg nach Hause. Im Büro wird man sich fragen, wo ich bleibe, aber das ist mir egal. Zuhause warten meine Frau und mein Kind. Ich beschließe von einer Sekunde auf die andere, ihnen alles zu erzählen. Sie um Hilfe zu bitten, nein, anzuflehen. Während ich am Gehsteig auf das Grünwerden der Fußgängerampel warte, höre ich das Geräusch eines herannahenden Lastwagens. Ich blicke zur Seite und sehe das Ungetüm in ungefähr hundert Metern Entfernung. Es wäre so leicht, einen Schritt zu machen. Sich so aus der ganzen Affäre zu ziehen. Niemand würde jemals von meinem Problem erfahren, schließlich weiß niemand davon, nur ich.

Rumpelnd kommt der Laster näher und braust schließlich, Staubwolken aufwirbelnd, haarknapp an mir vorbei. Während erneut Tränen in meinen Augenwinkeln erscheinen, wird es grün.

Leise weinend gehe ich los.

 

hi groovekilla

die geschichte hat mir gefallen. jedenfalls inhaltlisch. ich habe echt viele bekannte die spielen und haushoch verlieren und trotzem weiterspielen.
deshabl fand ich den letzten absatz am besten. wo der prot zu sinnen kommt und dann nachdem er sich eingeredet hat, sich zu bessern, dann doch wieder daran denkt zur bank zu gehen und wieder anzufangen zu spielen. genau so muss es einem süchtigen ergehen.
was ich nich so gut fand, war der mittelteil. das hat sich eigentlich nur wiederholt: zigarette ziehen, auf den bildschirm gucken, bienchen kommen ... hättest interessanter machen können. wie? weiß ich selber nicht. aber ich denke du hättest seine gefühlswelt näher beschreiben können, die achterbahnen in der er sich befindet.

ein interessantes thema, die umsetzung ist okay und na ja. das ganze ist okay.:lol: :thumbsup:

cu J:baddevil:

ps: rot-Taste hast du geschrieben, richtig ist Rote - Taste

 

Hi, Groovy!
Eine sehr anschauliche, unspektakuläre Geschichte rund um Spielsucht, die du da geschrieben hast. Da ich selber höchstens mal "Deppensteuer" (Lotto, Rubbellos) zahle und größere Spielbeträge schaue, ist mir die Welt dieser Sucht genau so fremd wie etwa jener der Drogen.
Den einzigen Kritikpunkt hat mein Vorredner bereits angeschnitten: Die ausführlichen Beschreibungen der Spielszenen sind ein wenig langatmig geraten, da sie - jedenfalls für mich - etwas zu technisch daherkommen, statt emotional-aufwühlend für den Protagonisten.
Ein Pluspunkt ist auch der Schluss: Statt den melodramatischen Suizid zu wählen, geht der Protagonist einfach nach Hause. Ob er sein Leben tatsächlich ändern wird, erfährt man nicht. Es ist aber auch nicht nötig: Die Geschichte beginnt mit einem gut gewählten Einstieg und endet zwar offen, aber in sich geschlossen rund.
Stilistisch habe ich auch nichts zu mäkeln. Gute Geschichte!

 

Hallo grOOvekill@,

bei solchen Geschichten denke ich immer an Dostojewskis "Der Spieler". Immer. Es ist eine Sucht. ;)

Dennoch finde ich deine Geschichte packend geschrieben, die An- und Spannung gut rübergebracht.

Dass er am Ende zur Einsicht kommt, zeigt, dass er noch nicht ganz in der Spielsucht versunken ist ... so ist das. Dass er eben nicht Selbstmord begeht, sondern sich darauf besinnt, dass er Frau und Kind (und vielleicht sogar noch sich selbst) ernähren muss. Nicht schlecht, nicht schlecht.

Tserk!
Gefundene Fehler:

Ein Stoß Fünfhunderter haben es mir besonders angetan.
hat
Ich frage mich, wie viel Euro dort wohl liegen mögen. Fünfzig tausend? Möglicherweise einhundert tausend?
Fünfzigtausend; einhunderttausend
Fünf einzelne einhundert Euro Scheine.
Einhundert-Euro-Scheine (glaub ich)
erneut begleitet durch das raschelnde Geräusch von Karten die gegeben werden und der bereits erwähnten Melodie.
KartenKOMMA
Ein lautes Schluchzen bahnt sich aus meinem Inneren seinen Weg nach Draußen und meine Schultern beginnen unkontrolliert zu zucken.
draußen

P.S:

ps: rot-Taste hast du geschrieben, richtig ist Rote - Taste
Schwachfug. Entweder rot-Taste oder rote Taste. Da die Taste selbst zwar auch rot sein kann, sich das Wort aber darauf bezieht, dass sie die rote Karte als Wahl angibt, ist rot-Taste richtig. Rote - Taste ist in jeder Bedeutung falsch.

 

Danke vorerst an euch für's Lesen. Die Fehler habe ich gleich korrigiert, waren diesmal weniger, als ich üblicherweise produziere. :D

Ich habe die Story mehrmals gelesen mit besonderem Augenmerk auf den Mittelteil und muss gestehen, dass ich ihn unverändert besser finde. Mag sein, dass man sich hier vielleicht einen emotionaleren Prot wünscht, aber jeder Spieler wird einem bestätigen, dass man während des Spielens dem Ganzen relativ emotionslos gegenübersteht, bis sich eben ein Gewinn offenbart. Erst dann beginnt man unruhig zu werden. Und genau dieses Gefühl wollte ich rüberbringen.

Dass es sich dabei um eine Sucht handelt, brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Als jemand, der in seiner Familie zwei Spieler hatte, weiß ich leider nur zu gut, was da abgeht. :(

 

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