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Joyride
Joyride
„Hello, you fool, I love you.“
Es klingelte. Kristy seufzte, drehte den CD Player noch etwas lauter und lief dann zur Tür. Angekommen fuhr sie sich schnell mit der Hand durch die Haare, atmete tief ein und öffnete.
„Hi“, sagte sie und lächelte ihr Gegenüber liebevoll an. Er lächelte zurück, während er eintrat und sich die Schuhe abstreifte.
Bitte versteh es endlich, flehte Kristy stumm und beobachtete ihn.
„Roxette, oder?“, fragte er und wies auf die Anlage. Sie nickte.
„Joyride.“
„Klingt gut“, sagte er und steuerte das Wohnzimmer an. Kristy folgte ihm.
„Also, was wolltest du mir unbedingt – aber auf keinen Fall am Telefon – sagen?“, fragte er sie lächelnd, wohlwissend ihren genauen Wortlaut wählend. Kristy schielte hilflos auf den CD Player. Einen Moment überlegte sie wirklich, einfach lautstark mitzusingen, vielleicht würde er es ja dann verstehen.
„Also, ähm…“, begann sie zögernd, doch er unterbrach sie.
„Vielleicht solltest du die Musik ausmachen.“
Sie schluckte. Ihre Musik war doch ihre Stütze, trotzdem stellte sie die Anlage aus. Eigentlich, dachte sie, bin ich lächerlich. Als könnte ich es ihm nur mit der Hilfe von Roxette sagen.
„Also, schieß los“, sagte er aufmunternd. Grade als sie den Mund öffnete, klingelte das Telefon. Genervt verdrehte Kristy die Augen und hob ab.
„Ja?“
„Hi, ich bin’s, Selina“
„Hi.“
„Stör ich?“
„Ja, ein bisschen“, antwortete Kristy beherrscht und ärgerte sich über diese Störung.
„Kannst du mir Morgen die Lateinhausaufgaben rüberbringen? Ich war doch krank.“
„Ja, klar.“
„Und weißt du, was im Diff auf war?“
„Wir sind in verschiedenen Kursen“, bemerkte Kristy und wollte auflegen, als Selina auch schon munter weiterplapperte.
„Ach ja, Hendrik ist in meinen Diff. Irgendwie verbinde ich euch immer miteinander. Dann rufe ich halt bei ihm an.“
Wie bitte? Hatte Kristy da grade richtig gehört? Selina wollte bei Hendrik anrufen? Was war denn das? Ihr Mund stand noch offen, da griff Hendrik auch schon nach dem Hörer.
„Hi Selina, ich bin hier.“
Die nächsten zehn Minuten hörte Kristy das Gelächter der beiden Telefonierenden und ärgerte sich. Nicht genug, dass ihre sogenannte Freundin bei Hendrik zuhause anrufen wollte, nein, jetzt telefonierten die beiden miteinander, mit Kristys Apparat! Es wäre zum lachen – wenn es nicht auch so zum weinen gewesen wäre. Kristy ärgerte sich schon seit einiger Zeit darüber, dass ihre beiden besten Freundinnen ebenfalls an Hendrik interessiert waren. Dabei sah er doch nicht einmal so gut aus, und zumindest von Selina konnte man erwarten, dass sie nur nach dem Äußeren wählte.
Nachdem das Telefonat beendet war, wandte sich Hendrik wieder Kristy zu. Sehr zu ihrem Ärger bemerkte sie, wie sehr er strahlte. Klar, dachte sie. Hat ja grade mit ihr telefoniert, das steigert die Laune.
„Was wolltest du mir eben sagen?“
„Nicht so wichtig“, brachte sie heraus und musste sich sehr beherrschen, ihn nicht ein kleines bisschen zu würgen. Er strahlte immer noch, viel zu glücklich, um weiter nachzuhaken. In Kristys Fingern kribbelte es gewaltig, als sie auf seinen Hals sah, weil sie ihm nicht weiter ins Gesicht sehen konnte. Sie spürte Tränen in ihren Augen. Verdammt! Sie nahm sich vor, ihn so schnell wie möglich loszuwerden um sich dann in die nächste Ecke zu werfen und zu heulen!
Als Kristy am Montagmorgen zur Schule kam, lief Hendrik schon auf sie zu.
„Hi, hast du heute Zeit?“, rief er ihr entgegen. Sie nickte lustlos. Das Wochenende hatte sie damit verbracht, ihn zu hassen und sich über ihn aufzuregen. Und jetzt stand er vor ihr und sah sie an. Seine grünen Augen wirkten auf sie wie ein Fön auf Erdbeereis. Ihr Herz schlug schneller.
„Ok“, antwortete sie. Vielleicht war jetzt der richtige Moment, etwas zu sagen? Noch war niemand da, also…
„Ähm, was ich noch sagen…“
Weiter kam sie nicht, denn Karin, ihre zweite beste Freundin, kam auf die beiden zu und begrüßte sie. Natürlich musste sie Hendrik sogleich in ein Gespräch verwickeln, da sie unbedingt seine Mathehausaufgaben brauchte. Komisch, dachte sich Kristy. Normalerweise reichten Karin ihre Hausaufgaben, und nicht gleich die vom Klassenbesten. Als sie den klimpernden Augenaufschlag ihrer bis grade noch besten Freundin sah, ballte sie die Hände in den Taschen zu Fäusten und rammte sich ihre abgekauten Fingernägel in die Handinnenflächen. Zähne aufeinanderbeißen und weiter. Schließlich hatte sie ja auch noch andere Freunde. Sie wandte sich von Hendrik und Karin ab und ging Thomas entgegen, der grade mit seinem Fahrradschloss herumhantierte.
„Hey“, sagte sie und fühlte sich plötzlich sehr müde. Diese Woche begann ja genauso toll, wie die vorherige geendet hatte.
„Du siehst nicht gut aus“, gab Thomas – anstatt einer Begrüßung – zurück.
„Danke. Dir auch einen wunderschönen guten Morgen.“
„Du siehst echt scheiße aus“, bemerkte Thomas noch einmal.
„Mir geht’s blendend“, knurrte Kristy ihn an und hielt sein Rad fest, das beinahe umkippte als er sich dagegen lehnte.
„Glaubst du doch selbst nicht.“
„Würde ich aber gern.“
„So fantasievoll bist du nicht.“
„Du ja anscheinend auch nicht.“
„Ich bin Realist.“
„Realität ist nur was für Leute, die mit Drogen nicht klarkommen“, warf Matze ein, der plötzlich neben Kristy aufgetaucht war.
„Du weißt doch nicht mal wie man Dealer schreibt“, bemerkte Hendrik, der sich mit Karin zusammen zu den anderen gesellt hatte, bissig. Dabei spielte er auf die letzte Deutscharbeit an. Das Matze ‚Dealer’ mit ie geschrieben hatte war der Lacher des Tages.
Matze verzog das Gesicht.
„Ich muss nicht wissen wie man das schreibt. Ich kiffe nicht.“
Kristy schüttelte genervt den Kopf. Ihr war die Lust auf Schule und ihre Freunde jetzt schon gründlich vergangen. Und wenn sie zu diesem Zeitpunkt schon gewusst hätte, dass sie gleich ihre Lateinarbeit, die sie gründlich in den Sand gesetzt hatte, zurückbekommen würde, hätte sie wahrscheinlich laut losgeschrieen.
So aber tat sie dies erst später.
„Wie bitte? Warum habe ich ein Mangelhaft?“, stieß sie aufgebracht hervor, während sie mit dem Arbeitsblatt hektisch vor der Nase ihrer Lateinlehrerin wedelte.
„Bei der Übersetzung hast du ein paar schwere Fehler gemacht, hier zum Beispiel, diese Endung besagt ganz klar, dass es sich um den Passiv handelt, du aber hast es ins Aktiv gesetzt. Oder hier…“
Seufzend gab sich Kristy geschlagen. Sie erinnerte sich genau an die Arbeit. Sie hatte sich nicht richtig konzentrieren können, weil sie am Tag vorher mit Hendrik eine Radtour gemacht hatte, wobei sie während der Pause unter einem Baum eingenickt waren. Sie war vor ihm wach geworden, als sein Kopf auf ihre Schulter gesunken war. Fast eine Stunde hatte sie ihm beim schlafen zugeguckt, mit dem Ergebnis, dass sie noch mehr in ihn verliebt und ihre Schulter ausgerenkt war. Join the Joyride!
Eine fünf in Latein! Das würde noch nicht mal Hendriks Liebe wieder gutmachen, geschweige denn die Tatsache, dass ihm irgendwelche dahergelaufenen Weiber nachliefen. Nun ja, zwar waren diese Weiber ihre Freundinnen, aber trotzdem hatten sie kein Recht darauf, ihr Hendrik auszuspannen! Sie ging mit wütenden Schritten zum Mülleimer und warf ihr zerrissenes Blatt hinein. Die Welt brauchte diese Arbeit nicht, und Kristy brauchte sie noch viel weniger. Wenn der heutige Nachmittag sie nicht dafür entschädigen würde, dann… wusste sie auch nicht so genau, was sie eigentlich machen wollte. Vielleicht sich irgendwo mit einer Tafel Schokolade einschließen und Frustfressen. Genau. Wer brauchte schon Männer, wenn es doch Schokolade gab?
Ein paar Stunden später war sich Kristy mit dieser Meinung nicht mehr so sicher. Grüne Augen sahen sie zärtlich an, sein Kopf war leicht geneigt. Nur wenige Zentimeter lagen zwischen den beiden. Ihr Herz machte einen gewaltigen Sprung. Vielleicht…
Ihre Gedanken wurden durch das Klingeln eines Handys unterbrochen. Seines Handys! Als ob nichts geschehen wäre griff er in seine Hosentasche und nahm den Anruf entgegen.
„Hi, Selina“, begrüßte Hendrik die Anruferin. Seine Miene nahm plötzlich einen gespielt entsetzten Ausdruck an.
„Dein Freund hat mit dir Schluss gemacht? Oh, das tut mir aber leid“, säuselte er ins Telefon. Kristy beobachtete die Szene mit offenem Mund. Sie war entsetzt. Warum rief ihre beste Freundin bei Hendrik auf dem Handy an um ihm zu sagen, dass ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hatte? Hätte dieser Anruf nicht eigentlich für sie sein müssen?? Und woher hatte Selina eigentlich Hendriks Handynummer??? Sie kombinierte schnell, dass Hendrik Selina sofort nach dem Abheben begrüßt hatte, das bedeutete, dass ihre Nummer auf seinem Handy eingespeichert sein musste. Kristy nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit sein Telefonbuch durchzugehen. Hendriks Miene nach zu urteilen klagte Selina ihm grade ihr ganzes Leid. Und er genoss es, der große Held zu sein, nachdem ihr ach so gemeiner Freund sie sitzen gelassen hatte.
„Er muss schon ganz schön blöd sein, dich nicht zu lieben“, sagte Hendrik. Kristy glaubte, nicht mehr ganz richtig zu hören. Sagte der Junge, der vor zwei Minuten noch so ausgesehen hatte, als wolle er sie küssen, grade ihrer – jetzt ehemals! – besten Freundin, dass er nicht verstehen konnte, dass ein Junge nicht in sie verliebt sei? Entweder sie war in einem sehr falschen Film oder aber in einem sehr schlechten Traum. Kristy entschloss sich dafür, den Schauplatz des Unglückes zu verlassen. Sie hatte der Verabredung mit Hendrik bestimmt nicht zugestimmt, um ihn beim telefonieren mit Selina zu belauschen, abgesehen davon beachtete er sie jetzt sowieso nicht mehr. Sie drehte sich um, verließ sein Zimmer und wenige Sekunden später das Haus.
Schokolade war definitiv die bessere Alternative! Sie bleibt wenigstens treu, und von ihren Kalorien hast du länger etwas als von einer Beziehung. Diese und andere Lebensweisheiten über Schokolade gingen Kristy durch den Kopf, als sie wütend auf ihrem Bett lag und ein Milkaherz nach dem anderen verspeiste. Vorausschauend wie sie nun mal war, hatte sie sich nach der Schule direkt mehrere Packungen gekauft.
Am nächsten Morgen wankte Kristy übermüdet zur Schule. Sie war die ganze Nacht nicht aus dem Bad rausgekommen. Die insgesamt fünf Packungen Milka hatten ihre Verdauung von Grund auf umgeworfen. Sie war müde, ihr war schlecht, sie hatte ihre Hausaufgaben nicht weil sie sich aufgrund ihrer Lebenskrise nicht dazu hatte aufraffen können, und sie hatte überhaupt kein Bedürfnis Hendrik oder Selina wieder zu sehen. Für sie waren die beiden gestorben. Aus und vorbei. Straßenschilder am Rande der Straße des Lebens, an denen man kurz halt macht um sich zu orientieren, und sobald man seinen Weg gefunden hat, lässt man sie hinter sich zurück.
Nur mit dem zurücklassen ist es etwas problematisch, wenn man in dieselbe Klasse geht, befreundet ist und niemandem einen Grund für die eigene schlechte Laune nennen will. Sie könnte sich ab jetzt nur noch schwarz anziehen und sich den Gothics der Schule anschließen. Unzufrieden mit sich und der Welt…
Sie verwarf diese Idee wieder.
Angekommen wurde sie auch schon von Hendrik auf das herzlichste Begrüßt. Er zog sie von den anderen aus der Clique weg.
„Hier, ich hab was für dich“, sagte er grinsend und drückte ich eine gebrannte CD in die Hand.
„Aha“, antwortete sie kalt, nicht ganz sicher, ob sie lieber nett zu ihm sein sollte oder ihn spüren lassen sollte, was sie von ihm hielt.
„Von Roxette“, erklärte er.
„Oh!“ Verdammt, dachte sie. Dieser Junge kennt mich einfach zu gut. Er weiß, was ich mag.
„Ich hoffe, dir gefällt meine Zusammenstellung. Meine Eltern haben einige CDs von denen und ich hab dann einfach mal was ich passend fand zusammengebrannt…“
„Danke“, stammelte sie und suchte nach einem Cover oder einem Zettel, auf dem die Titel vermerkt waren.
„Ich denke, du kennst die Lieder ohnehin alle, darum habe ich mir das gespart.“
Der kleine Teil ihres Hirns, der vernünftig dachte, schrie: Warum brennt er dir Lieder, die du schon lange hast?
Der restliche Teil war bis über die letzte Windung verliebt, und sein Jubelgeschrei übertönte den rationalen Protest.
„Danke, ich… ähm“, begann Kristy, als sich eine Hand auf ihrer Schulter niederließ.
„Guten Morgen“, sagte Matze und feixte.
„Hübsche Zahnspange“, bemerkte Kristy.
„Jepp, nagelneu. Mit hellgrünen Gummis. Das hat niemand!“
„Das will auch niemand“, warf Thomas ein, der sein Fahrrad zu seinen Freunden schob.
„Was soll das?“, wollte Matze wissen.
„Platten“, antwortete Thomas und schloss sein Rad ab.
„Nein, ich meine das Rumgemecker an meiner Spange. Die ist voll schick!“
„Immerhin mal was anderes“, betonte Kristy und gähnte. Sie wünschte sich zurück in ihr Bett.
„Ihr könnt gleich wieder gehen“, sagte Karin plötzlich, die aus dem Schulgebäude gekommen war.
„Warum?“
„Vertretungsplan. Die ersten beiden fallen aus.“
Kristys Miene erhellte sich. Weiterschlafen!
Der einzige, der etwas unglücklich aussah, war Thomas. Er seufzte, öffnete sein Schloss und schob sein Fahrrad in Richtung Heimat.
„Hast du Lust, mit zu mir zu kommen?“, fragte Hendrik Kristy. Eigentlich sehnte sich diese nach einem warmen Bett, aber die Vorstellung, fast zwei Stunden alleine mit ihm zu verbringen, hatte durchaus auch ihren Reiz. Sie nickte.
Bei Hendrik, dessen Eltern beide arbeiteten, angekommen, warf sich dieser als erstes auf sein Bett. Kristy stand etwas hilflos im Raum. Was erwartete er von ihr? Das sie sich dazulegte? Vorsichtig setzte sie sich an das Fußende und lehnte sich gegen seine angewinkelten Beine.
„Das Wetter ist voll schön“, bemerkte Hendrik. Kristy nickte. Es war Anfang Juni, aber zum Glück noch nicht so warm. Strahlend blauer Himmel, grüne Bäume, deren Blätter im Wind rauschten und milde Temperatur. Kristy liebte dieses Wetter. Vielleicht wäre eine Fahrradtour wieder angebracht, bevor es zu warm dafür wurde. Sie lehnte sich noch etwas zurück und schmiegte sich an seine Beine.
„Bequem?“
„Ja“, antwortete sie. Kristy genoss dieses Gefühl, immerhin war sie die einzige, der dieser Luxus vergönnt war.
Obwohl…
Schließlich hatte sie bis Gestern auch nicht gewusst, dass Selina Hendriks Handynummer hatte. Und sie wusste nicht, ob Selina nicht auch schon hier gewesen war und…
Kristy sprang wie von der Tarantel gebissen auf.
„Was hast du?“, fragte Hendrik verwundert.
„Mir ist grade eingefallen, dass ich keine Hausaufgaben habe. Kann ich die bei dir abschreiben?“
„Klar“, antwortete er und stand auf, um ihr seine Hefte zu geben.
Soviel zum Thema: Der Reiz des alleine seins.
Nach der Schule legte Kristy als erstes die von Hendrik gebrannte CD ein. Sie war sehr gespannt, wie er sie zusammengestellt hatte, denn in der Schule war er ihr den ganzen Tag nicht von der Seite gewichen. Vielleicht…
Als sie die geöffnete Hülle zur Seite legen wollte, fiel ihr ein Klebezettel auf, der dort befestigt war, wo eben noch die CD gewesen war.
„Die ersten drei sind die besten. Roxette roxt!“
Bei diesen Worten musste sie unwillkürlich lächeln. Jetzt war sie aber gespannt, welche drei Lieder er bevorzugte.
Sie drückte Play.
Sofort erkannte sie „Almost Unreal“. Ihr Lieblingslied. Als der Refrain begann, überlegte sie, ob es vielleicht einen Zusammenhang zwischen dem Text und der momentanen Situation gab.
„I love when you do
that hocus pocus to me.
The way that you touch,
you've got the power to heal.
You give me that look,
it's almost unreal,
it's almost unreal”
Sie schaltete weiter.
Natürlich kannte sie auch dieses Lied. „June Afternoon“. Und wieder überlegte sie, ob es nicht etwas zu bedeuten hatte. Es war schließlich Juni…
Sie wechselte auf das dritte Lied und hatte eine Vermutung.
„Hello, you fool,
I love you,
Come on join the joyride“
Konnte das Zufall sein? Sie war sich nicht sicher, griff aber trotzdem nach dem Telefon und wählte seine Handynummer. Es tutete zweimal, dann hob er ab.
„Hendrik Lange“, meldete er sich.
„Ich bin’s“, antwortete sie, und dachte einen Moment an die vielen grausamen Foltermethoden, die sie an ihm anwenden würde, wenn er jetzt ‚Hallo Selina’ sagen würde.
„Hi, Kristy“, sagte er fröhlich.
„Hast du Lust, Morgen eine Radtour zu machen?“ Sie beschloss aufs Ganze zu gehen. „So einen schönen Juni Nachmittag muss man einfach ausnutzen.“
„Du hast dir die CD also angehört?“
„Ja, habe ich. Kommst du nun mit?“
„Klar komme ich bei der Radtour mit. Oh.. Moment mal Kristy…“
Sie hörte Stimmengemurmel, dann meldete sich Hendrik zurück.
„Selina fragt grade, ob sie mitkommen kann, darf sie?“
Kristy überkam plötzlich eine große Lust, laut loszuschreien oder jemand ganz Bestimmten die Augen auszukratzen. Jedoch konnte sie sich beherrschen.
„Ach, weißt du“, säuselte sie zuckersüß „Eigentlich habe ich gar keine Lust eine Radtour mit dir zu machen. Fahr doch mit Selina alleine“, mit diesen Worten legte sie auf, warf das Telefon aufs Bett und boxte gegen die Wand.
„Verdammt“, fluchte sie und rieb sich ihre Hand. „Warum versteht dieser Dummkopf nicht, dass ich ihn liebe?“
Hello, you fool, I love you.
Sie schüttelte den Kopf. Warum gab er ihr manchmal das Gefühl, in sie verliebt zu sein, wenn er doch gleichzeitig so viel mit Selina zu tun hatte? Natürlich, sie waren in derselben Clique aber… es ärgerte sie doch. Außerdem, wenn ihm etwas an ihrer Gesellschaft läge, hätte er sie ja jetzt zurückrufen können. Und klingelte das Telefon? Nein, also, warum überhaupt über ihn nachdenken…
Ihre Mordgelüste wurden durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Na bitte, es war ihr ja von vornherein klar gewesen, dass er nicht ohne sie konnte. Selina hatte doch gar keine Chance gegen sie. Kristy hob ab.
„Ja?“, sagte sie zufrieden.
„Hi, Kristy, ich bin’s, Matze“
Kristys Unterkiefer klappte eine Etage weiter nach unten als üblich. Sie war Hendrik also nicht wichtig genug, als dass er sie zurückrufen würde. Schön zu wissen, wie viel man jemandem doch bedeutetet…
„Hallo, Matze“, sagte sie und blinzelte die Tränen weg, die sich in ihren Augen zu bilden drohten.
„Weißt du, was wir in Englisch auf haben?“ Kristy wusste es sehr wohl, verneinte seine Frage aber dennoch. Ihr war jetzt nicht nach Hausaufgaben erklären, sie wollte sich jetzt auf ihr Bett werfen, heulen, und die drei übriggebliebenen Packungen Milkaherzen essen. Manchmal war sie wirklich sehr vorausschauend.
Als sie am Tag danach von der Schule heimkehrte, war sie todunglücklich, aber dennoch stolz auf sich. Sie hatte es schließlich geschafft, Hendrik und Selina ganze sechs Stunden zu ignorieren. Zumindest Hendrik hatte mehrmals versucht, sie ins Gespräch zu bekommen, aber Kristy hatte dies erfolgreich abgeblockt. In ihrer Not, um vor ihm zu flüchten, hatte sie sich sogar Thomas an den Hals geworfen und ihm einen langen Kuss gegeben. Hendriks Gesichtsausdruck dabei war Gold wert gewesen. Der von Thomas danach aber auch. Er war nämlich etwas verwirrt gewesen, hatte es sich aber gefallen lassen und später gefragt, ob Kristy ihm vielleicht irgendetwas gestehen wollte. Diese hatte das verneint und sich bedankt.
Sie sah aus dem Fenster. Das Wetter war genauso wie sie es sich wünschte, und von diesem Hendrik würde sie sich bestimmt nicht ihre Radtour versauen lassen. Schließlich war sie überhaupt nicht auf ihn angewiesen. Grade als sie sich ihre Turnschuhe zuband klingelte es an der Tür. Hinkend, weil erst mit einem Schuh bekleidet, ging Kristy zur Tür und öffnete diese. Das was sie sah, lies sie gemischte Gefühle empfinden.
Das erste, was sie dachte war: Ich hasse ihn.
Der zweite Gedanke lautete: Ich liebe ihn.
„Hey“, sagte er leise, lächelte sie an und wies auf sein Fahrrad. „Ich glaube, wir waren verabredet?“
Kristy war sprachlos. Wieder kamen zwei Stimmen in ihr auf.
Die Leisere von beiden schlug vor, die Tür einfach zuzuknallen.
Diese wurde aber von der Lauteten einfach in Grund und Boden geschrieen, die nach einer allerletzten Chance verlangte.
Kristy nickte.
„Join the Joyride“, sagte Hendrik, als er Kristy den Arm um die Schultern legte und auf den Baum wies, an dem sie damals eingeschlafen waren. Diese lächelte.
„Be a Joyrider.“
Kristy drehte sich um und stand nun direkt vor ihm. Lächelnd sah er ihr tief in die Augen.
„Weißt du, ich wollte…“, begann sie, wurde aber durch das Klingeln seines Handys erneut unterbrochen. Wütend sah sie ihn an und rückte von ihm ab. Er ging dran.
„Hallo, Selina“, sagte er tonlos. Kristy wandte sich zu ihrem Fahrrad. Ihr reichte es. Das war seine letzte Chance gewesen und die hatte er grade vertan.
„Selina, ich möchte nicht, dass du mich noch mal anrufst.“
Kristy blieb wie angewurzelt stehen.
Er legte auf und berührte von hinten ihre Schulter.
„Du liebst mich doch auch, oder?“, fragte er leise. Kristy drehte sich langsam zu ihm um, lächelte ihn an und hörte in ihrem Kopf die Musik.
„Hallo, du Dummkopf, ich liebe dich.“