Jugendroutine
An einem Morgen in der fünften Klasse erklärt Erik seiner Mutter:
„Ich übe jeden Tag eine Stunde Rechtschreibung.“ Er legt gefaltete Hände über das Diktat, ein schwarzes Heft von schwerer Pappe.
„Du sollst deinen Fehler sehen.
Nimm die Hände weg.
Gut. Ingenieur…“
„Schreibt man ohne Akzent, Mutter.“
„In Ordnung. Französische Wörter sind nicht einfach.“
„Ich weiß. Das habe ich gelernt.“
Sie schiebt ihm das Müsli zu. Das Diktat bleibt in der Sichtachse, ein totes, nie verwesendes Tier, unberührt von den Maden der Welt. Dann lächelt sie, die Mutter, und das Lächeln wirft einen Bannkreis um das kleine Frühstück. Warme Milch. Knusperflocken. Sie nimmt zwei Schmerztabletten: Das Bein erlahme wegen eines Islandtiefs aus westlicher Richtung.
*
An einem Morgen in der sechsten Klasse schafft Mutter das frühe Aufstehen. Neue Medikamente helfen. Sie überprüft den Schulrucksack Eriks. Sie findet eine Klassenarbeit im Fach Mathematik. Zu seinem eigenen Leid hat Erik einige Terme falsch ausgeklammert. Kleine rote Kringel häufen sich und senken die Note auf eine simple Zwei Minus. „Erik…“
„Ja?“
„Warum lügst du mich an? Was soll das? Warum eine Zwei Minus?“ Mein Blutdruck, mein Bein, mein Bedürfnis.
An jedem Stadtrand wechseln sich soziales Idyll und sozialer Brennpunkt ab und mischen sich, selten heilend, selten toxisch.
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An einem Morgen in der siebten Klasse hält Erik am Flussufer an; den Kiesweg hat die Stadtverwaltung neu verlegt, die Bänke frisch renoviert und die Äste sammeln Tau, Nebel und Frühsommerfrische. Er legt einen gelben Sack auf die Bank, kontrolliert flussauf- und flussabwärts nach Pendlern und Hundehaltern. Niemand. Aus dem Rucksack zieht er eine grüne, angeraute Mappe, öffnet sie, legt sie vor sich hin. Er nimmt das zweite Blatt mit den Übungen zur Unterschrift. Er positioniert es parallel links zum Jahreszeugnis. Sofort fängt das Papier die Frühfeuchte auf und wellt sanft; einen Versuch hat er, schraubt den schwarzen Kugelschreiber auseinander, vergleicht seine Unterschriften mit denen seiner Mutter, nähert die Kugelschreiberspitze an, setzt auf das Zeugnis ab, unterschreibt als Erziehungsberechtigte.
„Sieht gut aus.“ Sogar der Bogen im 'e' hat das neue muttertypische Zittern, aber ganz sicher helfen die neuen Medikamente, ganz sicher. Er verstaut die Mappe und setzt seine Fahrt fort.
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An einem Morgen in der achten Klasse ermahnt der Lehrer, Fachbereich Mathematik: Es sei eine Katastrophe, ein mangelhaft, er besäße doch das Potential und müsse Dampf geben und hart sein und Dampf geben und disziplinierten Dampf geben und diszipliniert bleiben und Dampf –
„Ist Erik hier?“
„Frau Theuerkorn, ja?“
„Erik, nimm bitte deine Sachen mit. Ok? Es ist alles in Ordnung. Nimm einfach deine Sachen mit und komm mit mir ins Sekretariat, ja?“
„Ist etwas passiert?“, fragt der Mathematiklehrer.
„Ich sage es gleich."
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An einem Morgen in der neunten Klasse steht Erik vor dem Grab seiner Mutter und gießt die bodendeckenden Pflanzen. Er hat einen eigenen, kleinen Weg zum Grab entdeckt, unter Vermeidung der Hauptachse; auf der Hauptachse blicken ihn die alten Menschen so seltsam an. Er harkt die Erde kurz durch. Er stellt ein Grablicht in einen Grablichthalter und verlässt die Grabstelle in Richtung Innenstadt. Schönes Wetter heute.