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Jugendsünden
Vorsichtig klopfte Lars Friesen an die Tür der Präsidentensuite und hielt die Luft an. Seit fast fünf Jahren war er nun schon Tim Tanners Agent und Manager in Personalunion, und noch immer fühlte er diese merkwürdige Beklemmung, wenn er dem Weltstar persönlich begegnete.
In dem Raum blieb es still. Hoffentlich hielt Tim keinen Mittagsschlaf. Auf seinem Handy hatte sich lediglich die Mailbox gemeldet, und er war auch nicht ans Zimmertelefon gegangen, als Friesen es darüber versucht hatte.
Der Manager klopfte lauter.
„Wer zum Teufel ist da?“ Die Frage drang stark gedämpft aus dem Hotelzimmer. Kein Zweifel – Tim war wach, und mit seiner Laune stand es nicht zum Besten.
„Ich bin’ s, Lars. Ich muss dich kurz sprechen.“
„Hau ab.“
„Nur ganz kurz.“
Lange hatte Friesen auf seinen Schützling einreden müssen, um ihn davon zu überzeugen, dass er an der heutigen Preisverleihung teilnehmen musste. Wenn man als bester Filmstar mit einem Neptun ausgezeichnet wurde, durfte man auf keinen Fall durch Abwesenheit glänzen.
Nach einer Weile wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Friesen erschrak, als er in Tanners aschfahles Gesicht blickte. Der nur mit einem Bademantel bekleidete Schauspieler sah aus, als hätte er mehrere Nächte nicht geschlafen. Sein rotes Haar stand in grotesken Wirbeln vom Kopf ab. Dichte, zumeist graue Bartstoppeln wucherten auf seiner unteren Gesichtshälfte.
Friesen fluchte innerlich. Der Festabend sollte in wenigen Stunden live im Fernsehen übertragen werden, und Deutschlands größtes Filmgenie wirkte so glamourös wie eine schlecht konservierte Leiche!
„Tim, ich wollte noch einmal kurz wegen heute Abend mit dir reden. Dein Auftritt erfolgt ganz zum Schluss – als Höhepunkt der Preisverleihung. Ein Überraschungsgast wird die Laudatio halten und dich auf die Bühne bitten. Du nimmst den Neptun in Empfang und bedankst dich.“
„Sollte ich hinbekommen. War’ s das?“
„Nur noch eine winzige Bitte, Tim. Ich habe mir erlaubt, einen Vorschlag für die Dankesrede auszuarbeiten. Wäre gut, wenn du diesen Text bis heute Abend auswendig lernen könntest.“ Friesen zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Innentasche seines Jacketts und reichte es Tanner. Dieser überflog die handgeschriebenen Zeilen und schüttelte energisch den Kopf. „Ein solches Gesülze kommt mir nicht über die Lippen. Du tickst wohl nicht ganz sauber.“
„Dann formulier die Sätze von mir aus um. Ich möchte doch nur, dass du heute Abend einen möglichst guten Eindruck machst. Millionen Menschen werden vor den Bildschirmen sitzen.“
Eine Zornesfalte bildete sich zwischen Tanners Augen. „Scheißegal, was für einen Eindruck ich mache. Du bist nicht mein Kindermädchen, habe ich dir das nicht schon tausendmal gesagt?“
Friesen suchte nach den richtigen Worten. „Sicher, Tim, ich meine nur ... Als dir vor zwei Jahren die Goldene Kamera verliehen wurde, gab es hinterher diese hämischen Pressekommentare, in denen man dir Arroganz unterstellt hat.“
„Goldene Kamera? Habe ich da irgendwas Falsches gesagt?“
„Das Problem war, dass du gar nichts gesagt hast. Du bist auf die Bühne gestiefelt, hast Sky du Mont wortlos deinen Preis aus den Händen gerissen und bist sofort zu deinem Platz zurückgegangen. Entgegen allen Vereinbarungen.“
„Kann mich nicht erinnern.“
„Tim, so was ist nicht gut für die Karriere. Du ...“
Die Zornesfalte wurde tiefer. Tanners eben noch fahles Gesicht gewann besorgniserregend an Farbe. „Ich bin nicht der Depp der Nation, verstanden? Wenn die mir diesen dämlichen Preis überreichen wollen, schön, von mir aus. Aber ich werde keine Verbeugungen machen und auch keinen gequirlten Mist daherreden.“ Er zerriss das Blatt Papier und warf die Fetzen zu Boden.
Eine dunkelhaarige Unbekannte erschien spärlich bekleidet hinter Tanner. „Was ist denn los, Tim? Kommst du nicht zurück ins Bett?“
„Schnauze! Dies ist ein Männergespräch!“
Die verschreckte Frau zog sich sofort wieder zurück.
Friesen versuchte zu beschwichtigen. „Schon gut, Tim, war keine gute Idee. Sorry. Aber der Neptun wird nicht dein letzter Preis bleiben, soviel ist sicher. Da kann es nicht schaden, sich an gutes Benehmen und Etikette zu gewöhnen.“
„Gutes Benehmen? Das ist ja wohl der Hammer!“ Tanners Gesicht verwandelte sich in eine Grimasse ungezügelter Wut. Er öffnete die Tür nun vollends und verschwand rasch in dem abgedunkelten Zimmer. Friesen wusste nicht, ob dies eine Aufforderung sein sollte, dem Mimen zu folgen. Unschlüssig verharrte er auf der Türschwelle, bis plötzlich ein Gegenstand in seine Richtung flog. Reflexartig duckte er sich. Der Schuh verfehlte seinen Kopf nur knapp und klatschte gegen die Korridorwand gegenüber der Tür.
„Verpiss dich, du Kakerlake!“, brüllte Tanner in wilder Raserei und sah sich nach weiteren potentiellen Wurfgeschossen um. Friesen zögerte keine Sekunde, der Aufforderung nachzukommen.
*
Die Maskenbildnerin hatte ganze Arbeit geleistet. Tanner wirkte wie aus dem Ei gepellt, als er abends frisch rasiert und gründlich geschminkt in Begleitung von Andrea in die Messehalle einzog, die die Organisatoren in einen Ballsaal der Superlative verwandelt hatten.
Selbstverständlich hasste Tanner Preisverleihungen. Nur Idioten konnten diesem Wettstreit der Eitelkeiten irgendetwas abgewinnen. Er war hier, weil Lars Friesen, diese Filzlaus, hartnäckig darauf bestand. Tanner hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass es meistens von Vorteil war, den Ratschlägen seines instinktsicheren Agenten und Managers zu folgen.
Pünktlich um 20.15 Uhr begann die Live-Übertragung. Die pathetische Titelmusik dröhnte aus den Lautsprechern und verhieß Gewaltiges. Tanner und seine Begleiterin saßen zusammen mit anderen Prominenten an einer festlich gedeckten Tafel unmittelbar vor der Bühne. Andrea, selbst angehende Schauspielerin, wippte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her und musterte die vielen Kameras in der Hoffnung, dass früher oder später eine davon in ihre Richtung zeigen würde.
Der Abend begann unspektakulär. Die Moderatorin sprach einführende Worte, dann erschien ein Profiboxer am Rednerpult und hielt eine salbungsvolle Lobrede auf eine Ministergattin, die sich im Rahmen einer Stiftung seit Jahren für Unfallopfer engagierte. Ergriffen nahm sie die vergoldete Bronzestatue in Empfang und bedankte sich.
Nach diesem Muster setzte sich die Veranstaltung fort, ein Neptun nach dem anderen wechselte den Besitzer.
„Bald sind wir an der Reihe“, flüsterte Andrea aufgeregt.
Tanner gönnte sich ein schiefes Grinsen. „Wir? Erhältst du auch einen Preis?“
„Meine Damen und Herren, nun kommen wir zum Filmstar des Jahres“, frohlockte die Moderatorin schließlich gegen Ende der Sendung. „Und als Laudator dürfen wir einen Mann begrüßen, der selbst zu den ganz Großen seiner Zunft gehört. Herzlich willkommen, Carsten Winter.“
Tanner glaubte, sich verhört zu haben.
Carsten Winter.
Einer der populärsten Schauspieler Deutschlands. Der Öffentlichkeit immer noch als langjähriger Freund Tanners bekannt. Doch von Freundschaft konnte beim besten Willen keine Rede mehr sein. Tanners Gedächtnis war normalerweise lückenhaft, doch an die Ereignisse, die drei oder vier Jahre zuvor zum Bruch mit Carsten Winter geführt hatten, konnte er sich noch gut erinnern.
Carsten Winter ist der Star der Vorabendserie „Klar Schiff“, in der er als Kreuzfahrt-Kapitän viele spannende Abenteuer und amouröse Eskapaden bestehen muss. Tanner übernimmt eine Gastrolle als ewig nörgelnder Passagier, der den anderen Reisenden den letzten Nerv raubt.
Bei den Dreharbeiten auf den Kanarischen Inseln verletzt sich Winter böse am Knie. Winters hübsche Frau Heike besucht den Verletzten gemeinsam mit Tim Tanner im Krankenhaus. Anschließend gönnen sich die beiden an einer Strandbar einige Cocktails, um den Tag gemütlich ausklingen zu lassen und sich besser kennen zu lernen.
Tanner erzählt Heike Anekdoten aus seiner Münchner Zeit. Sie hängt förmlich an seinen Lippen und ist überrascht, wie charmant und fesselnd der als schwierig geltende Schauspieler sie zu unterhalten weiß. Bald verleiht die Abendsonne dem Himmel eine intensive rotviolette Färbung.
„Warum hast du eigentlich nie geheiratet, Tim?“, fragt Heike schließlich.
„Das Wagnis einer Ehe würde ich nur eingehen, wenn ich hundertprozentig sicher wäre, meine Traumfrau gefunden zu haben. Es müsste einfach alles passen.“
„Du bist also noch nicht der Richtigen begegnet? Dabei hattest du doch angeblich so viele Freundinnen.“
Tanner lächelt verlegen. Der Boulevardpresse gegenüber pflegt er stets mit seinem Frauenverschleiß zu prahlen, und sein Ruf als Womanizer ist durchaus gerechtfertigt.
„Im Grunde bin ich eine einsame Seele auf der ständigen Suche nach aufrichtiger Liebe.“ Er zwinkert ihr zu. Dann legt er seine rechte Hand auf Heikes linke. Seine Finger streicheln vorsichtig die Haut auf ihrem Handrücken. „Leider sind die besten Frauen dieser Welt bereits vergeben.“
Sie wirkt etwas irritiert, zieht ihre Hand aber erst auffallend spät zurück.
„Die Welt ist groß. Du wirst die Liebe deines Lebens schon noch finden.“
Er setzt einen treuherzigen Dackelblick auf. „So lange auf die große Liebe warten zu müssen ist kein Vergnügen. Vielleicht gibt es ja einen Weg, die Wartezeit angenehm zu gestalten.“
Sie sitzen eine Weile schweigend da und sehen sich in die Augen. Schließlich beugt er sich vor und küsst sie kurz auf den Mund. Heike weicht zwar nicht zurück, wirkt aber verlegen und völlig unschlüssig, wie sie reagieren soll. Eine Brise bringt ihr langes, dunkelbraunes Haar zum Tanzen.
Tanner lächelt ihr aufmunternd zu. „Der Wind ist ganz schön frisch geworden. Wir sollten uns ein geschütztes Plätzchen suchen. Von meinem Hotelzimmer aus hat man einen herrlichen Blick auf das Meer.“
Er hatte sie fast soweit gehabt. Doch dann der Rückzieher. Das dürfen wir nicht tun, versteh das doch, Tim. Ich bin eine verheiratete Frau.
Dämliche Tussi. Carsten musste anschließend von der ganzen Sache erfahren haben. Vielleicht hatte jemand aus dem Filmteam das kleine Techtelmechtel zwischen Tanner und Heike beobachtet. Oder sie selbst hatte ihrem Mann davon berichtet. Auf jeden Fall ignorierte Winter seinen Freund während der restlichen Dreharbeiten, so gut es ging, auch wenn der Grund unausgesprochen blieb. Nach dem Dreh brach der Kontakt vollends ab.
Jeder andere hätte Tanner wütend zur Rede gestellt oder ihm gleich beherzt aufs Maul gehauen. Nicht so Carsten Winter, der ewige Gentleman.
Warum zum Teufel hatte ausgerechnet er sich bereit erklärt, die Laudatio zu halten?
„Mann, der sieht ja in Natura noch besser aus als im Fernsehen“, kommentierte Andrea begeistert, als Winter unter frenetischem Applaus ins gleißende Scheinwerferlicht trat. Als er sich räusperte und sein Manuskript auf dem Rednerpult zurechtrückte, wurde es mucksmäuschenstill im Saal.
„Vielen Dank. Meine Damen und Herren, ich habe das große Vergnügen, heute Abend einen Mann anzukündigen, mit dem mich mehr als zweite Jahrzehnte intensiver Freundschaft verbinden. Soweit man überhaupt mit ihm befreundet sein kann.“
Für den letzten Satz erntete Winter einen unerwartet großen Lacher. Tanner war Profi genug, fortwährend zu lächeln, doch tief in seinem Inneren zog ein Unwetter auf.
„Schon viel ist über ihn gesagt und geschrieben worden. Oft wurde er als das Enfant Terrible des modernen Kinos bezeichnet. Doch niemand würde es jemals wagen, sein außergewöhnliches Talent in Frage zu stellen. Viele nationale und internationale Produktionen verdanken ihren Erfolg vor allem Tim Tanners unvergleichlicher Leinwandpräsenz.“
Auf der Großbildwand in der Bühnenmitte wurden nun Standbilder aus verschiedenen Filmen gezeigt, in denen Tanner mitgewirkt hatte.
„Wer erinnerte sich nicht an seine bewegende Darstellung des Malers Vincent van Gogh, dieses getriebenen Genies, das am ständigen Kampf mit seinen inneren Dämonen zerbricht? Wer war nicht fasziniert von seiner Verkörperung eines Frontsoldaten, der am Ende die Menschlichkeit über den Gehorsam siegen lässt? Ob als Schurke in Actionreißern, als gebrochener Held in Literaturverfilmungen oder als Verführer in romantischen Komödien – Tim Tanner verleiht jeder Rolle eine einzigartige Magie.“
Tanner runzelte die Stirn. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einen Verführer in einer romantischen Komödie gespielt zu haben. Klar, worauf dieser Mistkerl da oben so süffisant anspielte.
„Werfen wir doch einmal einen Blick zurück auf die Zeit, als Tim Tanner noch unbekannt war. Verfügte er schon damals über das Talent, sich wirkungsvoll vor einer Kamera zu produzieren? Nach langem Suchen haben wir in den Archiven sehr aufschlussreiches Filmmaterial gefunden. Material, das bereits verloren schien.“
Tim Tanner lächelte immer noch tapfer, doch es beschlich ihn eine böse Ahnung. Wenn er mit seinen Befürchtungen richtig lag, dann hatte Winter eine perfekte Möglichkeit gefunden, sich an seinem ehemaligen Freund zu rächen. Grausam zu rächen. Unweigerlich verschmolzen bruchstückhafte Erinnerungen in Tanners Gedächtnis zu einem vagen Gesamtbild.
Irgendwann in den späten achtziger Jahren. An der Schauspielschule hat sich eine Clique um Tim Tanner geschart, die sich in Anlehnung an Frank Sinatra und seine legendären Mitstreiter als „Rat Pack“ bezeichnet. Kein sonderlich origineller Name, aber durchaus zutreffend. Carsten Winter gehört von Anfang an dazu, wenn auch überwiegend in der Rolle des ruhigen Pols, der darauf aufpasst, dass seine Freunde nicht völlig über die Stränge schlagen.
Eines Nachts strandet die sechsköpfige Rat-Pack-Bande nach einer ausgiebigen Tour durch diverse Szenekneipen in Carstens geräumiger Dachgeschosswohnung, um über dessen letzten Alkoholvorräte herzufallen. Wie so oft beabsichtigen die Freunde, bei Carsten zu übernachten, da die U-Bahn zu so später Stunde nicht mehr fährt und sie sich das Geld für ein Taxi sparen wollen. Die Party wird immer ausgelassener, und auf einmal hält Roman eine Kamera in der Hand und faselt etwas von einem erotischen Film, den er immer schon mal drehen wollte. Tina (oder Ina?) beginnt daraufhin wild mit ihrem Freund herumzuknutschen, Tim Tanner und Gisela (mit der er bisher noch nie etwas gehabt hat) gesellen sich dazu und reißen sich völlig enthemmt gegenseitig die Klamotten vom Leib. Angefeuert durch Roman, bieten die Akteure schließlich eine Porno-Performance reinsten Wassers. Carsten, der Kreuzbrave, versucht seine Freunde zunächst von ihrem Treiben abzuhalten, doch Tina (Ina?) zerrt ihn zu sich auf den Fußboden und macht sich an seinem Gürtel zu schaffen.
Tim, der bereits in jungen Jahren Wert darauf legt, im Mittelpunkt zu stehen, versucht sich durch einige besonders bizarre Darbietungen hervorzutun. Splitternackt baut er sich vor den anderen auf und präsentiert die abenteuerlichsten Kunststückchen. Roman lässt vor Lachen beinahe die Kamera fallen.
Der Morgen danach beschert der Rattentruppe nicht nur einen heftigen Kater, sondern auch ein unangenehmes Gefühl kollektiver Verlegenheit. Schließlich fragt Gisela vorsichtig, ob die Ereignisse der letzten Nacht wirklich allesamt auf Film gebannt wurden. Carsten grinst und hebt zur Entwarnung die Hand. „Ich habe die Aufnahmen bereits vernichtet, euer Einverständnis voraussetzend. Ehe der Streifen noch in falsche Hände gerät.“
Niemand protestiert.
Es gab nicht viel, was Tanner in seinem exzessiven Leben peinlich gewesen wäre. Aber dieser kleine Schmuddelfilm aus seiner Münchner Zeit durfte auf keinen Fall jemals an die Öffentlichkeit gelangen.
Was aber, wenn Carsten den Streifen gar nicht vernichtet hatte? Wenn die Regie nur darauf wartete, die hochnotpeinlichen Szenen einzuspielen, in denen sich ein angehender Weltstar eindrucksvoll zum Affen machte?
„Meine Damen und Herren, gehe ich Recht in der Annahme, dass Sie Tim Tanner gerne einmal in einer seiner allerersten Rollen erleben würden?“ fragte Winter mit einer aufmunternden Geste. Das Publikum antwortete mit zustimmendem Applaus. Tanner spürte brennende Wut in sich aufsteigen.
Würden es diese Hunde tatsächlich wagen?
Während einer Live-Sendung?
Vor Millionen von Zuschauern?
Völlig ausgeschlossen!
Andererseits - wenn man nun alle nicht jugendfreien Bildausschnitte digital unkenntlich machte? Hatte man nicht kürzlich sogar im ZDF alte Pornoaufnahmen einer mittlerweile etablierten Schauspielerin auf diese Weise ausgestrahlt?
Tanners Hände ballten sich zu Fäusten.
Winter schaute seinen ehemaligen Weggefährten direkt an. In seinem Blick lag grimmige Entschlossenheit.
Diese Ratte!
Winters Stimme war kaum mehr als ein verschwörerisches Flüstern, als er seine Ansprache fortsetzte. „Ich hoffe, liebe Gäste, Sie sind nicht allzu schockiert über die Bilder, die wir Ihnen jetzt zeigen. Tim Tanners erste Rolle war eine Nacktrolle. Aber sehen Sie selbst.“
„Nein!“ schrie Tanner. Nichts hielt ihn mehr auf seinem Sitz. Wie ein Derwisch stürmte mit hochrotem Kopf die Treppe zur Bühne hinauf. Ein irritiertes Raunen ging durch den Saal, als der Filmstar des Jahres in wüste Beschimpfungen ausbrach.
„Das könnt ihr mit mir nicht machen! Ihr Schweine! Carsten, ich polier dir die Fresse, du Drecksau, du mieses Arsch...“
Weiter kam er nicht. Auf der letzten Stufe stolperte er, verlor das Gleichgewicht und landete auf allen Vieren.
Winter stand wie eingefroren hinter dem Rednerpult, mit perfekt gespieltem Entsetzen, den Mund halb geöffnet. Kaum merklich funkelte in seinen Augen die Genugtuung.
Als Tanner sich aufrichten wollte, erkannte er sich selbst auf der Großbildwand.
Splitterfasernackt.
Ein kleiner, niedlicher Junge, höchstens drei Jahre alt, der in einer blassgelben Plastikwanne saß und schüchtern in die Kamera winkte, die sein stolzer Vater auf ihn richtete. Seine Mutter hockte lächelnd hinter der Wanne und rieb liebevoll Shampoo in sein feuerrotes Haar.