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Novelle Kälte

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17.12.2025
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Kälte


“Er bekommt dreimal am Tag die Bettpfanne, in der Nacht bei Bedarf. Seine Mahlzeiten sind um 7 Uhr, 12 Uhr und 18 Uhr. Auf die Minute genau. Sie müssen sicherstellen, dass die Speisen fein püriert sind. Sonst könnte er sich verschlucken.”

Die Haushälterin Marianne zog durch die prunkvollen Räume. Ein kühler Luftzug begleitete sie.
Währenddessen redete sie unaufhörlich auf mich ein.

Ich verlangsamte meinen Schritt.
“Entschuldigung, könnten wir kurz stehen bleiben? Ich muss mir einige Notizen machen…”

Sie stoppte abrupt, mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ich tippte schnell ein paar Stichwörter in das Handy.
“Er hat übrigens - unter vielen anderen Dingen - Hypothermie. Das heißt, ihm ist ständig kalt. Dem begegnen wir mit einer Heizdecke.”
Ich notierte mir das kurz.
Sie erhob das Kinn.
“Fertig? Dann weiter!”

Wir kamen zu einem Stiegenhaus. Es war nicht der ausladende Hauptaufgang der neobarocken Villa mit seinen Marmorstufen, sondern das, was man früher die Dienstbotentreppe nannte. Wir gingen ein Stockwerk höher. Es folgten erneut große Räume, einer prunkvoller als der andere. Am Ende der Zimmerflucht gelangten wir zu einer verschlossenen Türe.

“Ab hier müssen Sie absolut still sein. Sie sprechen mit ihm nur, wenn Sie gefragt werden.”
Sie legte die Hand auf die riesige, bronzene Türklinke und drückte sie hinunter. Auf Zehenspitzen schlich sie in das Zimmer.

Es war schlichter eingerichtet als die anderen Räume.
Auf dem Pflegebett an der Hinterwand lag eine Gestalt unter einer Decke, aus der am Fußende Kabel heraushingen. Ihre Glatze schaute gerade noch über den dunkelroten Rand hinaus. Sie schnarchte.
Manchmal setzte kurz ihr Atem aus. Dann schnarchte sie weiter.

“Er wird bald aufwachen.” Marianne wies mir einen Stuhl zu. Sie setzte sich neben mich.

Mit leiser Stimme gab sie mir weitere Anweisungen. Ich bemühte mich, möglichst vieles davon abzutippen und den Rest in Erinnerung zu behalten.

Irgendwann wurde das Schnarchen der Gestalt unregelmäßiger, und sie begann sich zu regen. Marianne beugte sich über ihr Gesicht.

“Jeff? Hören Sie mich?”
Er blinzelte ein paar Mal. Es brauchte einige Zeit, bis seine Augen klarer wurden.
“Hm?”
“Ihre neue Pflegerin ist da. Sie heißt Aljona.”
Aus seinem Mund kam ein Geräusch, von dem ich nicht feststellen konnte, ob es sich um ein Zeichen der Zustimmung oder bloß um ein Räuspern handelte.
Marianne winkte mich zu sich, damit ich in das Blickfeld des Patienten gelangte.

Er sah mich kurz an, dann schloss er die Augen.
“Jung…”, brummte er.
“Mein Name ist Aljona Hruschtschenko. Ich habe sieben Jahre Pflegeerfahrung.”
Er drehte den Kopf zur Wand.

Marianne deutete auf die Decke, die den Patienten bis zum Kinn bedeckte.
“Die Heizdecke muss ständig eingeschaltet sein. Bitte prüfen Sie immer wieder die Temperatur.”

Sie erhob sich.
“Ich lasse Sie jetzt allein. Meine Nummer haben Sie ja, Aljona.”

Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, hockte ich mich neben den Mann. Er schien mich nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Die Haut seiner Glatze, die in früheren Zeiten in der ganzen Welt sein Markenzeichen gewesen war, spannte sich auf seinem Kopf. Sein Gesicht war gräulich und eingefallen. Auch seine Haare waren grau geworden, fast weiß. Sein Hals war faltig.

Sollte ich ihm trotz Mariannes Anweisung etwas zur Begrüßung sagen?
“Mr. Benton… Es ist mir eine Ehre, unter allen Bewerberinnen ausgewählt worden zu sein.”
Er machte ein Geräusch, das verächtlich klang.
“Jeff. Sagen Sie Jeff.” Seine Stimme war schwach und heiser.

Ich erhob mich und sah auf meine Uhr. Es war kurz nach elf.
“Ich werde jetzt Ihr Mittagessen zubereiten, wenn es recht ist.”

Er reagierte nicht. Ich verschwand in der kleinen Küche, die direkt an sein Krankenzimmer grenzte.



In den ersten Tagen sprach er wenig. Ich kochte und pürierte ihm das Essen und gab es ihm ein, hielt ihm die Bettpfanne unter und wischte ihn ab, wechselte seine Nachthemden und seine Bettwäsche, wusch ihn, cremte seine trockene Haut ein, verabreichte ihm seine Medikamente, bürstete seine wenigen Haare.

Nach einiger Zeit begann er zu erzählen. Genauer: zu klagen und zu schimpfen. Ich war überrascht, wie ein Mensch mit so einer schwachen Stimme so viel reden konnte.

Manchmal verschluckte er sich und musste heftig husten. Ich klopfte ihm dann auf den Rücken und ließ ihn Schleim in ein Taschentuch spucken. Dann redete er weiter.

Mit der Zeit zogen sie alle an mir vorbei: Seine Geschäftspartner, seine Konkurrenten, seine Eltern, sein Bruder, sein Sohn, seine vier Frauen. Manchmal erging er sich in langen Ergüssen über die richtige Geschäftsstrategie, die seine leitenden Mitarbeiter offenbar in keiner Weise umsetzten.

Manchmal gedachte er jener ruhmreichen Tage, als er in der Garage seiner Eltern auf einem kleinen Computer ein Unternehmen gestartet hatte, das zu einem der weltgrößten Konzerne werden sollte.

Immer wieder kehrte er zu den gleichen Themen zurück. Vor allem zu einem: Sein Mitbegründer Ben Buckley, den er für seinen besten Freund gehalten hatte, hatte ihn zwanzig Jahre zuvor fast aus dem Konzern gedrängt. Aber er hatte sich des Verräters entledigt, wie er nicht müde wurde zu betonen.

Zwischendurch verlor er immer wieder den Faden. Es vermischten sich Namen, Daten und Ereignisse. Dann wiederum döste er ein, nur um nach zehn oder zwanzig Minuten weiterzusprechen.

Von den Erinnerungen an seine Karriere wechselte er oft unvermittelt zu seinem Privatleben. So erfuhr ich von Irene, seiner ersten Frau und High-School-Liebe, die sich von ihm getrennt hatte, weil er wegen der Firma Tag und Nacht arbeitete. Dann kam Carly, eine intelligente und ambitionierte Mitarbeiterin seines Unternehmens, die ihm aber dann doch zu ambitioniert erschien, so dass er sich von ihr beruflich wie privat trennte. Als nächstes kam Marla, seine Sekretärin und zwanzig Jahre jünger - das genaue Gegenteil von Carly. Sie wurde die Mutter seines einzigen Sohnes Tyrrell und erschien ihm so lange gut genug, bis Susannah in sein Leben trat.

Susannah, zweiundvierzig Jahre jünger als Jeff, war die Frau eines Geschäftspartners gewesen. Sie hatten sich auf einer Pool-Party kennengelernt. “Sie war das Bezauberndste, was ich je gesehen habe. Ich musste sie einfach haben.”

Ein Jahr später waren beide von ihren vorigen Ehepartnern geschieden. “Zum Glück hatte ich mit Marla einen guten Ehevertrag ausgehandelt, so dass es nicht zu schmerzhaft für mich wurde.”

Über Susannah sprach er oft.
Sie sei ihm in zärtlichster Liebe zugetan, werde jedoch durch ihre geschäftlichen Verpflichtungen davon abgehalten, länger als ein-zwei Tage am Stück zu Hause zu sein. Sie sei eben eine erfolgreiche Geschäftsfrau, die ein millionenschweres Kosmetikunternehmen aufgebaut habe. Da sei es unvermeidlich, dass sie sehr viel unterwegs sein müsse. Ohne vollen Einsatz könne man halt keine Firma führen…

Dass sie die Frau des reichsten Mannes der Welt war, hat ihrem Erfolg wohl auch nicht geschadet.



Im Laufe der folgenden Wochen begann Jeff immer häufiger, mir persönliche Fragen zu stellen, etwa nach meiner Heimat oder nach meinen privaten Verhältnissen: wie es meinen Eltern und Geschwistern ginge, ob ich einen Freund hätte und dergleichen.

Mit der Zeit veränderte sich sein Blick. Während er am Anfang beim Erzählen noch die meiste Zeit die Wand angestarrt hatte, betrachtete er mich jetzt immer ausdauernder.

Er redete nun ständig über seine Eroberungen, die er zusätzlich zu seinen vier Ehefrauen gehabt hatte. Nach seinen Worten waren es zahllose gewesen; keine Frau habe ihm widerstehen können.

Während er diese Erlebnisse in Details schilderte, die ich lieber nicht so genau gewusst hätte, starrte er mich die ganze Zeit an. Es war klar: Früher wäre ich zweifellos selbst eine dieser Zahllosen geworden.

Früher.

Ich tat natürlich so, als würde ich nicht verstehen, schwieg und verrichtete meine Aufgaben.

Eines Tages, nach dem Mittagessen, hielt ich mit der rechten Hand die Bettpfanne, mit der linken half ich ihm beim Urinieren.

Früher wäre so eine Situation ganz anders weitergegangen”, sagte er plötzlich.

Ich ließ mit beiden Händen auf einmal los.
Die Bettpfanne kullerte auf den Boden.
Ich stürmte aus dem Zimmer und knallte die Türe zu.

Lange war Stille. Dann hörte ich ihn meinen Namen rufen - einmal, zweimal, dreimal. Die Stimme wurde immer klagender.
Ich zählte bis hundert, atmete tief ein und öffnete die Tür wieder.

Er hatte sich nass gemacht.
Ich hob die Decke zur Seite und zog ihm das Nachthemd aus. Ich machte ihn wieder sauber.

Jeff betrachtete mich. Er schien nicht ärgerlich, nur verwundert.
“Warum sind Sie so zornig geworden? Das war doch nur ein Scherz…”
Meine Augen blitzten ihn an.
“Das war kein Scherz!”
Er wiegte den Kopf. “Ach, ach, Sie sind ja noch jung. Das verstehen Sie nicht…”

Ich zog sein nasses Leintuch mit einem Zug unter ihm heraus und ließ es auf den Boden fallen. Dann ging ich zum Wäscheschrank und holte ein neues heraus.

Er sah mir nach, wie ich kam und ging.
“Sie machen sich zu viele Gedanken, meine Liebe. Lassen Sie doch einen alten Mann ein bisschen Spaß haben…”

Ich beugte mich abrupt über ihn.
“Sie glauben wohl, Sie sind so reich, Sie können sich alles erlauben!”
Er wich zurück.
“Seien Sie doch nicht so empfindlich”, murmelte er. “Es war nicht so gemeint…”
“Empfindlich?! Sie glauben doch offenbar immer noch, dass Sie so eine toller Mann sind!”

Ich schob mein Gesicht ganz nah an seines, so dass er meinen Atem spüren musste. “Schauen Sie doch endlich in den Spiegel, Sie elendes Wrack! Sie will doch niemand mehr.”
Mir fiel Susannah ein. Ich verbiss mir gerade noch eine Anspielung.

Ich richtete mich auf und blickte ihn stolz an.
“Sie kriegen niemals etwas von mir. Niemals! Nicht einmal meinen kleinen Finger!”

Er blinzelte mich betroffen an. Dann sank er in sein Kissen und drehte den Kopf zur Wand.

Nachdem ich sein Bett wieder sauber gemacht hatte, ging ich hinaus. Ich blieb die meiste Zeit in meinem Zimmer, wenn er mich nicht unbedingt brauchte. Wir sprachen kein weiteres Wort miteinander.

Am nächsten Tag blieb Jeff mit dem Gesicht zur Wand liegen. Ich versorgte ihn wie immer.

Eigentlich hatte ich mich unprofessionell verhalten. Ich musste über solchen Dingen stehen. Meine Klienten waren oft wie Kinder, die noch einmal in ihrem Leben ausprobieren wollten, wie weit sie gehen konnten. Ganz sicherlich war es auch bei ihm so gewesen.

Irgendwann stellte ich mich neben sein Bett und sagte: “Es tut mir leid. Mein Verhalten und meine Worte waren unpassend.”

Er drehte sich um und blickte mich an. In seinen Augen sah ich etwas Neues, was vorher nicht dagewesen war.
“Mir tut es leid.”
Er versuchte zu lächeln.

Nach unserem Streit hörten Jeffs anzügliche Schilderungen auf. Manchmal hielt er zwar noch lange Ansprachen über sein Leben. Aber das geschah offenbar deswegen, weil es eine Erleichterung für ihn bedeutete, darüber zu reden - zu wem auch immer.

Er bemühte sich nun, mir so wenig wie möglich zur Last zu fallen. “Ruhen Sie sich doch ein bisschen aus!” “Ist das für Sie nicht unangenehm?” “Vielen Dank, machen Sie sich keine Sorgen…” Dabei blickte er mich treuherzig an.



“Jeff, oh, Jeff, mein Schatz!”
Eine Frau in einem knallroten Kleid stöckelte herein. Ihre wallenden Haare waren schwarz gefärbt. Sie sank neben dem Krankenbett auf den Boden, reichte unter die rote Decke und zog die verdorrte, von Adern durchzogene Hand meines Patienten hervor. Sie gab mit ihren ebenfalls knallrot geschminkten Lippen einen Kuss darauf.

Er wandte ihr den Kopf zu.
“Susannah, meine Süße… Du bist endlich da…”
“Ja, Jeff. Es tut mir leid, ich hatte so viel zu tun. Termine, Termine, Termine. Du kennst es ja.”
“Ja natürlich, mein armes Täubchen…”

Er versuchte, mit seiner Hand ihre Schulter zu streicheln. Ich merkte, wie sie wegzuckte.

Sie berichtete ihm nun ausführlich von ihren Geschäften. Vor allem von den Streitigkeiten mit mächtigen Influencerinnen, die immer mehr Geld für Kooperationen forderten.

Seine Augen glänzten. Er hörte ihr wohl gar nicht richtig zu, er genoss einfach nur ihre Anwesenheit.

“Jeff? Schatz, könnte ich dich was bitten?”
Er blinzelte kurz, als hätte sie ihn aus seinen Träumereien aufgeschreckt.
“Ja, meine Liebste?”
Sie beugte sich näher zu ihm.
“Du… Es wäre eine großartige Sache, wenn wir im Garten einen Pool errichten könnten. Es ist ja völlig aus der Zeit gefallen, dass wir so etwas nicht haben… Und den Wert des Grundstücks würde es ebenfalls erhöhen.”
“Den Wert? Warum?”
“Ich meine natürlich nur hypothetisch”, schlug sie heftig mit den Wimpern. “Ich würde mich so sehr freuen, zu Hause schwimmen gehen zu können. Du weißt, es ist mein Lieblingssport…”

Seine Augen wurden feucht.
“Damals, als ich dich zum ersten Mal erblickt habe… im Pool… Ich hatte noch nie so etwas Schönes gesehen.”

Sie wandte das Gesicht für einen Moment ab. Dann sah sie ihn wieder an, noch bettelnder als vorher.
“Die Bauarbeiten würden gar nicht lange dauern… Und dann könnte ich zu Hause Sport machen. Wäre das nicht großartig?”
Er lächelte sie gerührt an.
“Alles, was du willst, mein Schatz.”

Sie sprang auf und gab ihm begeistert einen Kuss auf die Stirn.
“Oh, Jeff, du bist der Beste… Was täte ich ohne dich?”
Er strahlte. “Es ist so schön, dass du glücklich bist. Vielleicht bist du ja dann häufiger zu Hause, wenn du deinen Pool hast…”
Sie zog die Mundwinkel auseinander. “Sicherlich, Liebling.”

Susannah wandte sich zum Gehen und winkte mir, ihr zu folgen.
Sie schloss die Tür zum Krankenzimmer hinter sich. Ihr Gesicht wurde nüchtern.
“Sagen Sie mir, wie viel Sie brauchen. Kaufen Sie ihm, was er will. Ich möchte, dass er sich wohlfühlt.”
“Danke, wir haben alles, glaube ich.”
Sie wandte sich weg und blickte aus dem Fenster - auf das Rasenstück, wo schon bald der Pool erbaut werden würde.

Ich hatte aber noch ein Anliegen.
“Er spricht so oft von Ihnen. Er hofft immer, dass Sie kommen…”
Ihre Augen wurden müde.
“Ich habe sehr viel zu tun. Das versteht er auch.”

“Susannah”, machte ich noch einen Versuch, “Sie sind ihm das Allerwichtigste.”
Sie sah mich an. Was weißt du schon davon?, sagte ihr Blick.
“Na gut…”, seufzte sie. “Ich übernachte heute noch hier. Morgen Nachmittag muss ich allerdings schon in Florida sein.”

Sie ging wieder zu Jeff. Nach einer halben Stunde verließ sie das Krankenzimmer. Wir sahen sie bis zum nächsten Morgen nicht mehr.



Nach vier Wochen durchgehendem Dienst bekam ich drei Tage frei. In dieser Zeit betreute ihn María Sánchez, eine alte Mexikanerin.

Es war ungewohnt, mich frei bewegen zu können. Ich machte viele Spaziergänge unter den blühenden Bäumen und genoss den Sonnenschein und die Frühlingsluft. Aus Jeffs Zimmer war ich fast nicht herausgekommen - höchstens kurz, wenn er schlief. Ich wollte ihn zwar überreden, sich in einem Rollstuhl durch den großen Landschaftsgarten seines Anwesens schieben zu lassen, doch er war zu schwach zum Sitzen. Außerdem begann er sofort zu zittern, sobald die Heizdecke abgeschaltet wurde.

Hypothermie sah ich bei ihm zum ersten Mal in meiner beruflichen Praxis. Durch Wärmezufuhr kann man eine gewisse Erleichterung verschaffen. In früheren Zeiten, als es noch keine Heizdecken gab, sollen Menschen sich neben die Patienten ins Bett gelegt haben, um sie zu wärmen.

Der Zustand Jeffs war allerdings recht gut zu nennen. Er zitterte nur selten, wenn er unter der Heizdecke lag.

Es dauerte noch mehrere Wochen, bis ich erstmals einen seiner Zitteranfälle zu Gesicht bekam. Ich legte an einem Abend gerade die Bettwäsche zusammen, als sein Handy läutete.

“Ah, meine Süße… Wie geht es dir denn? Wie ist es auf den Bermudas? 90 Grad Fahrenheit? Ja, das klingt schon sehr schön warm…
Wann kommst du denn? Ach so… Und wann weißt du’s? Ja, ja, natürlich, mein Schatz. Das ist ja verständlich…
Entschuldige, ich verstehe dich so schlecht… Ah, du bist auf einer Party. Wo? Auf der Privatinsel von… Ich weiß schon. Hab viel Spaß! Ich küsse dich. Bis… irgendwann.”

Er legte auf. Das Handy rutschte auf die Decke. Ich fing es gerade noch auf, bevor es vom Bett kullerte.
“Ihre Frau?”
Sein Gesicht war aschfahl. Er schloss die Augen.
“Jeff, was ist mit Ihnen?”
Ich legte meine Hand auf seine Wangen. “Jeff, hören Sie mich?”
Er öffnete die Augen, aber er konnte nicht sprechen. Nur seine Zähne hörte ich klappern.

Ich drehte die Heizdecke auf die höchste Stufe und zog sie ihm ganz bis zur Nase.
“Bald wird Ihnen wieder warm, keine Sorge…”

Er starrte die Zimmerdecke an. Ich saß neben ihm und streichelte seine Hand. Sein Zähneklappern wurde langsam schwächer und hörte letztlich auf.



Eines Nachmittags, während Jeff schlief, hörte ich in meinem Zimmer mit Kopfhörern ein paar Songs auf dem Handy. Marianne hatte mir strikt verboten, Musik abzuspielen oder sonst in irgendeiner Weise Lärm zu machen. Ich hatte zwar nicht den Eindruck, dass mein Patient besonders geräuschempfindlich war, aber ich befolgte die Anweisungen.

Als er wieder wach wurde, ging ich in sein Zimmer, lüftete und machte Ordnung. Währenddessen summte ich vor mich hin.

“Was singen Sie da? Etwas Ukrainisches?”
Ich musste lachen. “Nein, nein. Es ist ‘Hallelujah’ von Leonard Cohen.”

“Mein Lieblingssong…”
Ich wandte mich um. Seine Augen waren sehnsüchtig.
“Möchten Sie es hören?”
“Nein, nein, sonst schimpft Marianne noch.”
Ich kicherte. “Und ich dachte, es sei wegen Ihnen, dass man so leise sein muss…”
“Vielleicht können Sie es mir ja vorsingen?”, schmunzelte er.

Ich nahm mein Handy und suchte den Songtext im Internet heraus.
Er sah mich erwartungsvoll an.

“They say there was a secret chord
That David played and it pleased the Lord,
but you don’t really care for music, do ya?”

Er wollte mitsingen, verschluckte sich allerdings und begann heftig zu husten. Ich lief zu ihm und klopfte ihm auf den Rücken.
“Bitte singen Sie weiter.”

“It goes like this,
the fourth, the fifth
The minor fall, the major lift
The baffled king composing ‘Hallelujah’..."

Er strahlte.



Als ich eines Vormittags die Bettpfanne zur Toilette trug, kam mir ein junger Mann mit Gelfrisur entgegen. Sein weißes Hemd war aufgeknöpft.
“Ist mein Vater wach?”, fragte er, ohne zu grüßen.
“Ja. Er war gerade auf der Toilette.”
Tyrrell beugte sich zu mir.
“Und wie geht’s ihm denn so?”
“Er ist sehr schwach. Aber sonst stabil.”
“Stabil? Meinen Sie damit, er liegt noch nicht im Sterben?”
“In diesem Alter weiß man oft nicht, wie lange jemand leben wird. Es kann längere stabile Phasen geben, und dann eine plötzliche Verschlechterung.”
“Ich meine damit”, beugte er sich noch näher zu mir, “was schätzen Sie, wie lange er noch zu leben hat?”
Ich zuckte mit den Schultern.
“Es kann alles sein - von zwei Monaten bis zu zwei Jahren.”

Er runzelte die Stirn und blickte sich im Raum um. Er zog ein Lasermessgerät aus seiner Tasche und machte einige Messungen im Zimmer. Dann ging er zu seinem Vater.

Ich hörte durch die Tür die erhobene Stimme von Tyrrell. “Dad! Aber warum? Das ist so unsinnig!” Und später: “Wir könnten damit doch…” Dann: “Dort wäre es viel besser für dich…”
Irgendwann öffnete sich die Tür und Tyrrell kam mit schnellen Schritten hinaus. Sein Gesicht wirkte verärgert und bedrückt.

Ich wollte Jeff nicht auf die Diskussion mit seinem Sohn ansprechen. Sie ging mich ja nichts an.

Nachdem ich ihm sein Mittagessen mit dem Löffel eingegeben hatte, sah er mich an.
“Er will die Villa. Jetzt schon.”
“Warum?”
“Was weiß ich. Er meint, man könnte sie viel besser nutzen. Zu Luxuswohnungen umbauen zum Beispiel.”
“Und was heißt das?”

Über Jeffs blaue Augen legte sich ein dunkler Schleier.
“Das heißt, dass ich hier raus soll.”
“Raus?”
“In ein Heim.”

Ich musste kurz durchatmen. Das würde mich ebenfalls betreffen…

“Und was haben Sie ihm gesagt?”
“Die Villa gehört immer noch mir. Er kann damit nicht einfach machen, was er will.”
“Heißt das, es wird sich nichts ändern?”
Er schüttelte den Kopf und sah mich zuversichtlich an.
“Mein Sohn und meine Frau erben jeweils eine Hälfte des Hauses, wenn ich tot bin. Aber bis dahin… ist es mein Heim.”



“Susannah kommt heute nach Hause!”

Es waren Jeffs erste Worte, als er die Augen am Morgen aufschlug. Im Laufe des Tages wurde seine Aufregung immer größer. Das merkte man daran, dass er unaufhörlich von seiner Frau erzählte. Was für ein wunderbares, liebenswertes Wesen sie sei, wie bezaubernd schön und wie überaus geschickt als Geschäftsfrau.

Am späten Nachmittag war es endlich soweit.
Susannah kam mit entschlossenen Schritten zur Tür herein. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug mit weißer Bluse, ganz Businessfrau. Tyrrell begleitete sie.
Nach kurzer Begrüßung sah sie mich an.
“Bitte, lassen Sie uns allein.”
Ich verließ den Raum.

Das Gespräch dauerte über eine Stunde. Ich blieb in der Nähe des Zimmers, falls Jeff meine Unterstützung brauchte.

Schließlich öffnete sich die Tür. Susannahs Augen sahen genauso entschlossen aus wie vorhin, aber nun leuchtete Triumph in ihnen.
Sie schritt heraus und blieb vor mir stehen.
“Mr. Benton wird in drei Wochen in ein Pflegeheim verlegt. Das heißt, Ihr Auftrag hier endet damit. Vielen Dank für Ihre Bemühungen.”

Sie ging in Richtung Ausgang weiter. Tyrrell trippelte ihr nach.
“Mit den Bauarbeiten könnte man in ein paar Monaten…”

Als er ihr die Tür aufhielt, ruhte seine Hand für eine Sekunde länger auf ihrem Rücken als notwendig.

Ich ging zu Jeff. Er lag mit dem Gesicht zur Wand.
Auf seinem Nachtkästchen war ein Flyer mit der Aufschrift “Greenleaf Clinic and Nursing Home”. Er zeigte Fotos eines grünen Parks mit fröhlich lachenden Senioren.
“Jeff?”
Er antwortete nicht.

Am Abend begann er wieder zu zittern.



Zähneklappern, Zähneklappern, Zähneklappern.
Zittern, Zittern, Zittern.
Ich habe die Heizdecke bereits auf die höchste Stufe gestellt. Aber es ändert sich nichts.

Ich sitze neben seinem Bett. Es ist dunkel, nur die gelbliche Beleuchtung des Parks dringt zwischen den Lamellen der Jalousien herein.

Das Zimmer ist bereits ausgeräumt. Susannah und Tyrrell haben Marianne angewiesen, alles entfernen zu lassen, was an Jeff erinnert.

Nur das Pflegebett steht noch da. Es soll weggebracht werden, wenn mein Patient am Morgen mit dem Krankentransport in die Greenleaf Clinic and Nursing Home abtransportiert wird.

Ich weiß nicht, ob er schläft oder wach ist, oder in einem Dämmerzustand.

Ich nehme seine Hand.
“Jeff?”
Das Zittern, das seinen ganzen Körper durchzieht, zuckt auch durch seine Finger, immer und immer wieder. Wie ein Blitz, der in den Boden fährt.

Seine Augen sind geschlossen, sein Gesicht ist voller Schweiß. Ich hole ein feuchtes Tuch und wische es ab. Doch bald bricht er wieder in Schwitzen aus.

Ist seinem Körper vielleicht heiß? Obwohl ihm selbst nicht warm wird?

Die Heizdecke darf niemals ausgeschaltet werden…

Ich trete zum Schalter und drehe ihn auf Null.
Ich reibe seine Arme und seinen Rücken. Sein Zittern wird aber nur stärker.

Ich nehme seine Hand. Sie zuckt und zuckt. Dann öffnet er die Augen. Das Licht der Parkbeleuchtung spiegelt sich in ihnen.

Ich habe so einen Blick noch nie gesehen.
Ein dunkler Strudel der Verzweiflung. Er zieht alles in die Tiefe.

Es ist seine letzte Nacht zu Hause.
Es ist seine letzte Nacht mit mir.

Wie kann ich ihm helfen?

Einer allein - wie soll er warm werden?

Mir fällt ein, dass früher nicht elektrische Decken, sondern Menschen andere Menschen gewärmt haben.
Aber wie soll ich das bloß tun? Es widerspricht allem, was ich gelernt habe…

Ich ziehe die Heizdecke zur Seite. Seine ganze Gestalt liegt vor mir. Hilflos, zitternd.

Ich betrachte ihn unbeweglich. Er versucht offenbar zu fragen, was los ist, doch er kann wegen des Zähneklapperns nicht sprechen. Ich decke ihn wieder zu.
Lange sitze ich an seinem Bett.

Dann stehe ich auf.

Ich nehme aus dem Schrank eine andere Bettdecke und überziehe sie mit einem frischen Überzug.
Ich kehre zu ihm zurück und lege meine Hand auf seinen Arm.
“Jeff, ich möchte dir helfen. Ich weiß nicht, ob es das Richtige ist. Gib mir sofort Bescheid, wenn du es nicht willst.”
Er sieht mich fragend an, soweit er es bei seinem Zähneklappern schafft.

Ich atme tief ein. Ich hebe die Heizdecke weg und nehme sein Nachthemd am unteren Rand. Ich ziehe es hinauf und streife es ihm über den Kopf.

Sein Körper spannt sich.
“Ich beuge mich zu seinem Ohr und streichle seine Wange: “Bitte vertraue mir. Ich möchte etwas versuchen.”
Er entspannt sich etwas, auch wenn das Zittern bleibt.

Ich decke ihn mit der anderen Decke zu.

“Ich versuche dich zu wärmen… So wie man es früher gemacht hat. Wenn du es nicht willst, höre ich sofort auf.”

Er sieht mich an, mit klarem Blick. Er nickt.

“Bitte schließe die Augen.”
Er tut es.
Ich schlüpfe aus meiner Kleidung.
“Bitte erschrick nicht.”

Ich krieche unter die Decke. Sein Körper spannt sich, als er meine Haut spürt.

Ich lege mich auf ihn. Ich versuche, ihn ganz zu bedecken, auch die Beine und Arme. Mein Gesicht lege ich an seine Wange.

Seine Haut ist ganz trocken. Ich hätte ihn häufiger eincremen sollen… Sein Bart kratzt an meiner Wange. Seine verschwitzte Haut fühlt sich glitschig an. Er riecht nach Alter und Schweiß.

Seine Hände heben sich. Will er mich etwa wegschieben? Ich bin schon bereit, wieder aus dem Bett zu schlüpfen. Aber er legt die Handflächen auf meinen Rücken. Sein Körper ist immer noch angespannt, dafür wird sein Zittern schwächer.

Wir liegen nun so da. Vielleicht ist das falsch? Hoffentlich entdeckt uns niemand…

Nach einiger Zeit spüre ich auf meiner Wange Feuchtigkeit. Sie wird immer mehr, quillt über den Rand und rinnt in meinen Augenwinkel. Es juckt. Ich kratze mein Auge.

Er flüstert mir ins Ohr:
“Niemals…?”
“Du weißt, das ist etwas ganz anderes.”
Er drückt mich an sich, soweit es seine schwachen Hände erlauben.

Wir schweigen lange. Er hat zu weinen aufgehört. Sein Schweiß, seine glitschige Haut, sein Geruch - sie stören mich fast nicht mehr.

“Jetzt merkst du es”, murmelt er mir ins Ohr. Er wirkt nun munterer.
“Was denn?”
“Eben. Nichts.”
Ich muss schmunzeln.
Früher hätte ich das sicher nicht gemacht.”
“Schade.”

Wir kichern. Es ist auf einmal alles so unbeschwert. Nur er und ich. In dieser letzten Nacht.

“Ist es nicht unbequem für dich?”, fragt er.
“Es geht schon. Du schlaf ruhig.”
Ich streiche ihm über die Wange.
Er schließt die Augen.

Bald höre ich ihn gleichmäßig schnarchen.
Ich rutsche von ihm herunter und kuschele mich zu ihm. Ich hoffe sehr, dass er nicht wieder zu zittern anfängt. Aber er schläft ganz friedlich.

Ich versuche auch zu schlafen. Es gelingt nur oberflächlich.
Als ich wieder aufwache, betrachte ich ihn. Draußen wird es bereits hell.

Lebwohl, Jeff, denke ich.

Er öffnet langsam die Augen. Als er mein Gesicht erkennt und die Lage, in der er sich befindet, werden sie groß.
“Ich dachte, ich hätte geträumt…”
Ich schüttle den Kopf.
“Der Traum ist bald vorbei.”

Seine Augen werden dunkel.
Er betrachtet mich.
In seinen Augenwinkeln sammeln sich Tränen. Ich wische sie mit der Hand weg.

“Es war das schönste Geschenk…” Seine Stimme bricht. “...und die größte Qual.”
Ich streichle über sein Gesicht.
“Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.”
“Es ist schon gut. Das eine gibt es nicht ohne das andere.”

Ich merke, dass er mich umarmen will. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter.
Er gibt mir einen Kuss auf die Haare.

Einige Zeit liegen wir noch da. Die letzten Minuten.

Er seufzt tief.
“Na gut. Dann…”
“Bitte schließe die Augen.”
Ich schlüpfe aus dem Bett und ziehe mich schnell an.
Ich hebe die Decke zur Seite und streife ihm sein Nachthemd über.

Ich sehe seinen Körper zum letzten Mal in meinem Leben.



Jeff starb einen Monat später in der Greenleaf Clinic und Nursing Home.

Auf dem Begräbnis waren viele Kameras und noch mehr Geschäftspartner und Politiker. Susannah trug einen dichten schwarzen Schleier und stand mit gesenktem Haupt am Grab. Tyrrell stützte sie, wie es sich für einen braven Stiefsohn gehört.

Ben Buckley gab Interviews über die Verdienste seines alten Geschäftspartners. Die erfolgreiche Zusammenarbeit hatten sie leider aufgrund einer beruflichen Veränderung beenden müssen.

Ich beobachtete alles aus einer gewissen Entfernung.

Als alle Trauergäste fort waren, ging ich zu Jeffs frischem Grab und legte eine weiße Rose darauf.

Die Villa verkaufte ich umgehend. Der Käufer freute sich besonders über den nagelneuen Pool. Ich erwarb mir vom Erlös eine hübsche Wohnung. Den Großteil spendete ich an die Krebsforschung.

Susannah und Tyrrell klagten mich wegen Erbschleicherei, doch ohne Erfolg.

Manchmal, wenn die Sonne scheint, gehe ich zu Jeffs Grab.
Ich setze mich an den Rand und halte mein Gesicht in das warme Licht.

Dann singe ich ihm “Hallelujah” vor.

 
Quellenangaben
Leonard Cohen: Hallelujah. 1984.

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