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Küchenschaben
Es gibt drei Arten von Küchen: Saubere, etwas dreckigere und lässige. Die lässigen Küchen sind diejenigen, deren Besitzer einen ausgeprägten Appetit mit sich bringen, der mit einer Trägheit einhergeht, die ein Aufräumen nach dem Essen, sowie ein Säubern der Töpfe und Pfannen unmöglich macht.
In lässigen Küchen quillt der Mülleimer wie eine eiternde Wunde, klebt der Boden, stinkt der Kühlschrank. Von der Anrichte tropft Orangensaft, Hackfleisch-Zwiebel-Schokoladenmus plätschert gegen Brotkrumenatolle, die Salatblätter hinter dem Kühlschrank welken bekömmlich, hinter jeder Ecke warten Cornflakes im Speckmantel, locken Becher ohne Pudding, lockt Pudding ohne Becher, und Kartoffelschalen, Pilzhüte, Eiweißklumpen verheißen das Paradies.
In lässigen Küchen kämpft sich ein Sonnenstrahl durch honigfarbene Vorhänge und wirft Sprenkel auf den Fußboden, zwischen denen sich etwas bewegt: Eine Kakerlake beim Frühsport folgt einer Erdbeermarmeladenspur und stolpert über eine Wurstpelle.
»He, Dude.«
»Was’n?«
»Ich hab da was, Dude.«
»Was’n?«
»Ich hab da 'ne Wurstpelle.«
»Lass ma' sehn.«
»Da is 'ne Wurstpelle.«
»Ich seh', dass da ´ne Wurstpelle is, Easy.«
»Ich bin da g'rad voll über 'ne Wurstpelle gestolpert.«
»Easy, ich seh', dass da 'ne Wurstpelle is ...«
Lässige Küche, lässiger Tag. Die beiden Kakerlaken rollen die Wurstpelle in den Schatten unter dem Tisch, dorthin, wo der Boden ein interessantes Muster angenommen hat und einen statistisch signifikanten Beweis für die These liefert, dass Toastbrot immer, aber auch wirklich immer auf die falsche Seite fällt.
»He, Dude.«
»Was'n?«
»Ich glaub', das is' die beste Wurstpelle von der ganzen, weiten Küche.«
»Easy, das is' die einzige Wurstpelle von der ganzen, weiten Küche, Easy.«
»Ja, aber ich mein, wenn es noch mehr Wurstpelle geben täte, ich mein' ne Wurstpelle und dann noch 'ne Wurstpelle, Dude, dann wär das die beste.«
Aber nicht nur die Wurstpelle steht den Kakerlaken zur Verfügung: Der Obstkorb hat einen Apfel verloren und der Apfel seine Frische; gekochte Spagetti pappen wie runische Schriftzeichen an der Spüle; der Kaffeesatz in der eingetrockneten Filtertüte weist eine Zukunft, in der selbst Schimmel schimmelt und Rote-Beete-Saft bildet hübsch anzusehende Wolken-Muster auf der Fettspritzergrundierung einer Raufasertapete. Über dem Herd geben Kacheln ein Suchspiel: Wer die in ihre Oberfläche eingebrannten Ornamente findet, darf den Belag behalten. So sieht sie aus, die wunderbare Kakerlaken-Welt.
Und abends, wenn der Kühlschrank-Kompressor mit einem Rumms anspringt und versucht, den Verwesungsgeruch von Pizzapampenstückchen und Fleischresten zu vertreiben, abends, wenn das Gammeln der Staudensellerie und der Gemüsepaprika seinen Höhepunkt bereits erreicht hat, abends, wenn der Farbton der Sonne ins rötliche wechselt und die Küche in ein tiefes Dämmerlicht taucht, dann sitzen unsere beiden Helden vor dem Fenster, betrachten jene seltsame Welt, die so viele tolle Lebensmittel hervorbringt, und denken an Nachwuchs und Nachspeise.
»Du, Dude?« sagt der eine Held.
»Ja, Easy?«, antwortet der zweite.
»Das war 'ne tolle Wurstpelle, nich' wahr, Dude?«
»Ja, Easy, das war sie.«
Doch der Rest des Gesprächs geht in einem Rascheln unter: Dutzende nachtaktive Tiere verlassen ihre Verstecke und in den süßlichen Geruch schwindender Nahrung mischt sich noch ein weiterer, ein sanfterer Hauch - kaum wahrnehmbar ist er, der Pheromonkult der Schaben.