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Küss meinen Arsch, sagte der Engel...
Mit zittrigen Fingern hob die alte Dame den Löffel aus der Suppe. Verzweifelt versuchte sie die lauwarme Brühe in ihren Mund zu befördern, doch der größte Teil floss ihr wieder aus den Mundwinkeln heraus. Nur der leichte Geschmack der Suppe blieb der alten Dame, die ganz alleine in ihrem kleinen Zimmer saß. Noch einmal versuchte sie die Suppe dauerhaft in ihrem Mund zu bekommen, doch wieder ging alles daneben.
Verzweifelt fing sie an zu weinen. Sie hasste sich selber dafür. Für ihre Unfähigkeit die einfachsten Dinge zu erledigen.
Die alte Dame befand sich in der Endphase ihres Lebens. Man gab ihr nur noch wenige Wochen zu leben. Auch sie selber hoffte, dass diese schnell vorbeigingen, und auch ihre Verwandtschaft wäre wohl sehr glücklich darüber.
Wozu ist sie denn auch noch zu Gute? Sie kann sich ohne Rollstuhl nicht mehr bewegen, sieht nur noch sehr schlecht und auch ihr kleines Gehirn will nicht mehr so, wie es die alte Dame gerne hätte. Sie hasste sich dafür. Sie wollte nur noch eines:
Sie wollte in den Himmel!
Jeden Tag betete die alte Dame zu Gott. Jeden Tag erflehte sie ihre Errettung. Sie wollte nur noch schnell geholt werden, ohne Schmerzen, ohne Qual. Sie wollte mit einem Lächeln auf dem Gesicht aus dieser Welt verschwinden, in der sie nichts anderes als zu ertragende Last war.
Und in einer anderen wieder auftauchen. Unter der Obhut Gottes.
Als verrückte alte Schachtel wurde sie manchmal bezeichnet. Doch wer diese Leute waren hatte sie schon wieder vergessen. Aber das Schlimmste war, die Leute hatten Recht. Sie wurde verrückt! Sie konnte nicht mehr logisch denken, brachte alles durcheinander.
Manchmal hatte sie das Gefühl gegen ihr eigenes Gehirn einen erbitterten Kampf zu führen.
Mit Tränen in den Augen fuhr sie ihren Rollstuhl durch das kleine Zimmer Richtung Bett, als auf einmal die Tür aufgerissen wurde.
Die alte Dame hörte den Laut einer zuschlagenden Tür und zuckte erschrocken zusammen. Mit ihren schwachen Armen drehte sie den Rollstuhl in Richtung Tür und schaute wer dort gekommen ist. Die alte Dame, die schon mit Brille nur noch wenig sehen konnte, hatte diese auch noch neben der Suppe liegen lassen. Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie zur Tür.
Eine leuchtende Erscheinung in weißer Kleidung stand in ihrem Zimmer. Mit langem hellen gelocktem Haar, soweit die alte Dame das noch erkennen konnte. Sie kannte die Person nicht.
„Wer sind Sie?", fragte sie mit langsamer krächzender Stimme.
Die Person fing schallend und mit tiefer Stimme an zu lachen.
„Wer ich bin?", fragte die Person immer noch lachend, „Ich bin ein Engel!"
Das Herz der alten Dame fing hektisch an zu klopfen.
Ein Engel, dachte sie. Er war gekommen um mich zu holen.
Ich komme endlich in den Himmel.
Mit zitternden Händen hob sie die Hände ans Gesicht.
„Sind Sie gekommen um mich in den Himmel zu holen?",
wollte die alte Dame wissen, und fing erwartungsvoll an zu lächeln. Doch der Engel lachte wieder auf und antwortete: „Du, in den Himmel? In den Himmel kommen nur die Menschen, die lieb sind! Du bist böse!"
Der Engel verharrte einen Moment und schwebte zum Tisch der alten Dame.
„Schau doch! Noch nicht einmal Dein Essen hast Du aufgegessen! Und Du willst in den Himmel? Glaubst Du wirklich Gott nimmt jemanden in den Himmel, der nur noch anderen Leuten zur Last fällt und zu nichts mehr nutze ist?"
Der Engel schaute die alte Dame böse an.
„In der Hölle wirst Du landen!"
Die alte Dame zuckte erschrocken zusammen. Sofort schossen ihr Tränen in die Augen. In die Hölle? Sie?
Die alte Dame konnte es einfach nicht glauben. Sie wollte es nicht glauben! Sie war doch ihr ganzes Leben immer gut und gläubig gewesen, hatte nie jemanden etwas böses getan.
Oder? Sie wusste es ja gar nicht mehr!
Heulend stand die alte Dame auf einmal aus dem Rollstuhl auf. Auf wackeligen Beinen flehte sie den Engel an:
„Bitte lieber Engel, nehmen Sie mich mit in den Himmel. Ich möchte nicht in die Hölle, ich möchte bei Gott sein. Ich liebe doch Gott. Gott ist mein Leben! Kann ich nicht irgendetwas tun, damit Sie mich mitnehmen. Kann ich nicht Gott irgendwie gnädig stimmen?"
Immer noch heulend schaute sie den Engel an. Der zögerte einen Moment und antwortete dann.
„Iß die Suppe! Vielleicht lässt sich dann noch etwas machen!"
Die alte Dame nahm die Hände vor die Brust und fing freudig an zu lächeln.
„Danke! Ich werde alles versuchen um die Suppe zu essen!"
Doch der Engel reagierte auf ihre Danksagung nicht. Er nahm den Teller mit der nicht aufgegessenen Suppe und ging auf die alte Dame zu.
„Setz Dich hin!", schrie er sie regelrecht an und stieß sie nach hinten. Schmerzvoll landete sie im Rollstuhl. Tränen des Schmerzes schossen ihr in die Augen, aber sie unterdrückte jeden Tod.
Sie wollte in den Himmel.
„Hier iss!", sagte der Engel und hielt ihr den Suppenteller an die Lippen. Ohne Rücksicht auf die alte Dame kippte ihr die Suppe in den Mund. Die Suppe war zwar nicht mehr heiß, aber die alte Dame konnte trotzdem nichts davon schlucken. Die warme Brühe lief ihr den Mund herunter, über den Hals und in den Ausschnitt. Angeekelt wollte sie wieder anfangen zu weinen, doch sie vermied es.
Sie wollte den Engel nicht verärgern.
„Das war wohl nichts!", sagte der Engel gehässig, „Du solltest die Suppe essen und nicht ausspucken! Du musst wohl doch in der Hölle schmoren!"
Jetzt konnte die alte Dame ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Mit panisch klopfendem Herzen flehte sie den Engel an: „Nein! Bitte! Ich..."
„Halts Maul!", schrie der Engel und schlug ihr mit seiner flachen Hand ins Gesicht.
Blut floss ihr aus der Nase.
Sie sah ihn mit großen schockierten Augen an.
Wieder wollte sie etwas sagen, doch der Engel kam ihr zuvor.
„Gott sagte, ich solle Dich schlagen, Alte!",
rechtfertigte er seinen Schlag und schaute sich im Raum um. Nachdem er scheinbar nichts wichtiges gefunden hatte, schwebte er wieder auf die alte Dame zu, die immer noch heulend zusammengekauert in ihrem Rollstuhl saß, und der ein rotes Rinnsal aus der Nase lief.
„Gott hat gesagt er gibt Dir noch eine Chance!", sagte der Engel und beugte sich zu der alten Dame runter.
Die schaute ihm mit ihren verheulten Augen ins Gesicht.
Eine Chance, dachte sie, eine letzte Chance. Bitte!
„Wo hast Du dein Geld?", fragte der Engel und lächelte. Auch die alte Dame fing jetzt an zu lächeln.
Geld, Geld hatte sie genug. Und sie wusste sogar noch wo!
„Das Geld ist in der zweiten Schublade im Wandschrank. Es ist alles im Schmuckkasten!", erzählte sie mit zitternder Stimme.
Der Engel stand auf und flog zum Schrank. Er zog die Schublade auf und nahm das Schmuckkästchen heraus. Nachdem er das Geld gefunden hatte schmiss er das Kästchen auf den Boden und schwebte wieder zu der alten Dame.
„Das ist schon gut!", sagte er, „Jetzt hab ich nur noch eine Sache!"
Der Engel fing an zu lachen und öffnete seinen Gürtel. Die alte Dame schaute ihn schockiert an. Dann drehte er sich um und zog seine Hosen herunter.
„Küss meinen Arsch!", sagte der Engel und streckte ihn der alten Dame entgegen.
Der alten Dame, die sich eben gerade schon so sicher auf Gottes Seite gefühlt hatte, kamen wieder die Tränen. Der ekelhafte Geruch von Kot stieg ihr in die Nase. Doch sie hatte viel zu viel Angst vor dem Tod. Sie wollte nicht in der Hölle landen. Sie wollte Gott nicht verärgern, denn der Engel war Gottes Abgesandter.
Sie küsste den Arsch des Engels.
Wieder fing der Engel an zu lachen.
„Oh Alte! Du bist echt selten dämlich!"
Die alte Dame schaute ihn verwundert an.
„Du glaubst doch nicht tatsächlich dass ich ein Engel bin? So dumm kannst Du doch gar nicht sein. Ich bringe Dir jetzt seit über einem Jahr jeden Tag Dein Essen und wische Deinen Arsch ab, und Du glaubst wirklich ich bin ein Engel!?"
Der Pfleger fing laut an zu lachen.
„Mein Gott bist Du dämlich!"
Die alte Dame schaute den Pfleger verwundert an.
„Du bist kein Engel?"
„Nein!", lachte er noch mal, „Ich bin immer noch alles andere als ein Engel!"
Einen Moment verstummte die alte Dame. Dann fing sie auf einmal an zu schreien. In einer Lautstärke die ihr keiner zugetraut hätte. Sie schrie alles heraus, was sich seit Jahren in ihr angesammelt hatte. Sie verfluchte sich für ihre Dummheit.
„Halts Maul!", fluchte der Pfleger laut und schlug ihr ins Gesicht. Doch die alte Dame hörte nicht auf zu schreien.
Wieder schlug der Pfleger zu, doch sie schrie weiter.
Dann nahm der Pfleger den Rollstuhl und kippte ihn einfach um. Die alte Dame rollte über den Boden und blieb liegen. Sie schrie nicht mehr, aber sie war auch nicht bewusstlos. Sie blieb einfach nur ruhig liegen und weinte vor sich hin.
Der Pfleger grinste, nahm das Geld der alten Dame und verließ das Zimmer.
Mit letzter Kraft hatte sich die alte Dame auf ihr Bett gezogen. Dort lag sie nun, die Hände über der Brust verschränkt, die Nase blutig. Sie hatte aufgehört zu weinen. Es lohnte sich nicht mehr. Sie wusste sie hatte einen großen Fehler begangen und in ihr kämpfte die Angst das Gott ihr diesen Fehler nicht verzeihen könnte.
Das Herz der alten Dame schlug schneller als normal, sie bekam kaum noch Luft.
Sie wusste, dass sie sterben würde, aber sie hoffte, dass ihr letztes Gebet Gott noch erreichen würde, bevor sie in die Hölle fuhr.
Und sie betete.
Sie entschuldigte sich bei Gott.
Sie entschuldigte sich dafür, dass sie glauben konnte, dass ER sich mit materiellen Werten umstimmen lassen würde.
Sie entschuldigte sich dafür, dass sie glauben konnte, dass Gott wirklich eine so abgrundtief schlechte Person als Engel zu ihr schicken würde.
Sie entschuldigte sich dafür, dass sie überhaupt glauben konnte, dass Gott es als eine Sünde ansehen würde, wenn jemand nicht mehr in der Lage ist sein Leben selbstständig zu führen.
Und sie entschuldigte sich für ihr Leben.
Sie ersehnte, dass Gott ihr Gebet noch erhört hatte.
Dann hörte ihr Herz auf zu schlagen.
Sie wurde am nächsten Morgen mit einem Lächeln im Gesicht gefunden.
Alle Verwandten waren zu tiefst von ihrem Tod betroffen, da sich das Erbe scheinbar in Luft aufgelöste hatte.
Da es gestohlen wurde...
Von einem Engel...