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Kadaverzeit
Als er wieder zu sich kommt und die Augen öffnet, erblickt er über sich die Unterseite einer Tischplatte, doch es dauert eine Weile, bevor er einen klaren Gedanken fassen kann und feststellt, dass er nackt bis auf die Unterhose auf dem kalten Linoleum des Küchenbodens liegt. Er kriecht unter dem Tisch hervor, zieht sich am Stuhl empor und verharrt auf ihm sitzend, bis der erste Schwindel vorüber ist. Die Küchenuhr tickt. Der Wasserhahn tropft. Nach jedem achten Tick folgt ein dumpfes Plopp, wenn die Molekülansammlungen auf den blechernen Boden der Spüle treffen.
… tick – tick – tick – tick – tick – tick – tick – tick – plopp …
Der profane Rhythmus des Lebens, denkt er.
Er steht auf und sieht aus dem Fenster. Er regnet tote Hunde und Katzen. Sie fallen aus der grauen Wolkendecke und klatschen leblos auf den Asphalt, auf Autos, Zäune und Verkehrsampeln. Das große Ganze ist übersät mit ihnen.
„Kadaverzeit“, murmelt er, „Kadaver. Zeit. Kada verzeiht.“
Ja, das tut er. Und er nickt. Er hebt seinen Arm und segnet das große Ganze, indem er ein imaginäres Kreuz in die Luft malt.
Er geht in das vordere Wohnzimmer und zieht die schweren Brokatvorhänge zur Seite. Anna, die unter einer Wolldecke auf dem Sofa liegt, dreht ihm den Rücken zu und murmelt unverständlich. Er setzt sich auf einen Sessel und findet eine viertelvolle Flasche Rotwein in dem Durcheinander auf dem Tisch. Flaschen, Dosen, Gläser, überquellende Aschenbecher, Zigarettenpackungen, Unrat. Er leert die Flasche in einem Zug und zündet sich eine Zigarette an.
Hunde und Katzen, denkt er wieder, diese verdammten Hunde und Katzen. Man weiß nie, wann sie niederprasseln, wann sich die Schleusen öffnen und das leblose Fleisch auf die Stadt spucken. Und niemand fühlt sich zuständig. Die Stadt versinkt im Chaos. Nichts geht mehr. Nur noch Panzer und Kettenfahrzeuge kommen voran. Panzer und Kettenfahrzeuge. Panzer und Kettenfahrzeuge. Aber wer besitzt schon einen Panzer, ein Kettenfahrzeug, verdammt noch mal.
Er zieht das Telefonbuch aus der Schublade und wählt die Nummer der Stadtreinigung.
Eine freundliche Dame meldet sich am anderen Ende der Leitung.
„Geben Sie mir den Chef“, sagt Kada.
„Wen möchten Sie bitteschön sprechen?“
„Den Chef.“
Die Dame bleibt freundlich. „Sie müssten mir schon genauer sagen, wen Sie sprechen wollen, damit ich Sie weiterverbinden kann.“
Kada atmet tief durch, um seinen aufkommenden Zorn zu kontrollieren. Es ist alles eine Frage der Kontrolle. Geburtenkontrolle, Fahrkartenkontrolle, Selbstkontrolle, Kontrollkontrolle.
„Ist das so schwer zu verstehen …?“, zischt Kada. „Ich will deinen Chef sprechen, verdammt noch mal.“
Kurzes Schweigen. „Einen Moment bitte.“
Es knackt in der Leitung. Dann ertönt diese grauenhafte Musik. Fahrstuhlmusik. Hirnlos. Beleidigend. Warteschleife.
Kada beginnt unruhig im Zimmer umher zu wandern. Er geht zum Fenster und sieht auf die Kadaverberge hinab. Die synthetische Musik an seinem Ohr beginnt nach 30 Sekunden von vorn. Der Komponist war scheinbar nicht in der Lage, eine Melodie zu schreiben, die länger als 30 Sekunden andauert. Was für ein Kretin.
Knacken in der Leitung. „Stadtreinigung, Vorzimmer Lichtenberg. Mein Name ist Anke Müller, was kann ich für Sie tun?“
„Ich will deinen gottverdammten Chef sprechen“, sagt er beherrscht.
„Mit wem spreche ich bitte?“
„Hier ist Kada“, sagt Kada.
„Herr Kada, worum geht es? In welcher Angelegenheit möchten Sie Herrn Lichtenberg sprechen?“
„In welcher Angelegenheit?“ Kada zittert vor Wut. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“
„Herr Kada, worum geht es?“
„Worum es geht…?! Hast du heute noch nicht aus dem Fenster geguckt?! Sind deine Fenster vernagelt?! Oder bist du schon so dermaßen degeneriert, dass es dich einfach nicht mehr interessiert?!“
„Herr Kada, ich muss doch sehr bitten“, empört sich das Fräulein Müller.
„Verdammte Scheiße! Ich will, dass sich deine verdammten Stadtreiniger in Bewegung setzen und den verdammten Leichendreck von den Straßen räumen! Wofür bezahl ich meine Steuern?!“
Es knackt abermals in der Leitung. Dann ein monotones Rauschen. Er drückt die rote Taste und feuert das Gerät in die Ecke. Es bricht auseinander. Die Batterien rollen über den Parkettboden.
Anna bewegt sich auf dem Sofa. „Musst du so schreien?“ Ihre Stimme klingt rau und kratzig. Sie hustet. Sie schiebt die Haare auseinander und blinzelt ihn an. Ihr schönes Gesicht beginnt aus dem Leim zu gehen. Der Alkohol setzt ihr zu. Sie steht auf und taumelt nackt aus dem Zimmer.
Kada blickt auf die Uhr. Es ist halb 9.
Ich werde mich später darum kümmern, denkt er.
Er duscht und rasiert sich und steigt in die helle Leinenhose.
„Ich werde mich später darum kümmern“, murmelt er, während er das gelbe Polo-Shirt überzieht und seine Haare kämmt.
Er geht nach unten, öffnet die Praxistür und setzt sich hinter seinen Schreibtisch. Er klappt den Tagesplaner auf und betrachtet die Namen, die sich ihm heute gegenüber setzen werden, um ihren Seelenmüll bei ihm abzuladen. Und er wird nicken und Interesse heucheln und die ewig gleichen Floskeln von sich geben, wie man es so tut als Psychologe.
Denn was wissen sie schon, die ihre kleinen nichtigen Neurosen für bemerkenswert halten, während da draußen die Welt im stinkenden Kadaver versinkt.