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Kakerlaken leben länger
Für gnoebel, Felsenkatze und sirwen, die die grundsätzlichen Zutaten zu dieser Geschichte beigesteuert haben
Folgende Ereignisse mögen irreal erscheinen, aber sie werden sich wirklich und wahrhaftig ereignen. Es ist deshalb ratsam, diese Geschichte zu lesen, um vorbereitet zu sein. Man kann natürlich auch warten, bis alles wirklich geschehen ist. Aber dann ist es vielleicht schon zu spät …
Die Geschichte beginnt – aus nicht näher zu erläuternden Gründen – in dem Moment, in dem Iwan seine Fühler ausstreckte und laut und vernehmlich fragte: „Wo sind wir hier?“ Er schaffte es immer wieder, seiner Stimme diesen hilflos-verlorenen Klang zu geben, der die meisten seiner Artgenossen bezauberte und ihren Beschützerinstinkt weckte. Leider war Aljoscha keiner von den meisten. Und für unangebrachte Dramatik hatte er erst recht keinen Sinn.
„In Breitenworbis“, schnarrte er und klopfte mit einem seiner sechs Beine energisch auf den Boden, „das steht da groß und breit, also hör auf mit diesem Dackelblick.“
„Ich bin eine Kakerlake, Aljoscha“, sagte Iwan vorwurfsvoll und strich seine Flügel zurecht.
Aljoscha zuckte die Achseln und warf einen kurzen Blick auf die roten Punkte, die er sich vor der Abreise auf den Körper gemalt hatte. Natürlich wusste Aljoscha, dass Mariechenkäfer eigentlich schwarze Punkte auf rotem Grund tragen und nicht umgekehrt, aber das wäre färbetechnisch zu aufwendig gewesen. Sie hatten es eilig.
„Gut, Breitenworbis.“ Iwan tippelte ein paar Schritte nach vorne. „Und wo ist das?“
„Mir egal“, knurrte Aljoscha, „solange auf Gleis 3 unser Anschlusszug ankommt.“
„Du bist so klug!“
„Wie man’s nimmt. Ich habe einfach im Kursbuch gelesen, während du dir die Fühler lackiert hast.“
„Heißt das, du findest das nicht gut? Aber das Rosa steht mir doch?“
Iwan versuchte es erneut mit einem verwirrten Blick.
„Rosa ist eine kapitalistische Drecksfarbe“, erwiderte Aljoscha trocken. „Und jetzt komm.“
Sie machten sich auf den Weg in Richtung Gleis 3.
„Du meinst also, es steht mir nicht?“, fragte Iwan.
Aljoscha seufzte.
„Vielleicht ist es nicht ganz dem Anlass entsprechend.“
„Der Anlass –“ Iwan zuckte plötzlich zusammen und sah sich um. Sein linker Fühler zwirbelte sich nervös auf und zu. „Meinst du, sie sind uns gefolgt?“
Europa!
Zapatina atmete tief durch, während sie den Blick über die Umgebung schweifen ließ.
Das war also die berüchtigte Alte Welt. Dieses armselige Stückchen Erde, wo bis vor wenigen Jahrhunderten absolute Armut geherrscht hatte, weil es weder Kartoffeln noch Mais noch Tomaten gegeben hatte, ganz zu schweigen von Tabak, Kakao und Tequila.
„Jetzt beginnt die Rückeroberung!“, murmelte Zapatina und tat einen entschlossenen Schritt nach vorne.
Schneller als beabsichtigt fügte sie noch vier weitere an, um nicht von einem Paar roter Damenstiefel zertreten zu werden.
„Verfluchte Gringos!“, zischte sie und rettete sich in den Schatten des nächsten Mülleimers.
„Das sind keine Gringos“, berichtigte Marie Johanna. „Das sind Europäer.“
Zapatina schnaubte verächtlich. „Für mich sind die alle gleich.“
„Sei nicht so rassistisch. Du bist hier Gast.“
Zapatina verdrehte die Augen und musterte ihre Begleiterin. Nun ja. Kleine rosafarbene Elefanten hatten nun einmal merkwürdige Ansichten. Marie Johanna bildete da keine Ausnahme. Allerdings hätte Zapatina keinesfalls auf sie verzichten wollen, denn kleine rosafarbene Elefanten konnten auch verdammt nützlich sein. Und schlau. Und sie wissen alles über Marilyn Manson.
„Ich bin kein Gast, ich bin Revolutionärin“, sagte Zapatina. „Und jetzt zeig mir den Weg zur Kathedrale.“
Marie Johanna blickte sich um. Menschengewusel machte sie immer nervös, und der Dresdner Hauptbahnhof war nicht eben für seine Abgeschiedenheit berühmt.
„Es ist eine Kirche“, korrigierte sie geistesabwesend.
„Scheißegal. Du kennst doch sicher den Weg.“
Die Cucaracha wagte sich ein paar Schritte nach vorne.
Ein Koffer auf Rollen klackerte über den Bahnsteig.
Zapatina sprang zur Seite, keuchte, wandte sich um.
„Marie Johanna?!“
Aljoscha döste. Das rhythmische Rattern des Zuges und die Wärme im Abteil lullten ihn ein. Er träumte, dass die Proletarier aller Länder sich vereinigt hatten und ihm unter den Klängen der Internationalen in eine bessere Zukunft folgten. Und er war endlich ein Marienkäfer. Seine Flügel leuchteten weithin sichtbar als rote Fahne.
Der sterbende Kapitalismus streckte sich ein letztes Mal und stieß ihn schmerzhaft in die Seite.
Aljoscha blinzelte.
Es war natürlich nicht der Kapitalismus. Es war Iwan.
„Verdammt, ich bin müde“, knurrte Aljoscha und drehte sich demonstrativ weg.
„Aljoscha, ich weiß überhaupt nicht, was das alles werden soll.“ Iwan klang fast noch weinerlicher als sonst. „Wenn sie uns nun erwischen.“
„Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich.“
„Und die Kleine? Werden wir sie erkennen?“
„Wenn nicht gerade überdurchschnittlich viele Kakerlaken mit einem roten Sombrero anwesend sind, dann ja.“
Iwan schwieg einen Moment.
„Ich bin ja so aufgeregt. Stell dir vor. Wir treffen unsere … was ist sie eigentlich? Die Enkelin von unserem Großonkel? Ist das unsere Großcousine?“
„Iwan, das ist doch vollkommen egal. Entscheidend ist, dass wir verwandt sind, dass sie uns ausfindig gemacht hat und dass wir sie so schnell wie möglich treffen.“
„Meinst du, dass wir sie in diese ganze Sache mit reinziehen?“
„Welche ganze Sache?“
„Aljoscha!“ Iwans Stimme wurde leiser. „Wenn Wollowitsch uns erwischt –“
„Wollowitsch ist eins der dämlichsten Schafe, das ich je getroffen habe. Mach dir da mal keine Sorgen.“
„Aber er hat seine Leute.“
„Ja, meine Güte. Na und? Siehst du die hier irgendwo?“
Iwan räusperte sich. „Ja …“
Aljoscha riss die Augen auf und fuhr herum.
„Du liebe Zeit …“
Marie Johanna zwinkerte.
„Nicht schon wieder“, murmelte sie resigniert.
Ein stumpfsinnig vor sich hin kichernder Kranich musterte sie neugierig von der Seite.
„Wo kommst du denn her?“, gluckste er.
Marie Johanna machte eine gelangweilte Rüsselbewegung.
„Vom Hauptbahnhof“, erläuterte sie. „Aber eigentlich stamme ich aus einem Tequila-Rausch.“
„Interessant“, gab der Kranich zurück, steckte den Kopf unter die Flügel und kicherte dort weiter.
Marie Johanna seufzte. Sie verzichtete auf die Frage nach ihrem neuen Aufenthaltsort. Wenn man mit einem Blick Gitterstäbe, Pandabären, sibirische Schneelöwen und ähnliches Getier überblicken kann, kann man Möglichkeiten wie „verlassene Insel in der Karibik“ oder „Heimwerkerfachhandel“ meistens ausschließen.
„Kennst du den Weg zur Frauenkirche?“, erkundigte sie sich.
Der Kranich gab keine Antwort. Nur sein Gefieder wippte in regelmäßigem Kichertakt.
„Blöder Vogel!“ Der kleine rosa Elefant wandte sich verärgert ab. Es war kein besonders großes Problem, sich durch die Gitterstäbe des Kranichgeheges zu zwängen.
Das Problem wartete direkt davor.
Zapatina pfiff nervös vor sich hin. Es war ein Lied, in dem es um Tequila, Sex und Marijuana ging. Mindestens zwei Sachen davon hätte sie jetzt sehr gut gebrauchen können. Behutsam rückte sie ihren Sombrero zurecht.
Wie durch ein Wunder hatte sie es geschafft, den Bahnsteig zu verlassen, ohne ein Opfer der trampelnden Füße zu werden. Nun stand sie unter der Dresdner Sonne. Angst hatte sie natürlich keine, wovor auch. Eine gewisse Ratlosigkeit war natürlich nicht zu leugnen.
„Kann ich behilflich sein, Señorita?“
Zapatina hob die Augenbrauen.
„Du bist auch nicht von hier, oder?“
Ihr Gegenüber – oder besser gesagt: ihr Obenüber – grinste freundlich.
„Richtig, Señorita. Ich komme aus Peru.“
Zapatina musterte den Neuankömmling. Er hatte etwas an sich, das sie verdammt an Marie Johanna erinnerte.
„Inkaschnaps?“, riet sie.
Das Alpaka schüttelte den Kopf.
„Maisbier.“
„Eure Reise ist hier zuende“, grollte der Roboter.
Iwan presste sich gegen die Wand. Seine Fühler zitterten.
„Tu doch was, Aljoscha.“
„Immer ich!“
„Ich werde euch vom Antlitz der Erde tilgen“, fuhr der Roboter fort.
„Kapitalistisches Drecksschwein“, bemerkte Aljoscha.
„Eure Reise ist hier zuende.“
Der Roboter trat zu. Aljoscha schaffte es, Iwan rechtzeitig zur Seite zu stoßen. Der Roboterfuß hinterließ eine deutliche Kerbe in der Wand.
„Ich werde euch vom Antlitz der Erde tilgen!“
„Wenn du uns kriegst“, brummte Aljoscha. „Meine Güte, Iwan, wie wäre es, wenn du aufstehst und rennst?“
„Eure Reise ist hier zuende!“
„Aljoscha! Hörst du, was er sagt?“
Aljoscha zerrte seinen Bruder auf die Beine. Auf alle sechs, um genau zu sein.
„Ich werde euch vom Antlitz der Erde tilgen.“
„Glaub ihm kein Wort, du Idiot. Er ist programmiert, das ist alles!“
Sie hasteten den Gang entlang. Der Roboter folgte monoton ruckelnd.
„Eure Reise ist hier zuende!“
„Das fand Wollowitsch wohl sehr passend“, knurrte Aljoscha. „Aber langsam wird’s langweilig.“
„Er kommt immer näher, Aljoscha!“
„Wenn du rennen würdest, könntest du diesen Sachverhalt ändern.“
„Ich renne ja!“
„Warum hältst du deine Fühler dabei fest?“
„Die Farbe wird noch abgehen!“
„Ich werde euch vom Antlitz der Erde tilgen!“
„Was hab ich eigentlich getan?“, stöhnte Aljoscha, schubste Iwan weiter voran und warf einen knappen Blick auf den Roboter. Was zur Folge hatte, dass er unsanft gegen die geschlossene Tür am Ende des Waggons knallte. Iwan schrie erschrocken auf. Der Roboter sagte sein Sprüchlein. Aljoscha rieb sich den Kopf.
„Warum muss ich eigentlich immer alle Probleme von selbst lösen? Wie wäre es mal mit einem Deus ex machina?“
Eine Abteiltür flog auf. Die beiden Kakerlaken sahen auf zwei dunkelblaue Hosenbeine, die sich zwischen ihnen und dem Roboter aufbauten. Eine tiefe Stimme erfüllte in gebieterischem Dröhnen den Gang.
„Ihren Fahrausweis bitte!“
„Tequila, soso“, zischte das Sandbankkamel und kratzte sich hinter dem rechten Ohr. Marie Johanna sah ein Haarbüschel zu Boden flattern und bemerkte eine große kahle Stelle.
„Ja. Tequila“, sagte sie und bemühte sich, die kräftigen Kamelhufe zu ignorieren. Auch wenn das nicht leicht war. Immerhin stand einer davon auf ihrem Schwanz.
„Tequilaphantasien sind die schlimmsten von allen. Du hast keine Existenzberichtigung.“
„Ach nein?“
„Ich werde dich vom Antlitz der Erde –“
„Meine Güte, du bist doch noch ein Kind! Wie kannst du solche Sachen –“
„Ich bin ein Kind?“ Das Babysandbankkamel lachte bitter auf. „Das hat noch nie einen interessiert, du Ausgeburt des Agavenschnapses. Ich bin immer nur herumgestoßen und ausgelacht worden. Ich hatte keine andere Wahl. Ich bin ein Soldat des Bösen geworden und nun erfülle ich seinen Auftrag.“
„Ich wusste schon immer, dass dieses Zeug nicht gesund sein kann.“
„Wie?“
„Du bist doch eine Müsliphantasie, oder etwa nicht?“
„Und wie kommt eine so reizende Señorita wie Sie hier nach Dresden?“, erkundigte sich Machu Picchu.
Zapatina saß mittlerweile auf seinem Rücken und ließ sich durch die Dresdner Altstadt tragen. Sie fand ihren Sitz mehr als bequem.
„Ich suche die Spuren meines Großvaters“, sagte sie und strich gedankenverloren ihren linken Fühler glatt. „Er ist vor vielen Jahren nach Coyoacán gekommen, gemeinsam mit seinem Freund Leo Trotzki.“
„Ich habe davon gehört, glaube ich“, sagte das Alpaka. „Die Geschichte endet tragisch und hat etwas mit einem Eispickel zu tun?“
Zapatina nickte. „Ja. Mein Großvater nahm die Sache sehr schwer. Er wollte nicht länger in Mexiko bleiben. Dafür hat er sogar meine Großmutter verlassen. Bei Nacht und Nebel ist er abgereist.“
„Und jetzt sind Sie auf der Suche nach ihm?“
„Nicht aus Sentimentalitäten, claro. Ich habe erfahren, dass er damals etwas mitgenommen hat, was meiner Großmutter gehörte. Und das will ich wiederhaben.“
„Ihre Großmutter war aber Mexikanerin?“
„Aber oho! Eine mexikanischere Cucaracha hat es nie gegeben“, antwortete Zapatina eifrig. „Sie konnte krabbeln wie ein Mann und Tequila trinken wie ein Loch. Ihr einziger Fehler war, sich von meinem Großvater, diesem russischen Kakerlatsch, den Kopf verdrehen zu lassen. Wäre das nicht passiert, hätten wir die Rezeptur noch.“
„Rezeptur?“
Zapatina beugte sich nach vorne.
„Er hat ein Familienrezept mitgehen lassen und in seiner Heimat das große Geld damit gemacht. Ich bin darauf aufmerksam geworden und jetzt habe ich Kontakt zu seinen Großneffen aufgenommen.“
„Die das Rezept haben?“
„Nein, offenbar nicht. Mein Großvater hat das Rezept auswendig gelernt auf der Rückreise damals. Er hatte wohl Angst, dass es in die falschen Hände kommt. Und darum hat er es deponiert. Seine Großneffen wissen lediglich den genauen Aufenthaltsort. Jedenfalls haben sie mir das geschrieben.“
„In der Frauenkirche?“
„Exacto.“
Machu Picchu nickte beifällig.
„Sie sind sehr mutig, Señorita, wenn Sie nur wegen dieser Rezeptur die weite Reise auf sich nehmen.“
„Für dieses Rezept würde ich noch einige andere Dinge tun, Compañero.“
„Aber was ist so besonders daran?“
Zapatina grinste.
„Die Geschichte mit Trotzki und meinem Großvater ist über sechzig Jahre her. Kommt dir das gar nicht merkwürdig vor?“
„Ihre Reise ist hier zuende!“
Iwan hatte wieder gute Laune. Er wurde nicht müde, den Satz des Fahrkartenkontrolleurs zu wiederholen, der sie letztendlich vor Wollowitschs Roboter befreit hatte. Seit sie am Dresdner Hauptbahnhof den Zug verlassen hatte, hüpfte er vergnügt um Aljoscha herum.
„Ja, Iwan. Es ist gut.“
„Freust du dich gar nicht, dass wir am Leben sind?“
„Erst wenn wir die Frauenkirche gefunden haben.“
„Und unsere Cousine. Oder wer auch immer sie ist.“
„Cucaracha, Iwan. Sie heißt Zapatina Cucaracha.“
„Schau mal, Aljoscha. Da drüben bauen sie eine neue Kirche.“
Aljoscha schaute.
„Dummkopf. Das ist die Frauenkirche.“
„Ausgeschlossen! Die Frauenkirche muss uralt sein. Aber die hier ist ja noch eingerüstet!“
Aljoscha zog ein vergilbtes Stück Papier hervor und faltete es auseinander.
„Und was ist das hier?“
Iwan spähte auf die Fotografie.
„Zugegeben, die Ähnlichkeit ist nahezu …“
„Wir gehen da jetzt rein.“
„Hoffentlich folgt uns keiner von Wollowitsch Killerrobotern!“
„Wollowitsch ist keine Gefahr mehr.“ Aljoscha lächelte. Nur er selbst wusste, was er mit seiner Bemerkung eigentlich meinte.
Besser so.
„Ich stehe für eine Welt, in der Müsli nicht mehr unterschätzt wird!“, rief das Sandbankkamel und stampfte mit dem Huf auf.
Dazu musste es ihn erst einmal heben. Marie Johanna nutzte den Augenblick, um ein paar Sprünge zur Seite zu machen.
„Das kannst du gerne tun“, bemerkte sie.
„Eine Welt ohne Alkoholexzesse! Und daher werde ich nunmehr deine Existenz beenden! Bleib stehen!“
Es ist eine traurige Wahrheit: Sandbankkamele sind schneller als rosa Elefanten.
„Ein Meisterwerk der Architektur!“, hauchte Machu Picchu. „Natürlich im Vergleich mit den alten Inkastädten eher unbeeindruckend …“
„Aber für Gringos durchaus okay“, stimmte Zapatina zu und sprang von seinem Rücken. Als Kakerlake und Maisbierrauschalpaka hatten sie relativ unkompliziert Einlass in die Frauenkirche gefunden.
„Wo treffen Sie Ihre Großvaterneffen, Señorita?“
„Dort hinten, wenn ich das mit der Beschreibung richtig verstanden habe. Hm …“ Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse. „Wenn ich mir vorstelle, dass hier irgendwo das Geheimnis des nahezu unbegrenzten Lebens verborgen ist …“ Ihre Flügel zitterten ehrfurchtsvoll.
„Señorita! Ich sehe zwei Kakerlaken.” Zapatina folgte mit dem Blick der Kopfbewegung des Alpakas.
„Das könnten sie sein.“ Sie schaute an Machu Picchu hoch. „Gut, ich schätze, unsere Wege trennen sich dann, du wirst nicht länger hier warten wollen …“
„Was für eine Frage. Ich bin stets zu Ihren Diensten, Señorita”, versetzte Machu Picchu. „Aber ich werde selbstverständlich draußen warten.“
Das Alpaka drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Ausgang der Kirche.
Zapatina schob ein letztes Mal ihren Sombrero zurecht und ging auf die beiden Kakerlaken zu, die im Kreuzgang auf sie warteten.
„Zapatina?“, erkundigte sich diejenige der beiden, die rosafarbene Fühler hatte.
„Und du bist –“
„Iwan. Und das ist Aljoscha.“
Zapatina blickte auf rote Flecken.
„Ist das Ausschlag?“
„Das trägt man so“, erwiderte Aljoscha pikiert. „Betrachte mich bitte als Marienkäfer.“
„Oh, natürlich.“ Zapatina zögerte. „Nun, ihr wisst beide, warum ich hier bin. Ihr habt die Lagebezeichnung der Rezeptur.“
„Warum bist du eigentlich erst jetzt an ihr interessiert?“, fragte Aljoscha. „Ich meine, warum ist nicht schon deine Mutter – oder deine Großmutter –“
Zapatina zuckte das, was man bei Kakerlaken als Achseln bezeichnen konnte.
„Wir haben von Vorräten gelebt, seit ich klein war. Erst vor kurzem habe ich erfahren, dass es auch ein Rezept gibt.“
„Nun, dann geht es dir ähnlich wie uns“, sagte Iwan eifrig. „Onkel Sergej hat das Zeug produziert, ohne jemals zu verraten, was er da alles reinmischt. Nach seinem Tod hatten wir auch noch eine Weile Vorräte, aber so langsam nicht mehr.“
Zapatina musterte ihre Verwandten.
„Ihr habt auch schon davon getrunken?“
„Seit unserer frühesten Kindheit. Das Zeug ist besser als Wodka“, antwortete Iwan, und die Cucaracha nickte. Einen Moment zögerte sie.
„Und jetzt kommt es zurück nach Mexiko, wo es hingehört“, sagte sie dann.
„Mir ist das gar nicht so unrecht.“ Iwan klapperte mit seinen Fühlern und bemerkte Zapatinas fragenden Blick. „Ehrlich. Alle finden den Fusel besser als Wodka. Und gerade das ist das Problem. Es gibt so etwas wie eine Wodkamafia …“ Unwillkürlich blickte er sich um.
„Wollowitsch“, sagte Aljoscha trocken. „Vor dem du hier wirklich keine Angst zu haben brauchst, Iwan.“
„Ihr habt Probleme mit der Mafia?“, vergewisserte sich Zapatina.
„Na ja, so kann man das nennen. Sie waren nicht besonders glücklich, dass Onkel Sergej mit seinem Zeug auf ihren Markt gekommen ist.“
„Umbringen wollten die uns!“ Iwan zitterte jetzt am ganzen Körper.
„Dann sagt mir einfach, wo das Rezept versteckt ist.“
Aljoscha wies nach oben.
„Ich hoffe, du bist schwindelfrei, Cousinchen.“
„Hör sofort auf zu lachen!“ Das Sandbankkamel stampfte abwechselnd mit allen vier Hufen auf. „Und gib den Elefanten heraus!“
„Vergiss es“, prustete der Otter. „Den Spaß lass ich mir nicht verderben.“
„Sven, ich warne dich!“
Sven, der lachende Otter, wälzte sich von einer Seite auf die andere. Marie Johanna malte mit ihrem Rüssel nervös Kreise in den Sand. Sie hatte nie geglaubt, dass ein Ottergehege am Wegrand ihr jemals so gelegen hätte kommen können.
„Ich muss zur Frauenkirche“, sagte sie.
Der Otter richtete sich kurz auf. „Frauenkirche! Das ist echt zu komisch!“
„Hör sofort auf zu lachen! Die Sache ist ernst.“
„Nichts auf dieser Welt ist ernst, meine Liebe.“ Sven gluckste und warf einen Blick auf das wütende Sandbankkamel. „Er dort zum Beispiel. Ein sanftmütiges Sandbankkamel. Ist das nicht …“
„Ich muss zu der Cucaracha zurück, aus deren Tequila-Rausch ich stamme!“, unterbrach Marie Johanna ihn.
Sven verschluckte eine weitere Lachsalve, was ihm sichtlich Mühe bereitete.
„Ich habe gehört, dass du von einer Sekunde auf die andere hier aufgetaucht bist.“
„Das stimmt. Bei Rauschgestalten kann Schluckauf manchmal verheerende Wirkungen haben, weißt du.“
„Warum hickst du dich dann nicht einmal schnell zur Frauenkirche?“
„Auf Bestellung? Das kann ich nicht!“ Marie Johanna spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sven kämpfte mit einem neuen Lachanfall.
„Komm endlich raus!“, fauchte das Sandbankkamel.
„Es gibt vielleicht jemanden, der dir helfen kann“, sagte der Otter nachdenklich.
Marie Johanna horchte auf. „Ja?“
„Ja. Aber ich weiß nicht, wer.“
„Du kletterst richtig gut.“
Das klang anerkennend, aber für Zapatina hörte es sich auch seltsam widerwillig an. Aljoscha war wohl keiner, der gerne lobte. Sie waren auf einem schmalen Mauervorsprung angekommen.
„Wie hoch noch?“, fragte sie.
Er spähte nach unten.
„Hoch genug, schätze ich. So, Cousinchen!“
Normalerweise war Zapatina auf alles vorbereitet. Nur nicht darauf, plötzlich über dem Rand des Vorsprungs zu baumeln und keinen Halt mehr zu haben.
„Aljoscha! Was machst du da?“
„Was werde ich wohl tun? Ich brauche keine Mitwisser oder potentielle Ansprucherheber auf dieses Rezept. Lange Jugend für Kakerlaken. Mit diesem Geschäft kann ich mir ein Leben lang gutes Geld verdienen.“
„Ich dachte, ihr habt Angst vor der Wodkamafia!“
„Iwan, ja. Aber Iwan ist ein Dummkopf. Ich werde mit denen schon fertig.“
„Ach ja? Nicht mal mein Großvater ist mit denen fertig geworden. Oder woran ist er sonst gestorben?“
„Gar nicht dumm, Cousinchen. Du hast Recht, es war ein genmanipulierter Killerroboter, der Onkel Sergej ... Aber das tut alles nichts zur Sache.“
„Halt. Du musst mir noch ganz genau deine Pläne, deine Motivation, dein bisheriges und zukünftiges Vorgehen enthüllen. Das macht man so!“
„Im Kapitalismus vielleicht“, sagte Aljoscha und ließ sie los.
„Mir ist schlecht“, ächzte Marie Johanna und setzte sich.
Sven beobachtete sie.
„Du bist ganz rosa um den Rüssel.“
„Sehr witzig.“ Der kleine Elefant schloss die Augen. Alles drehte sich. Verdammt, was war los?
„Halt die Welt an“, brachte Marie Johanna mühsam hervor und peitschte mit dem Rüssel in den Sand.
Und dann hickste sie.
„Du bist alleine?“, fragte Iwan erstaunt.
Aljoscha räusperte sich.
„Etwas sehr Tragisches ist geschehen. Zunächst einmal sind wir an der falschen Stelle hochgeklettert.“
„Wo ist Zapatina?“
„Sie hat die Höhe nicht vertragen. Sie … Nun, ich wollte sie noch festhalten …“
Aljoscha blickte demonstrativ zu Boden.
„Nein, das ist nicht wahr!“ Iwan ließ seine Fühler rotieren. „Sie ist doch nicht –“
„Sie liegt hinter dieser Säule“, sagte Aljoscha ruhig. „Ich schätze, es wird kein schöner Anblick sein …“
Iwan hastete um die Säule herum.
„Aber … Aljoscha!“
„Muy buenos días, señorita.”
Marie Johanna öffnete vorsichtig die Augen.
„Ich glaube, wir sind Kollegen“, fuhr Machu Picchu fort. „Tequila?“
Sie musterte ihn scharf. „Chicha?“
„Du kennst Chicha?“
„Gutes Gesöff“, sagte Marie Johanna achselzuckend. „Maisbier, stimmt’s? Moment mal. Ist das hier die Frauenkirche?“
„Zapatina ist drinnen und spricht mit ihren Verwandten.“
„Wir müssen rein. Es ist etwas passiert, das … habe ich grade gefühlt.“
„Ist das so höflich? Es ist doch ein Familientreffen.“
Marie Johanna trompetete ungeduldig.
„Hier geht es um mehr! Lass uns reingehen!“
„Aber sie muss hier liegen!“
„Hier ist aber nichts. Es gibt also noch Hoffnung!“ Iwan hüpfte auf und ab. „Freut dich das gar nicht?“
Aljoscha griff unter seinen Panzer und stieß einen russischen Fluch aus.
„Was?“
„Das Papier ist weg. Die Lagebezeichnung. Diese verdammte kleine Tequilakakerlake hat sie mir abgenommen!“
Iwan betrachtete ihn einigermaßen verständnislos.
„Sie wird sich das Rezept krallen und nach Mexiko verschwinden!“ Aljoscha stampfte auf. Das ist bei Kakerlaken nicht allzu effektvoll.
„Genau das wollten wir doch, oder?“, erkundigte Iwan sich unsicher.
„Nein, du Idiot! Das wollten wir eben nicht!“
Iwans Augen wurden groß.
„Irgendwas ist hier aber komisch, Aljoscha!“
„Du sagst es, Iwancito.“
Zapatina tippte ihm von hinten auf die Schulter. Dann schnipste sie Aljoscha ein Stück Papier zu.
„Du bist gefallen!“, schnappte der.
Sie breitete wortlos ihre Flügel aus. Aljoscha schüttelte den Kopf.
„Oh. Daran hatte ich gar nicht gedacht.“
Er blickte auf das Papier. „Warum gibst du mir das wieder?“
„Weil es absolut wertlos ist“, sagte Zapatina fröhlich. „Weißt du, wann dein Onkel Sergej hier war?“
„Vor sechzig Jahren. Was weiß ich!“
Die Cucaracha grinste. „Eben. Mitten im Krieg. Und danach ist die Kirche ein bisschen bombardiert worden. Das Versteck gibt es nicht mehr.“
„Das Rezept ist verloren?“
„So kann man das sagen.“
Aljoscha starrte sie an.
„Ihr werdet verzeihen, muchachos.“ Zapatina lüpfte ihren Sombrero. „Ich schätze, wir sollten das Familientreffen jetzt beenden. Und uns zerstreuen.“
Aljoscha ließ sich langsam auf den Boden sinken. „Alles umsonst!“, murmelte er. Zapatina stupste Iwan an. „Du solltest mit ihm auswandern. Vielleicht wird dann noch was aus ihm.“
„Ein Souvenir?“
Der Vielfraß mit dem Bauchladen trat völlig überraschend aus dem Halbschatten.
Marie Johanna und Machu Picchu musterten ihn.
„Hexenlikör aus der Sächsischen Schweiz. Bevor ihr fragt“, sagte das Tier.
„Das macht Vielfraße? Interessant.“ Marie Johanna studierte den Bauchladen. „Hast du auch Fotos von der Rhein-Ruhrmündung?“
„Eines ist noch da, rein zufällig.“ Der Vielfraß wühlte in einem Stapel vergilbter Fotografien. „Kommt nicht oft vor, dass einer das haben will. Ist auch nicht so tolle Qualität. Habe ich direkt nach dem Krieg aus einem Trümmerhaufen hier gezogen.“
„Ich bin Sammlerin, weißt du.“ Marie Johanna beäugte die Fotografie. „Schick. Eine aus diesem Winkel habe ich noch nicht. Was bekommst du von mir?“
Der Vielfraß winkte ab. „Ist schon in Ordnung. Schließlich bist du Sammlerin und wir sind Kollegen.“
„Ich danke dir!“ Marie Johanna nahm das Foto in den Rüssel und drehte es behutsam um. Ihre Augen wurden groß.
„Coño, Machu Picchu! Siehst du, was ich sehe?“
„Die Schrift, Señorita?”
„Genau, die Schrift.“ Marie Johanna überflog das Geschriebene. Dann grinste sie breit.
„Mexikanisches Familienrezept? Zapatina wird sich freuen …“