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Kall der Jrooße
Man beschloss, dem Gewebe Karls des Großen eine Zelle zu entnehmen und daraus einen neuen Menschen zu züchten.
Das ging.
Die Frucht wurde von einer neunzehnjährigen Leihmutter ausgetragen. Es handelte sich um eine Hamburger Grafikerin. Das Kind wuchs normal bei ihr heran.
Ein Bub war`s.
Als er elf war, zog er auf einer Klassenfahrt, bei der man in einem katholischen Landschulheim übernachtete, eine Dreizehnjährige ins Gebüsch.
Drauf zündete am nächsten Tag die Oberschwester eine schwarze Kerze an.
Noch als Schüler bekam er eine Stellung als Sales Assistant bei seinem Onkel.
Für diesen bereiste er Europa, vor allem Deutschland, in den folgenden Jahren extensiv.
Mit achtzehn begegnete er in einer Düsseldorfer Straßenbahn seiner großen Liebe und späteren Ehefrau.
Er sprach sie einfach an.
Es war ein blondes Ding, rundlich, voll, mit Sommersprossen überschüttet, siebzehn. Sie saß, er stand.
"Was macht der Nachmittag?" – "Er wartet auf dich." – "Wo fährst du hin?" – "Auf die Kö." – "Und?" – "Ich hab zehn Tage drauf gespart." – Sie fasste ihn um den Oberkörper und zog ihn in spaßhafter Aufforderung an ihre Knie. Von da ab war`s nur noch ein lockeres Fließen zwischen den beiden, sie machten den Einkaufsbummel gemeinsam, als wenn das das Natürlichste von der Welt wäre, schritten durch die teuersten Etablissements und verzogen dabei nicht einmal ein Augenlid vor Belustigung über die Angebote in den Schaufenstern. Sie nahmen einander wahr und schauten sich gemeinsam die Auslagen an. Das Ganze endete bei ihr zu Haus, und zwar schon bald in ihrem Bett, worin Hin- und Rückfahrt so lang wiederholt wurden, bis von unten, aus dem Erdgeschoss des Refugiums, das sie bewohnte, ein Gong scholl. Man bat zum Dinner. Wir befanden uns zwar nicht in Villa Hügel, aber immerhin in der Schmachtenberger Straße nicht weit davon. Der Südrand von Essen bietet an den Waldklippen, die zum Baldenaysee runterschaun, auch noch recht herrschaftlichen Anlagen Raum. Unsere beiden Liebsten konnten während des Abendessens mit ihren Großeltern (Sophies Eltern waren auf den Kanarischen Inseln) kaum das Verlangen unterdrücken, so bald wie möglich hinauszugehn in die Schatten der Bäume, ein bisschen rumzuschaun, was los war, denn es war Sommer; sie hatten sich verabredet, ihren Weg im privaten Schwimmbad zu beenden, in dem sie ganz würden allein sein können. Beim Dinner fragte der Großvater:
"Was für einen dynamischen jungen Herrn haben wir denn heute zu Besuch?!" – "Das ist Gennadi." – "So, ein Russe?!" – "Bist du ein Russe?" – "Nein, ich, äh... is schon recht." – "Hier, langen Sie zu, Sie haben`s verdient." – "Hast du das verdient?" – "Ach ja, doch, glaub schon..." – "Ja ja, die Jugend von heute." – "Schlimm, was, Hans?" – "Gennadi, lass dich von denen bloß nicht verrückt machen..." – "Ne ne, geht schon in Ordnung." – "Was habt ihr beiden heute abend noch vor?" – "Oooch..." – "Hm?" – "Ja..." – "Doch..." – "Was ist eigentlich Ihr Beruf, Gennadi?" – "Ich... äh... drücke noch die Schulbank." – "Und Sie leben in Hamburg?!" – "Ja – ich bin hier bloß auf Durchreise." – "Wer führt denn die Firma?" – "Parnberger, mein Onkel." – "Kenn ich. Was machen die?" – "Plastikteile." – "Plastikteile..." – (Pause.) – "Sophiechen, ich glaub, wir gehn jetzt." – "Gennadi! Nur noch dieses Brötchen." – "Verfressenes Ding." – "Ich bitte dich!" – "Du kannst mich gern bitten." – (Süßes Grinsen.) – "Wie lange sind Sie noch im Ruhrgebiet, Gennadi?" – "Einige Monate." – "Einige Monate?????!!!!!" – "Gennadi..." – "Was machen Sie hier?!" – "Verkaufen." – "Vier Monate verkaufen. Acht Monate verkaufen. Und die Schule?" – "Kann auch aus der Ferne absolviert werden." – "So, der Herr studiert fern, äh, schult fern... gut, gut, gut..." Sophie hatte Müh, das Brötchen mit Servelatwurst, das sie sich grade in den Mund gesteckt hatte, nicht auf dem halben Tisch herumzublasen. "Ge-... Gennadi, komm, wir..." – "Schönes Hüttchen hier, übrigens, Herr Egon." – "Sagt mal, braucht ihr noch Handtücher für das Bad?" – "Handtücher? " – "Oh ja, doch, gebt uns mal zwei – oder drei." – "Oder vier." – "Oder fünf." – "Geht ihr einfach schon mal vor, ich leg` sie euch nachher drüben hin." – "Danke!" – "Gennadi..." – "So, jetzt macht aber mal, dass ihr fortkommt! Ha ha!"
Als die beiden draußen waren, sprachen die Alten miteinander.
Herr Egon: "Ja ja."
Frau Egon: "Ne, also... Verkaaaufen will der Mann hier!"
Herr Egon: "Is schon recht."
Frau Egon: "Du liebe Neune, ich weeß nich..."
Herr Egon: "Äh-hm..."
Frau Egon: "Können die nich mal irjentwo watt mit Fiff machen?"
Herr Egon: "Is nich mehr drin."
Frau Egon: "Nee, nee."
Herr Egon: "Datt sind allet bloß noch Zwitter heute."
Frau Egon: "Du sachest es."
Herr Egon: "Datt is wie bei ´n Wowereit. Allet bloße Kockolores."
Frau Egon: "Verwahrlosung nennich datt."
Herr Egon: "Gib mal."
Frau Egon: "Watt? ´m Aschenbecher?"
Herr Egon (bestätigt mimisch)
Frau Egon: "Watt kommt denn heute in ´et Te-Vau?"
Herr Egon (schmaucht vor sich hin)
Frau Egon (studiert das Fernsehprogramm)
Herr Egon: "Watt gibbett denn, Eva?"
Frau Egon: "Kall der Jrooße!"
Herr Egon: "Watt, en Spielfilm?"
Frau Egon: "Jupp, en Spielfilm."
Herr Egon: "Watt schreiben se denn über ´m Kall ´m Jrooßen?"
Frau Egon (dreht die Fernsehzeitschrift um und legt sie ihrem Mann vor die Nase)
Herr Egon: "Wo?"
Frau Egon: "Da."
Herr Egon: "Kall der Jrooße. - ´Der mittelalterliche...` - der Mittelalterliche! Datt is juut! ´Der mittelalterliche...` Hä, hä. ´...Patriarch einichte Europa.` Ey, is doch – äh – ´super`! Wann kommt´n datt?"
Frau Egon: "Um zwanzich Uhr fümfzehn."
Herr Egon: "Ou."
Frau Egon: "So. Ick muss die anmutiche Juchend de Handtüchers bringen."
Herr Egon: "Mach datt, Eva."
Frau Egon (verlässt den Raum)
Herr Egon (geht ans Fenster)
(Pause.)
Frau Egon (kommt zurück) "Allet in Ordnung. Er tut sich an unsere Enkelin gütlich."
Herr Egon: "Jetz schon?"
Frau Egon: "Frag nich so dreist, Hans!"
Herr Egon: "Haste watt jesehn?"
Frau Egon: "Allet habbich jesehn. De heutiche Juchend hat doch gar keen Schamgefühl nich mehr."
Herr Egon: "Un?"
Frau Egon: "Mei, Hans... Watt sollich ´n da saachn."
Herr Egon: "Genier dir nich..."
Frau Egon: "Ne. Datt geht nich."
Herr Egon (starrt aus dem Fenster)
Frau Egon: "Icke kommen jrade an ´em Fenster, da isset schon..."
Herr Egon: "Ja?"
Frau Egon: "Volle Kanne, nech..."
Herr Egon: "Wann kommt ´n datt mit ´n Kall ´n Jrooßen?"
Frau Egon: "Datt läuft schon zehn Minuten."
Herr Egon: "Schalt ma an."
Frau Egon (schaltet den Fernseher an)
Fernseher: "...gegen die Sachsen trat er durch seine einigende Kraft als Monarch und Integrationsfigur in Erscheinung. Die Krönung zum Kaiser des Römischen Reiches im Jahre 800 in Rom..."
Frau Egon: "So is datt also jewesen!"
Herr Egon: "So is datt jewesen, Eva."
Frau Egon (schaltet den Fernseher wieder aus) "Sach ma, dieser – wie heeßt er jetz noch?"
Herr Egon: "Genna-... Gennadi!"
Frau Egon: "Der hat aber auch ganz schön datt Königliche, watt?"
Herr Egon: "Datt hadder. – Datt hadder."
Frau Egon: "Jloobste nich, da könnt watt sein..."
Herr Egon: "Da könnt watt sein, Eva." (Starrt zum Fenster raus)
(Das Telefon klingelt.)
Frau Egon (nimmt ab) "Egon? – Ja, hallo! - Moment... ähm... Ick jloobe... Se is jrade schwimmen! – Nich, dattich wüsste... - Ja! – Nee... - Ja! – Ja! – Gut! – Ja! – Also denn, tschüss! – Ja! – Ja! – Tschüss!"
Herr Egon: "Wer war datt denn?"
Frau Egon: "Datt war Jochen!"
Herr Egon: "Ou! Schei-... - de."