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Kalt wie Eis
von Vernon Berridge
"Nun mach schon, Opa!" herrschte Frank den alten Juwelier mit dem spärlichen grauen Haarkranz an, dessen leberfleckige Hände vor Aufregung zitterten, als er die Vitrine mit den wertvollen Halsbändern und Diademen öffnete. Der Mann war kleiner als Frank, und Frank konnte ihm auf die Halbglatze sehen, während der Ladeninhaber an dem Schloß der Glasvitrine herumfummelte. Auch seine Glatze war mit kleinen dunkelbraunen Leberflecken gesprenkelt, und eine einzelne eisgraue Haarlocke verlief von rechts hinten nach vorne links. Endlich hatte der Alte es geschafft, das Schloß zu öffnen. Jetzt verschob er die Glasplatte, und die blitzenden Pretiosen waren zum Greifen nah. Der Juwelier richtete sich auf und tastete nach der Haarlocke, die ihm in die Stirn gerutscht war. Er blickte in Franks Schimützengesicht mit den grob hineingeschnittenen Augenlöchern. Schwarz war Franks Schimütze mit einem blutroten Bommel, der aus einem Büschel roter Fransen bestand.
"Na also, Opa", frohlockte Frank. "Hastes ja doch noch hingekriegt, was?" Er hielt dem Juwelier einen kleinen blauen Rucksack hin. "So, nun pack den ganzen Salat mal schön in das Täschchen hier. Das schaffste doch wohl, oder?" Frank fuchtelte mit dem Lauf des .38er Revolvers herum, den er in der anderen Hand hielt.
"Natürlich", krächzte der alte Mann, wischte sich mit der Hand fahrig über das schweißnasse Gesicht und griff dann in die Vitrine hinein. Er holte die kostbaren Schmuckstücke heraus und verstaute sie sorgfältig und akribisch in Franks Rucksack. Als er fertig war, verschloß er den Rucksack säuberlich mit dem schmalen Lederriemen und schob den Rucksack vorsichtig zu Frank hin.
"Gut gemacht, Opa", sagte Frank und konnte ein freudiges Glucksen in seiner Stimme trotz Schimütze nicht verbergen. "Sag mal, mir is ja schon klar, daß das hier das Beste und Teuerste is, waste in deinem Laden hast, aber was schätzte ist der ganze Kram insgesamt wert?"
Der Juwelier blickte kurz auf, kniff die Augen zusammen und starrte dann konzentriert an die Decke. Er legte die rechte Hand an sein Kinn und rieb es mit dem Daumen. "Das Smaragd-Diadem, das Diamanthalsband", murmelte er vor sich hin, "dann noch die Einzelanfertigung mit den Rubinen..."
"Ja, was is nu, biste jetz im Nirwana, oder was?" blaffte Frank.
Der Alte sah die schwarze Schimütze vor ihm verwirrt an. Einen Moment lang schien er nicht zu wissen, wo er war oder was ihm passiert war. Dann aber klärte sich der Blick seiner wäßrigblauen Augen wieder.
"Sie müssen schon entschuldigen", sagte er, "aber ich mußte das ungefähr im Kopf ausrechnen."
"Und? Haste jetzt kopfgerechnet?"
"Ja, ich schätze, der reine Verkaufswert beläuft sich auf cirka 1,5 Millionen Dollar."
"Echt, machste auch keine Witze", sagte Frank atemlos. "1,5 Millionen?"
Dann fing er unter seiner Mütze gackernd an zu lachen. "Mann, alter Zausel! Ungefähr ein Drittel der Beutesumme zahlt mir mein Hehler cash aus! Macht lockere 500.000 Dollar für den guten alten Frank."
Frank biß sich unter seiner Mütze schmerzhaft auf die Lippe. Ein solch übler Fehler war ihm in seiner 28-jährigen Karriere noch nie unterlaufen.
"Ist das Ihr Name? Frank?" sagte der Juwelier.
"Ja, ist es", sagte Frank zornig und wackelte mit dem Lauf des Revolvers herum. "Aber es nützt dir nichts. Ist nämlich nur mein Vorname. Und Franks gibt's auch bei den Knackis reichlich. Damit können die Bullen nich viel anfangen. Sei bloß froh, daß ich nich meinen richtigen Namen ausgeplaudert habe. Sonst müßte ich dich leider umlegen."
Frank schwitzte jetzt stark unter seiner Mütze, trotz des klimatisierten Verkaufsraumes.
Außerdem hatte er einen höllischen Durst. Es fühlte sich an, als sei seine Kehle mit Schmirgelpapier ausgekleidet. Er hielt es einfach nicht mehr aus.
"Sag mal, Opa, son Überfall is ganz schön anstrengend. Kommt man ganz schön ins Schwitzen dabei. Kannst nich mal 'ne eiskalte Limo spendier'n. Und wenn ich kalt sag, mein ich auch kalt. Mit richtigen Eisstücken drin, capiche?"
Um seinem Vortrag mehr Bedeutung zu verleihen, wedelte Frank wieder mit dem Lauf seines Revolvers.
"Limonade hab ich hinten im Kühlschrank. Und Eis ist auch da", sagte der Juwelier. "Soll ich welches holen?"
"Nich so hastig mit den klapprigen Fohlen", sagte Frank, "ich komm schon mit. Muß dich doch im Auge behalten, Opa."
Frank folgte dem Juwelier durch einen mit einem dunkelgrünen Vorhang verhangenen Durchgang in den hinteren Teil des Gebäudes. Zur Linken befand sich eine kleine Küche mit einigen Sitzgelegenheiten. Über einem verschlissenen Ledersofa hing eine große Kuckucksuhr, deren Perpendikel leise vor sich hin tickte. Die gegenüberliegende Wand beherrschte ein riesiger eisblauer Kühlschrank, der ein bedrohliches Brummen ertönen ließ. Der Juwelier ging zu dem Kühlschrank und Frank folgte ihm auf dem Fuß, den Revolver im Anschlag. Das Brummen des Kühlschranks verstärkte sich. Es war nicht übermäßig laut, aber das Vibrieren des Kompressors war derart tief, umfassend und die Umgebung ergreifend, daß Frank das Gefühl hatte, das Vibrieren würde von dem Kühlschrank unmittelbar in seine Eingeweide übertragen. Von dem Kühlschrank schien etwas Bedrohliches auszugehen, was natürlich Unsinn war. Es war einfach ein Mordsungetüm von einem ziemlich alten Kühlschrank mit einem Mordskompressor.
Der Juwelier öffnete den Kühlschrank mit einem Ruck seines dünnen Arms, beugte sich vor, und aus dem Inneren des Kühlschranks ertönte seine brüchige Stimme wie die eines Verlorenen aus eisigem Grab.
"Was wollen Sie? Zitronen- oder Erdbeerlimonade?"
Frank entschied sich für Zitronenlimonade, und der Alte holte eine große Flasche hervor und stellte sie auf die Anrichte neben dem Kühlschrank. Aus dem Hängeschrank darüber kramte er einen großen Trinkpokal hervor.
"Schenken Sie sich doch schon ein", ermunterte er Frank, "die Limonade ist wirklich herrlich erfrischend und kalt."
Frank öffnete die Flasche und leerte Dreiviertel des Inhalts in den Trinkpokal.
"Vergessen Sie das Eis nicht. Ich will Eis! Viel Eis!"
"Natürlich", sagte der Alte, "sie bekommen soviel davon, wie Sie wollen."
Der Juwelier schloß den Kühlschrank - für einen Moment schien das Brummen zu verstummen - und schlug auf der Anrichte Eis aus einer Eiswürfelform. Die Eisstücke ließ er in Franks Trinkgefäß gleiten.
"Aaah, herrlich!" jauchzte Frank. Trotz seines unstillbaren Verlangens, wartete er einige Minuten, damit einiges von dem Eis schmelzen und seine ganze belebende Kühle in der Limonade entfalten konnte.
"Was taugt der ganze Plunder da in meinem Rucksack gegen so ein fantastisches Glas eisgekühlter Limonade an einem heißen Sommertag?"
"Nicht wahr", entgegnete der Juwelier. "Noch dazu, wenn man die ganze Zeit mit einer Schimütze über dem Gesicht herumläuft."
"Jaah", sagte Frank, "aber jetz isses soweit." Vorsichtig rollte er den unteren Teil seiner Mütze nach oben bis über seine Lippen. Dann stürzte er den Inhalt des Glases gierig in großen Schlucken die ausgedörrte Kehle hinunter. Frank fand, daß er nie etwas Besseres erlebt hatte. Kein Sex in seinem Leben hat je etwas von dieser totalen orgiastischen Erfüllung gehabt, die er jetzt verspürte.
"Aaaaaaaaaah", stöhnte er, leckte sich über die Lippen und stellte den Trinkpokal auf die Anrichte zurück. Kurz darauf entrang sich ihm ein gewaltiger Rülpser und mit ihm ging ein Gefühl totaler körperlicher Befriedigung einher.
Einige Zeit später - er konnte kaum schätzen, wie lange es gewesen sein mochte - mußte sich Frank auf die alte Ledercouch niedersinken lassen. Es verschwamm ihm vor den Augen. Die Konturen des Kühlschranks wurden unscharf. Der Kühlschrank, der weiter sein leises Brummen ertönen ließ, wechselte seine Farbe von Blau nach Grün und schien lebendig zu werden und auf Frank zutaumeln zu wollen. Offensichtlich wollte er ihn unter sich begraben.
"Mir is schlecht", ächzte Frank. Er hatte gar nicht bemerkt, daß er seinen Revolver auf das rissige Linoleum des Küchenbodens hatte fallen lassen, von wo ihn der alte Juwelier aufgeklaubt hatte.
"Das glaub' ich wohl, daß Ihnen schlecht ist", sagte der Juwelier, der sich jetzt mit Franks Revolver in der Hand vor Frank hinstellte. Frank versuchte den Alten zu fixieren. Er konnte die leberfleckige Silhouette seines Gesichtes in ungesunden Farben über sich schimmern sehen. Frank war speiübel und er hatte große, immer noch stärker werdende Schmerzen in der Brust, die ihn nach Luft japsen ließen.
"Die Eiswürfel, die Sie genossen haben, waren mit großen Mengen Digitoxin versetzt, ein wasserlösliches Gift, das aus den Blättern des roten Fingerhutes gewonnen wird. Wenn man wie ich schon drei Mal überfallen wurde, trifft man gewisse Vorkehrungen. Viele Kriminelle mit Kopfbedeckungen haben Durst, wissen Sie, vor allem im Hochsommer. - Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihren Rucksack behalte."