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Kalter Krieg

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17.12.2009
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Kalter Krieg

Piep. Vier Uhr dreissig. Und immer noch starrte er an die kahle Decke, welche eigentlich weiss war, von dem kleinen Bildschirm seinen Digitalweckers jedoch in ein bläuliches Licht getaucht wurde. Vier Uhr dreissig. Einerlei, Zeit spielte für ihn keine Rolle mehr.
Hörbar stiess er die Luft aus und setzte sich aufrecht an die Kante des Bettes. Sein Blick war gesenkt, wanderte langsam über Boden – Teppichfliessen – und blieb an seinen Beinen hängen. Normal waren sie, ein bisschen dürr, aber normal, mit ein wenig Haaren dran. Trotzdem war etwas an ihnen eigenartig. Eigenartig, dachte er, was mir plötzlich alles durch den Kopf geht.
Mit noch müden Händen griff er nach der bereits aufgeklappten Zigarettenschachtel neben seinem Wecker und angelte sich eine Zigarette heraus. Winston. Sein Zippo klickte eisern, als es aufschnappte und seine Flamme preisgab. Er zog an seiner Kippe, welche beim Einatmen für einen Augenblick aufglomm. Die Rauchschwaden tanzten im blauen Licht, bildeten Formen und erschufen verzerrte Bilder, bis diese sich im Raum verloren.
Das Rauchen tat ihm nicht gut. Husten. Er erhob sich von der Bettkante und steckte die Packung in seine Hosentasche, nachdem er mit einem kurzen Blick die Anzahl der übriggebliebenen Zigaretten überflog. Acht noch.
Er schlurfte in das nebenliegende Zimmer, mit der rechten Hand an der kahlen Wand abgestützt. Grinsend betrachtete er das Durcheinander von umgekippten, leeren Getränkeflaschen, wäschereifen Kleidern und Essgeschirr, welches auf den Abwasch wartete. Eine halbleere Bierflasche stand noch neben der ausgelegenen Couch. Er griff nach ihr und betrachtete sie ein weiteres Mal aus der Nähe. Halbleer.
Zittrig legte sich seine Hand um den Griff der Schiebetüre, welche zu dem kleinen Balkon führte. Ein kleiner Stoss nach links und schon umfing ihn die Kälte – doch das machte ihm nichts aus. Er war es gewohnt.
Ein letzter Zug an der Zigarette, ein letztes Aufbäumen der Glut, bis sie von der Dunkelheit erstickt wurde. Unbewusst lässig schnippte er den Stümmel über das Geländer des kleinen Betonausbaus. Er lächelte. Schnipp – und schon bist du weg; und im Grunde bleibt nicht einmal mehr ein Schatten, aber doch eine Geschichte – und das, dachte er, ist vielleicht sogar gut so. Es ist gut, wie es ist.
Er liess seine Finger über das Nylongeflecht des aufgestellten Liegestuhls gleiten und genoss das leichte Kitzeln auf der Haut. Dann plumpste er auf die kalte Oberfläche der Liege. Ein weiterer Schluck aus der Flasche folgte, eine erneute Erkenntnis der Verlassenheit, als das Bier kalt seinen Hals hinunterkroch. Er starrte in Dunkelheit. Verlassen in der Schwärze – das war er doch. Klar, er hatte Freunde, Kumpels aus der Kneipe oder sonst woher, mit denen er auch gerne einen heben ging; doch eigentlich, ja, eigentlich war er alleine, verlassen auf seinem Weg. Seinem Weg – ging er denn überhaupt auf einem? Vielleicht tu ich das ja gar nicht. Alle reden von beschrittenen Pfaden und dem Sinn des Lebens. Aber, was ist, wenn ich stehen geblieben bin? Wenn mein Sinn des Lebens sich darauf beschränkt, dem Leben einen Sinn zu geben? Müde schüttelte er seinen Kopf. Er hasste diese Hilflosigkeit.
Sein Blick schweifte über die schwach erhellte Strasse, bis zu den grauen Häuserblocks, die gegenüber lagen. Kalt und einsam grinste der Beton ihn an; weil sie sich in der selben Lage befanden, lediglich unter anderen Umständen. Scheiss Ding, ich bin doch kein Betonhaufen, dachte er verbissen, musste dann aber dennoch lachen. Na, vielleicht ja doch. Womöglich sind wir wirklich gleich.
Er starrte weiterhin ins Schwarze; als würde er nach etwas bestimmtem Ausschau halten. Aber es kam nichts. Es würde auch nie etwas kommen. Er musste sich mit dem schwachen Licht der Strassenlampen zufrieden geben, deren Licht die kalten Flocken mit Wärme tünchte. Der Schnee tanzte im Lichtkegel, tanzte einen wilden Tanz. Aber die Musik fehlte – und sie fehlt auch bei mir. Wäre ich ein Lautsprecher, man hätte mich auf null gedreht: meine Musik fehlt. Zu schade, eigentlich. Was wäre es wohl gewesen? Eine Oper? Oder einer dieser Collegerock-Tracks?
Er wusste es nicht. Er konnte nur vermuten, Fragen stellen und vergebens auf Antworten hoffen. Aber im Grunde genommen war er froh, auf den Fragen zu verharren. War es nicht besser zu fragen, ohne eine Antwort zu erhalten, anstelle von Antworten auf eine nie gestellte Frage zu haben? Vielleicht – noch ein Schluck aus der Flasche – vielleicht spielt das alles überhaupt keine Rolle. Nicht einmal, dass ich lebe. Und nicht einmal, dass ich sterbe, und das ist sicher.

Blendendes Licht zwang ihn dazu, den Kopf abzuwenden. Es war soweit: der göttliche Glanz? Die Erlösung?
Nein. Es war ein Auto, das um die Ecke gebogen kam, die Nebelscheinwerfer schnitten sich einen Weg durch das Dunkel. Das Schhhh, welches die Räder auf dem Asphalt machten, kam näher, der Einfallswinkel des Lichts änderte sich und liess seine Sicht allmählich zurückkehren. Autolicht. Es mochte verrückt klingen, doch hätte er sich für ein einzelnes Bild, das sein Leben beschreiben sollte, entscheiden müssen – es wäre ein Foto von den Lichtern der Strassen und Fahrzeugen in einer Wintersnacht gewesen. Das war für ihn zu Hause, nicht sein unordentliches Appartement. Das war, wofür er lebte. Und sterben würde. Er lachte. Autolichter; wie unromantisch. Aber so war es eben, sein Leben - so war er.
Die Rücklichter wurden immer kleiner und verschwanden dann. Sie gaben der Dunkelheit ihren Platz zurück. Wieder konnte der Schnee nur noch in den Lichtsäulen der Strassenlaternen zu sehen sein. Der Schnee, wie er Schicht für Schicht den alten bedeckte, ein endloses Spiel: Schnee auf Schnee. Ein blödes System. Das eine wird nur vom andern überdeckt, überdeckt und vergessen. So geht das heute doch überall zu – Schnee auf Schnee.
Kaltes Weiss, gefrorenes Nass. Und darunter lagen die Fragezeichen: vergraben. Verschüttet. Ob das alles jemals schmelzen wird? Und nochmals eine Frage, die in den Schnee fiel. Genau wie die nun leere Bierflasche; nach einem geschwungenen Bogen in der Luft versank sie wie ein Schiffswrack in der eisigen Kälte.
Er hatte ein wenig geschwitzt, und der Schweiss hatte seine Haut nass gemacht. Jede einzelne Pore seiner Haut spiegelte das matte Licht wieder, das darauf fiel. Er strich sich mit dem Unterarm über das Gesicht und musste sich dabei ertappen, dass sich auch eine salzige Träne unter den Schweiss gemischt hatte. Ach, scheisse! Es war ja nicht so, dass er in Selbstmitleid versinken würde. Nein, aber es gab Dinge, die waren auch für ihn zu viel – und das kann mir doch wirklich niemand übel nehmen. Das hier sind meine letzten Momente, und ich sitze dennoch hier, alleine. Das ist doch Mist, verdammt.
Leben – er hatte solch einen Durst, aber der Strom floss einfach nur an ihm vorbei. Trinken, einen Schluck noch, doch nun war es zu spät. Zu spät, noch mal neu anzufangen, bei null zu starten. Stattdessen würde er bei null enden. Nochmal verdammt.
Es war erschreckend, wie schnell alles ging. Vor nicht gerade langer Zeit hätte er noch von sich behaupten können, dem Tod stolz gegenüber zutreten und mit einem kämpferischen Lächeln auf den Lippen zu gehen. Aber jetzt, wo es darauf ankam, war er nichts weiter als ein Häufchen Elend, ein zum Tode Verurteilter. Er wartete. Ihm blieb nichts anderes übrig: er wartete. in seiner kalten, einsamen Zelle verharrte er – eingekerkert in seinem eigenen Ich. Und niemand kam ihn besuchen, kein einziger, der ihm in den letzten Augenblicken noch eine Hand darbot. Niemand kam durch den Schnee zu ihm gestapft.
Er blieb alleine, alleine in seinem Verlies, alleine in der Kälte. Es war schwer einzugestehen, doch mittlerweile war es auch in ihm kalt geworden. Das Blut kroch nur noch langsam durch seine Adern und er fühlte sich verlassener denn je. Er musste feststellen, dass er ein wenig zitterte, er spürte es an seinen Beinen, die er übereinander geschlagen hatte. Es ist kalt. Vielleicht geh’ ich doch lieber wieder rein. Aber vielleicht hatte er auch einfach nur Angst. Vor dem Ende. Angst vor dem Schnee. Es war ein kalter Krieg, der in ihm tobte. Eiszeit. Und er war kein Bergsteiger, wie all die anderen. Tiefseetaucher – das war er; der Protagonist seines ganz persönlichen Stückes.
Ein Film, der an Überlänge litt – und nun hat man ihn beschnitten, meinen Director’s Cut in einen beschissenen Kurzfilm verwandelt.
Dann löschten auch die Strassenlaternen aus. Dann war es dunkel. Und kalt. Und schnipp.

 

Er hatte ein wenig geschwitzt, und der Schweiss hatte seine Haut nass gemacht. Jede einzelne Pore seiner Haut spiegelte das matte Licht wieder, das darauf viel.

viel müsste, glaube ich, mit f geschrieben werden.

 

Hey Paul!

Das ist großartig! Schön, wie deine Sprache Bilder zeichnet, ob das jetzt die Dunkelheit ist vor dem Haus, die Betonklötze, die Kälte, die greifbar wirkt oder die Fragezeichen, die in den Schnee fallen ... erstarrt, unbeantwortet.

Und dein Protagonist, schräg, voller Selbstironie. Er hat mir gefallen. Er ist ja nicht dumm, und - nein, natürlich verliert er sich nicht in Selbstmitleid. Nur etwas, vielleicht. Aber er denkt nach und kommt zu dem Schluss, dass am Ende nichts ist, nur grauer Beton und Eis. Dass am Ende seine Dose leer sein wird und er, fast wie im Mythos, Durst haben wird am Ufer eines Flusses, aber nicht die Möglichkeit haben wird, zu trinken.

Schön auch, wie du das "Schnipp" durchziehst. Schnipp und weg, am Ende - und aus.

Vom Text her könnte, könnte man ein paar Dinge streichen. Vielleicht hab ich später mal Zeit, dir was rauszuschreiben.

Mir hat deine Geschichte außerordentlich gut gefallen. Willkommen hier bei uns. :)

yours

 

Ohai yours!

Es freut mich natürlich, dass dir meine Geschichte gefallen hat - zumal es auch meine erste in dieser Form ist.

Vom Text her könnte, könnte man ein paar Dinge streichen. Vielleicht hab ich später mal Zeit, dir was rauszuschreiben.

Absolut; ich gebe dir vollkommen recht. Allerdings hatte ich nach einigen Bearbeitungsgängen selbst das Gefühl, ich würde es doch bloss nur verschlimmbessern. Deshalb entschied ich mich dann einfach für das Hochladen der Geschichte - wenn Du mir aber einige Stellen zeigen könntest, welche man streichen oder verkürzen könnte, wäre ich dir sehr dankbar.

Danke für das Feedback, liebe Grüsse
Paul

 

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