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Kampf der Titanen
Irgendwas war heute anders. Die Straßenbahn hielt ungewöhnlich lange. Es schien, als gäbe es ein technisches Problem. Aber nichts davon. An der Vorder- und der Hintertür waren zwei wirklich sehr alte Damen, schwer bepackt mit Einkaufstüten, dabei, die Stufen der Straßenbahn zu erklimmen. Meine Chance! Ich musste mich nur noch entscheiden, rechts oder links, Vordertür oder Hintertür. Die Dame an der Hintertür schien mir irgendwie etwas hilfebedürftiger zu sein. Also , Hintertür.
Diverse starke Jünglinge sprangen auf, um den Damen den Aufstieg zu erleichtern. Ich wollte ihnen zuvor kommen, aber einer der Buben stieß mich brutal zur Seite, so dass ich auf dem Boden landete. Er beugte sich über mich und zischte: „Die gehört mir, verstanden!“ Als er mir dann noch sein Butterflymesser direkt vor die Nase hielt, sah ich ein, dass ich heute keine Stich machen konnte. Naja, vielleicht nächstes Mal.
Die Helfer hatten es sehr schwer, denn die beiden wollten sich um keinen Preis von ihren Einkaufstüten trennen. Sie wehrten sich heftig, da sie glaubten, die Jugend möchte sie ihrer schwer verdienten Nachmittagseinkäufe berauben. Unter Schlägen und Tritten versuchten es drei starke Helfer vorn und zwei hinten die Ladies in die Straßenbahn zu verfrachten. Nach fünf Minuten war es dann soweit. Die Damen betraten endlich die Straßenbahn. Die Fahrgäste applaudierten. Zu dumm, dass ausgerechnet nur in der Mitte der Straßenbahn ein Sitzplatz frei war. Plötzlich Stille. Die Schlacht war eröffnet.
Die beiden Damen musterten sich von oben bis unten. Ein verbaler Schlagabtausch folgte. Dann wieder Stille. Beide sahen sich an. Jeder wartete auf die Reaktion der anderen. Die Spannung war zum zerreißen. Ein einsamer Fahrgast spielte das Lied vom Tod auf seiner Mundharmonika. Die Helfer redeten auf die Damen ein und boten ihre Plätze an. Jedoch vergeblich. Die Konzentration lag einzig und allein auf den Platz in der Mitte, denn dieser hatte das begehrte Behindertenzeichen und war zudem noch beheizt.
Langsam aber unaufhaltsam setzte sich der blauhaarige Titan in Bewegung. Der grauhaarige tat ebenso. Die anfeuernden Rufe der restliche Fahrgäste stachelte die Ungetüme zusätzlich an. Nach dreißig Sekunden waren sie nur noch zwei Meter von einander entfernt. Der graue Titan holte zum Schlag aus. Weitere zehn Sekunden später ging auch der Blaue in Angriffshaltung. Batsch!
Der Graue verpasste dem Blauen eins mit der Alditüte. Der Blaue konterte mit Karstadt. Aber zu früh gefreut. Mit geschickten Ausweichbewegungen wehrte der Graue den Schlag ab und schwang seinerseits die Rewetüte, die mit einem lauten „Dschipp“ am Kopf des Blauen zerplatzte. In Windeseile nutze der Graue die Verwirrung des anderen aus und sammelte die herausgefallene Munition auf. Danach hagelte es Butter, Joghurt und Klosterfrau Melissengeist. Ein kräftiger Schlag mit der Biovitalflasche gab dem Blauen den Rest. Völlig erschöpft sank er zu Boden und fiel kopfüber in ein Häufchen aus Magerquarkbechern. Frenetischer Jubel und Hochrufe folgten. Hüte flogen in die Luft, und Blumen auf den Sieger. Hastig grabschte der graue Titan nach der Siegesbeute, verfrachtete sie in die noch intakte Alditüte und platzierte sich genüsslich auf den freien Sitz.
Der Straßenbahnfahrer verriegelte die Tür, und die Fahrt konnte weitergehen.