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Kanonenboot
KANONENBOOT
Warum es geschah, durch welch absonderliche, mir unbekannte Geschichte, aufgrund welches Missgeschickes, oder welcher böse Geist das Unglück vielleicht mit Absicht beschworen hatte, das vermag ich nicht zu sagen. Überhaupt, ob es einen solchen Geiste gibt, der die Geschicke lenkt, und welcher Natur er sei, das halte ich für Glauben, nicht für Wissen, und Glauben ist eine sehr persönliche Sache. Stellung beziehen darf ich dazu allemal, doch Ihnen, werter Hörer, meine Sicht der Dinge förmlich aufzudrängen und den Worten damit den Anstrich einer Mission zu geben, davor sollte ich mich hüten. Es geschah, das ist eine Tatsache, und diese sollte genügen:
Ein Büblein starb mit sieben Jahren.
Es war in den Wald gelaufen und nicht wieder gekommen und erst nach einem halben Tag fanden die Eltern das Kind unter einem alten Baum, der wie mit ihr verwachsen neben einer feuchten, moosigen Ruine stand. Die obersten Wurzeln des Baumes hätten die gichtigen Krallen eines sterbenden Riesen sein können, und zwischen diesen Krallen hatte der Jungen gelegen.
Mit tränennassen Gesichtern und dem schneeweißen Körper in den Armen kämpften sie sich durch die Winterkälte zum Arzt - irrsinnig, wie sie waren, in diesem Moment - in der Hoffnung, der Arzt könne ihren kleinen Jungen zurück ins Leben holen... zurück... zurück...
Zu den Eltern sagte der Arzt jedoch folgendes, nachdem er den Körper des Jungen untersucht hatte, wie man eben eine Leiche untersucht: "Monsieur Milleton, Madame Milleton."
"Herr Doktor..."
"Es tut mir Leid, Monsieur Milleton, aber es war nichts zu machen. Sie haben mir einen toten Jungen gebracht und vor dem Tod da versagt die Medizin."
Der untersetzte, schnauzbärtige Winzer Francois Milleton und Marie Milleton, seine zartgliedrige Frau, weinten bitterste Tränen über den Verlust und die Tränen des Weibes tropften auf die nackte Brust der kleinen Leiche, wo sie liegen blieben und erkalteten.
Am Tage darauf - denn es gab ungewöhnlich viele Begräbnisse in dieser Stadt, so dass man sich bemühte, alle möglichst schnell unter die Erde zu bringen um so dem ewigen Gevatter nicht ständig gegenüber zu stehen - da wurde das Büblein begraben. Und am Tage darauf war Weihnachten und so wie das Christuskind in seiner Krippe in Bethlehem unter einem leuchtenden Gestirn erwacht war, so erwachte das Büblein unter der Erde.
"Wo... wo bin ich? Dunkel ist es hier und gar nicht wohlig warm... wenn es auch nicht kalt ist, aber wohlig ist mir nicht," dachte das Büblein in seiner Kiste. "Seltsam, und ich liege ja auf Holz und..."
Lange Zeit lag das Kind so da und dachte nach, und wenn ich sage 'Lange Zeit', dann meine ich sechs Wochen oder mehr. Es verspürte keinen Hunger und keinen Durst und auch nicht das Bedürfnis, sich zu bewegen, herumzutollen, mit den Bauklötzen zu spielen oder zum Klettern in den Wald zu gehen. Es fragte sich nicht, wann es wieder die Sonne sehen würde und was es wohl zum nächsten Mittagessen gebe, ja, überhaupt war ihm die Zeit abhanden gekommen.
"Wenn ich jetzt... ja, würde ich meine Hand heben, vielleicht auch die Faust, und wenn ich ganz, ganz mutig bin, dann, aber nur dann, alle beide Fäuste, denn so tun es die Kapitäne großer Kanonenboote und das ist auch gut so!" dachte der Junge das eine Mal, und das andere Mal dachte er: "Knirschen, knirschen tut die Welt, sie knirscht und wispert wie eine Kajüte im Kanonenboot!"
Und mit der Welt knirschte das spröde Holz der Kiste in der feuchten Erde.
Das Antlitz des Jungen vermoderte von Tag zu Tag, die Würmer kamen bald und fraßen seine Augen und seine Lippen und nur die Haare wuchsen weiter und die Fingernägel. Die einstmals warmen, zarten Händchen wurden zu knochigen Klauen, deren Nägel schon bald mit dem Boden der Kiste verwuchsen, so wie ein alter Baum mit einer Ruine verwächst. Wurzeln hingen aus dem Deckel herunter und leckten nach den Verwesungssäften, während der Junge - er war halt so - nicht aufhören konnte zu denken:
"Links und rechts und links und rechts... Die Malaria hat unsere Männer sterben lassen! In den Tropen ist es die Malaria. Links und rechts und links und rechts... Sie hat ein ganzes Dutzend erwischt, die Spanier haben acht erwischt, aber wir haben dreiundzwanzig Kerben in unseren Musketen, eine für jeden... Links und rechts und links und rechts... Die Spanier haben uns überrascht, aber was haben wir nicht, wie echte Männer, und das, trotz der Malaria. Links und rechts und links und rechts und..."
Wieder ist es Weihnachten, der Schnee fällt in großen Flocken, begräbt die Gräber auf dem Friedhof, knirscht unter den Stiefeln der Angehörigen wie die Särge unter der Erde... und ein ganzes Jahr ist vergangen, seit das Büblein gestorben ist.
"...links und rechts und links und rechts... meine Machete teilt das Gestrüpp ...links und rechts und links und... vor mir liegt das Meer! Endlich!" In seinen Gedanken wirft der Junge, der in seinen Gedanken kein Junge mehr ist, die Machete in den heißen Sand. Eine breite Pazifikbrandung rauscht gegen ihn an, versickert, zieht sich zurück, rauscht von neuem heran. "Hhhhhhhhhmmmm, wie salzig! Die Luft!" Die Palmen wiegen sich im Wind, der von der See herüberweht, ein Wind, der dem Jungen, der in seinen Gedanken ein Mann ist, ohne dass er überhaupt eine Vorstellung davon hat, was es heißt, ein Mann zu sein, erfrischend und lebendig um den Körper weht. "Die Wellen!" Gewaltige Berge rollen heran, tanzende, weiße Spitzen balancierend, pompös, unangreifbar...
"Wie sie knistern!"
Und in der Kiste liegt ein kleines, menschliches Gerippe.