Kapitel 1 - Sybril
Die Welt hinter dem Spiegel
Ein kalter Raum, die Leute würden sagen, es wäre menschenunwürdig auch nur eine Stunde lang hier die Zeit zu verbringen - es sei denn in einem Krieg würde... vielleicht würden sie sich dann erweichen... halt! - Immer diese Sprünge.
Sybril versuchte ihre Augenlieder mit möglichst großer Schauspielkunst, bei gleichzeitig minimalstem gedanklichem Aufwand auf den Lehrer gerichtet zu lassen - scheinbar mit Erfolg. Von vorne erwuchs förmlich ein kirchlicher und choralähnlicher Singsang, den jeder Direktor Unterricht nannte. Um nicht ganz den Faden zu verlieren und um den aktuellen Stand zu überprüfen, horchte Sybril einmal kurz auf.
"Die Erde bezeichnen und kennen wir als ein verletzliches System mit vielen Facetten von verschiedenen, lebenswichtigen und lebensbedrohlichen Faktoren deren gemeinsame Reaktionen auf die Aktionen der Menschen Myriaden an vielfältigsten Problemen verursacht!"
Ja, sie wußte es bereits zuvor, aber Kontrolle war ja besser als... - Irgendwann bin ich hier heraus, dann kann ich endlich lernen was das Leben bedeutet... - vertrauen. Sybril kontrollierte ihren Gedankengang. Langsam gerät es außer Kontrolle, dachte sie bei sich. So denken Leute einfach nicht. Leute? Langsam verfolgte Sybril den Ursprung des Wortes und dessen Verankerung in ihrem Kopf. Es stammte von ihrer Mutter, einer wirklich rundum schönen Person mit nicht abstreitbarem Haushaltungsbedarf. Ihre Gedanken waren stets nach außen gerichtet und diese Eigenheit gab sie im Laufe der Erziehung ihrer Tochter weiter. Sybril hatte zwar nichts dagegen, wenn ihre Mutter sich stets bis zum äußersten aufpolierte und sich dann als stolze Ehefrau eines der größten... - Aber eigentlich...
"Sybril, kannst du mir die Antwort wirklich nicht sagen?"
Die Gestalt des Ökologieprofessors ragte scheinbar weit vor ihr auf. Seine Augenbrauen schienen während besonderer Erregung dessen Launenhaftigkeit wiederzuspiegeln und segelten auf Hochmast.
Halb in Gedanken versunken brachte Sybril ein verlegenes "Doch..." heraus.
"Und wie lautet sie?"
Die Augenbrauen befanden sich auf dem Weg nach unten, die Hitze des Erregungsgewitters war jedoch noch nicht ausgestanden. Der Stolz Sybrils ließ sie nicht auf die diversen Einflüsterungen hören, sie filterte nur aus den Antworten die mögliche Frage heraus und beantwortete sie selbst. Der Professor fing an, nervös mit den Fingern den Tisch vor ihm zu bearbeiten, was ein Zeichen dafür war, dass sein Gemüt begann sich durch irgendeine Belanglosigkeit wieder zu erhitzen.
">>Schweizerische Akademische Gesellschaft für Umweltforschung und Ökologie<< ist die richtige Entsprechung der Abkürzung >>SAGUF<<."
Augenblicklich - nach einem Augenzwinkern - sanken die Augenbrauen auf ihr angeborenes Normalniveau.
"Danke, Sybril. Sie müssen in naher Zukunft..."
Der Rest des höchstwarscheinlich tadelden Satzes ging in einer Flut von angefangenen Gedanken unter, die Sybril alle zum weiterdenken veranlassten. Sybril schnappte den erstbesten und fand heraus, dass es sich um den eben angefangenen handelte.
...Denker und Analysten des Landes ausgab. Die Leute waren immer ihr Maßstab für gut und böse, dick und dünn, groß und klein, reich und und und. Die Liste war unendlich, Sybril kannte sie und die Liste kannte Sybril, in Form eben ihrer Mutter. Sybril hatte wenig Freude an ihrem bisherigem Leben. Immer kam sie sich von der Bahn abgekommen... sozusagen viergleisig vor. Einerseits stand sie gewissermaßen gezwungen auf den ersten beiden. Auf der anderen, schattigen Seite ihres jungen Lebens betrachtete sie ein paar dunkler Schienen, die für sie als eine Art von Stabilisatoren wirkten. Nie wurde sie wirklich nüchtern - Mutters Form von Stabilität - sondern eher, ach, es war zu... anders. Sybril hörte auf sich auf solcherlei Dinge zu konzentrieren und schenkte den Platz ihrer Gedanken ihren Banknachbarinnen um wenigstens eine Weile abzuspannen. Der Rest des Tages verlief mit den üblichen Grübeleien und den gewohnten Gedankengängen. Nach einem längerem Gespräch vor dem Schulgebäude mit Freundinnen begab sich Sybril langsam und nachdenklich auf den Heimweg. Es handelte sich nur um zwei Kilometer auf einer gut ausgebauten Straße, ein Kinderspiel mit ihrem neuen Moped. Sie hatte es als Geburtstagsgeschenk von ihren Eltern erhalten, war aber nicht unbedingt mit Stolz erfüllt es zu fahren. Irgendwie behagte es ihr nicht, doch Sybril konnte den Grund hierfür bisher niemals herausfinden. So schlich ihr Moped auf dem Straßenrand dahin, kontinuierlich mit 25 Kilometer pro Stunde. Sybril liebte hohe Geschwindigkeiten, ja, sehr sogar, aber ihr waren diese Geschwindigkeiten auf einem Pferd milliardenfach lieber als auf einem - sie nannte es natürlich nur in Gedanken so - Motordrachen.
Daheim angekommen, winkt sie kurz ihrer kleineren Schwester zu, die schon früher nach Hause gekommen war, und nun den Rest des Tages warscheinlich ihre Mathematikhausaufgaben machte. Darniela war niemals gut in diesem Fach gewesen, entgegen der Überzeugung ihres Vaters. Komisch eigentlich, dass Vater uns beiden ein >>r<< in den Namen gegeben hat, zwar passend, aber dennoch seltsam anmutend. - War - halt... oh, es stimmt doch... - ...er doch wirklich überzeugt, dass seine kleine Tochter eines Tages seinen Platz einnehmen könnte... - verflucht, ich hasse diese Sprünge, bleib doch auf einem Gleis Sybril, bleib auf einem! - ... und diese kleine Göre konnte kaum rechnen. - Sybril, es wird bedenklich, meldete sich wieder die mütterliche Schiene zu Wort. Sybril hielt an in ihren Gedanken und versuchte etwas aus der Situation zu machen. Schließlich entschied sie sich für einen kleinen ruhigen Gedankengang, er lautete >>Motordrache in die Garage stellen und essen gehen.<<
Sybril folgte und stellte mit routinierter Bewegung den Motordrachen in die Garage.
Nachdem sie etwas gegessen hatte erstieg sie die Treppen hinauf zum Dachboden und verkroch sich in einen weit vom Haus entfernten Ort, der hinter einem Spiegel lag. Sybril fühlte sich hinter diesem Spiegel äußerst wohl.
Es war ihr liebster und geheimster Ort hin Haus und sie wäre hier, gleich an dieser Stelle am liebsten kurz eingeschlafen und hätte geträumt, von weit entferten Gebirgen und einer Schlucht, so tief wie ein Gott.
Sie wollte es, konnte jedoch nicht.
Mit ihren Augen starrte sie zur Decke und ließ Bilder durch ihren Kopf gehen, gab ihren anderen Gedanken freien Raum und konzentrierte sich darauf was sie zu sagen hatten.
Es waren dunkle Gedanken, düster und erschreckend, aber auch anziehend und äußerst verlockend. In ihr stieg ein Bild auf.
Es zeigte das Gesicht einer Frau, in ihren perfekt geformten Zügen konnte sie ein diabolisches Grinsen entdecken, das Gesicht an sich war bereits teuflisch. Es mutete wirklich perfekt an, doch in dieser Einheit lag ein Zwang. Der Stimme des Gesichtes mußte man gehorchen, man schenkte ihm auch sein eigenes Blut, sollte es dies fordern.
Sybril starrte weit entfernt auf diese Frau, konnte den Blick nicht abwenden und geriet immer mehr in die Fänge der Lügen dieser wundervollen Augen. Diese Augen waren dazu gemacht mit dem Blick eines Adlers auch das entfernteste wahrzunehmen und zu vernichten was sich nicht vor diesem Angesicht beugte. Und nun waren sie auf Sybril gerichtet, rissen die tiefsten Wunden in ihrem Herzen auf, saugten das hervorströmende Blut und Gefühl an und stärkten sich an ihnen.
Innerlich schrie Sybril auf und ihre Seele stellte sich dem Kampf.
Langsam... Zentimeter für Zentimeter, alle Willenskraft aufbietend, schob Sybril das Bild weit von sich, stellte es in Gedanken an den entferntesten vorstellbaren Winkel um es nie wieder zu erblicken, nicht wieder diesem Zwang ausgeliefert zu sein.
Im letzten Moment jedoch, kurz bevor ihr das gelungen wäre, hörte sie den Spiegel neben sich zersplittern und Millionen der Spiegelteile auf sie niederprasseln, feine Wunden auf ihrem Gesicht und allen freien Körperstellen hinterlassend.
Verdammt.
Mehr konnte Sybril nicht hervorbringen, als die Augen der mysteriösen Frau wieder auf sie gerichtet waren, anbetungswürdig und furchtbar, grausam und dennoch von überirdischer Schönheit.
Im selben Moment, als ihre Gedanken diesen Gang aufleuchten ließen, wurden sie angesaugt, von einem blendend grellen und sich ständig veränderndem Licht. Sybril schloß instinktiv die Augen und schrie auf. Irgend etwas warmes zischte kurz und floß an ihr vorbei, es kam ihr so vor, als würden Punkte, schwarze Flecken über ihre Augenlieder kriechen. Sie schrie wieder und wieder auf, wagte jedoch nicht die Augen zu öffnen, und gewann das Gefühl, irgendwohin zu fließen.
Schließlich jedoch vereinheitlichte sich die Quelle des Lichts zu einem Punkt ihres Augenlieds.
Sybril bewegte ihren Schmerzenden Kopf mit Unbehagen um den sich einbrennenden Punkt außerhalb ihres Gesichtsfeldes verschwinden zu lassen. Sie öffnete ein Auge und versuchte ihre Pupille auf die Außenwelt einzustellen. Irgend etwas engte ihren Körper beginnend dem Bauch bis zu ihren Zehen extrem ein und das Atmen fiel ihr schwer. Um sie herum schien sich irgend etwas abzuspielen und sie hörte leise ein grabendes Geräusch. Der Versuch ihr Auge zu öffnen schlug fehl, denn sie fühlte sich unendlich müde, stattdessen schlief Sybril ein, sie träumte von weit entfernten Gebirgen und einer Schlucht, so tief wie ein Gott...
Stunden oder Monate nachdem sie eingeschlafen war, erwachte sie wieder. Sie öffnete ihre Augen wie gewohnt, um sich fertig für die Schule zu machen und blickte direkt in eine sich stetig verformende Gestalt. Diese jedoch stand und veränderte sich nur, eine sich ständig reorganisierende Figur. Sybril schaute nun nach unten und stellte fest, dass sie bis zum Bauch im Erdboden steckte. Keine Spur eines Bettes oder eines Gewohnten Dinges in der Nähe machte sie darauf aufmerksam, dass sie sich eigentlich in ihrem Schlafzimmer befinden mußte, denn keiner konnte von einem Moment auf den anderen im Boden stecken, ohne vorher gefrühstückt zu haben oder zumindest sein Gesicht geschminkt zu haben. Sybril erhielt einen Schock, als ihr Lebenszug auf die dunklen Schienen sprang und die Mutterschienen an der nächsten Abzweigung hinter sich ließ. Der Ort hier kam ihr bekannt vor, so bekannt wie, wie einem Chinesen die chinesische Mauer vorkam, nachdem er sein Leben lang im Chinaviertel von Hamburg gelebt hatte. Diese Landschaft war es, durch die die dunklen Schienen führten.
In ihrem Gehirn machte sich jedoch der Gedanke breit, dass ihre Füße auch auf anderen Schienen immer noch auf den Erdboden gehörten, nicht in diesen hinein. Sybril sah nochmals nach unten und einige Momente danach schallte ein gellender Schrei über die seltsam geformte Umgebung.
Nun erst wurde ihr bewußt, welchen Verlust sie hinnehmen mußte und tat hierauf das einzige, was sie im Moment tun wollte - sie heulte. Eigentlich war dieses Vorkommnis die Erschütterung eines Universums in ihr, doch im Laufe der Universen galt ein solches Ereignis nicht mehr als ein Steinchen welches zu Boden fällt um sogleich wieder in die Höhe geworfen zu werden. Sybril vergaß ihre Erziehung, in einer solchen Umgebung war sie schlicht gesagt nutzlos. Sie fasste einen Entschluß welcher mehr wog als sie Anfangs auch nur in den Ansätzen ahnen hätte können, doch half er ihr sich wieder zu finden.
Langsam und verbissen begann sie damit sich auszugraben.
Auf dem Weg ihrer grabenden Hände nach unten in den Erdboden bemerkte sie eine Art Spiegelsplitter der, als sie ihn hochgehoben hatte und gleich darauf fallen lassen wollte, in der Luft hing. Er schwebte ungefähr auf Höhe ihres Ellenbogens. Sybril überlegte jedoch nicht lange, sondern ergriff ihn und versuchte mit Hilfe des Splitters das Erdreich aufzugraben. Dieser fühlte sich zwar seltsam an, warm und fluktuierend, dachte Sybril, doch in einer Situation in der man mit der Hälfte des Körpers im Erdboden steckt, denkt man nicht mehr äußerst viel über den Sinn eines Spiegelsplitters der in der Luft hängen bleibt nach.
Die Erde gab erstaunlich leicht nach wenn der Splitter in seiner Nähe war, und es war ein leichtes, ihn in diesem Zustand auf die Seite zu werfen. Nach Sonnenaufgang war Sybril nun soweit, dass sie ihre Knöchel bewegen und aus dem Loch hieven konnte. Nun stellte sie eine weitere Tatsache fest, die ihr der Schock für diesen Moment aufbewahrt hatte. Sybril trug keine Kleidung mehr.
Nun machte das Schicksal sie mit dieser bemerkenswerten Tatsache vertraut, indem es die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkte. Extrem langsam begann das Loch vor ihr Zuwachs zu erhalten, Zuwachs in Form eines weiteren Loches, durch das sich nun langsam eine Lebensform schlängelte. Sybril vermutete Zumindest, dass es eine Lebensform darstellte, denn es bewegte sich. So ergriff sie nun den Spiegel und rannte so weit als in kurzer Zeit möglich, von diesem Ort fort. In der Ferne hinter ihr gewahrte sie ein ohrenbetäubendes Brüllen, dem das Aufflackern einer grünen Flamme folgte. Kurz darauf folgte ein Art trampeln, das sich rasant ihrem Aufenthaltsort näherte. Zwei kleine Supernoven stürmten auf sie zu, zerteilten sich, vereinten sich wieder und vollführten einen Tanz rund um die relativ hilflos wirkende Gestalt die durch dieses Ereignis nun wieder ein Stück weiter in die Ereignisse dieser Welt hereingesogen wurde.
Immer wieder und wieder kamen die beiden Geschöpfe näher und entfernten sich wieder... sie erschinen Sybril wie Augen, doch sahen sie eher aus wie kleine Sonnen die im selben Moment auf die Größe einer Erbse geschrumpft schienen. Insgesamt waren sie ungefähr so groß wie Sybril, zumindest schien der Radius des Lichtes diese Größe zuzulassen.
Geblendet versuchte Sybril sich immer wieder abzuwenden, wagte aber aus Angst nicht die Augen zu schließen.
Dies währte bis sie, anscheinend gelangweilt, sich abwendeten und ihren Weg entlang von seltsam anmutenden Bäumen fanden. Nun, dachte Sybril sarkastisch, warscheinlich kann hier ein Tag gar nicht besser Anfangen...
Sie schaute in die Richtung in der die beiden kleinen Sonnen verschwunden waren und kurz auch in die Richtung von der sie meinte gekommen zu sein und hoffte, diese Art von Lebewesen nie mehr zu Gesicht bekommen zu müssen.
Sybril bliebt stehen und verschnaufte. Langsam zog sie Bilanz über das, was sie in der letzten Zeit gesehen hatte und kam zum Schluß, dass es besser wäre einfach abzuwarten und die Gegend zu erkunden. Schließlich hatte sie nicht die Spur einer Ahnung wo sie sich befinden könnte. Und irgendwie ließ das Gefühl sie nicht los, sie wäre in einem gewaltigem Traum und läge noch immer auf einem Dachboden, ihr Körper wartete auf sie. Aus irgend einem Grund hatte sie absolut nichts mit den Ereignissen um sich zu tun und registrierte sie nur, ihr Körper und das Gehirn arbeiteten sogar, doch ihr Geist war völlig unberührt, jungfräulich einfach neu in etwas hineingeboren das ihr niemals etwas anhaben könnte.
Langsam richtete sie ihren Blick auf und betrachtete die Umgebung. Um sie herum standen vereinzelt bis in weit entfernte Höhen hinanreichende Gebilde. Eben eines dieser hatte Sybril zu Anfang bereits gesehen, kurz nachdem sie erwacht war. Jedoch war ihr etwas zu wenig Zeit oder auch Raum in den Gedanken geblieben sie zu beobachten und herauszufinden was sie sein könnten.
Sie? Ja, sie.... Langsam versanken Sybrils Knöchel in ihnen. Sybril konnte jedoch nicht ausmachen woher diese plötzliche Flut stammen könnte. Es schien wie ein einziges Lebewesen, jedoch in mannigfaltiger ausführung.... und überall um sie herum, bald bedeckten sie ihren gesamten Körper, schienen allerdings nur daran interessiert so schnell als nur möglich zum Erdboden zu gelangen und ein sanftes Kribbeln durchzog ihr Wesen bis zu den tiefsten Regionen ihrer Emotionen.
Die Masse zog sich langsam zurück und die Schichte auf dem Boden wurde immer dünner, verschwand jedoch nicht ganz sondern hinterließ einen hauchdünnen durchsichtigen Film der hier und da aufblitzte wenn die Sonne sich auf ihr spiegelte.
Sybril ging langsam und bedächtig einen Schritt nach vorne. Nachdem sie festgestellt hatte, dass man nicht auf den Lebewesen ausglitt, setzte sie ihren Weg fort.
In ihrem Kopf war die gesamte Zeit über immer eine Melodie erklungen, niemals dieselbe Melodie, aber immer das gleiche Thema. Zu diesem Augenblick, als sie diese Melodie erstmals richtig wahrnahm, fragte sie sich, woher diese eigentlich stamme. Nirgends in der näheren Umgebung konnte sie mit absoluter Sicherheit sagen, dass nicht ein musizierendes Lebeswesen vorhanden gewesen wäre. Wo immer sie auch sich befinden mochte, Vögel dürfte es überall geben. Langsam stieg die Musik in ihrem Kopf in immer größere und weiter aus sich heraus spektralisierte Dimensionen auf, folgte dem Lauf der Sonne, spiegelte das erneute Wachstum der "Bäume" um sie herum und malte die Landschaft Tausender ähnlicher Orte in ihren Geist.
Sybril konnte und wollte die Musik nicht fassen, denn sie war einfach herzzereissend, aus ihrem tiefsten Inneren erklang sie und wollte nicht enden, wobei sie jedoch die Töne um sich herum nicht minder wahrnahm. Es mochten Dimensionen sein die diese beiden Welten der Musik auseinanderhielten, doch passten sie in Wirklichkeit einfach perfekt ineinander, so als ob zwei Universen die ewig für sich allein existiert hätten, ineinander prallen würden, jedoch nur um festzustellen, dass sie in Wirklichkeit ineinander gehörten, so wie der Plan ihres Schöpfers von Anfang an ihnen zugedacht war.
Nach und nach kam es Syrbil vor, als ob sie jeden Augenblick wieder etwas neues Entdecken würde, immer anderes wie zerschlissene Vorhänge von ihren Augen geblasen würde. Und doch war das was sie dann erblickte ihr in gewisser Weise bereits bekannt und von ihr geliebt und gehasst, präemotionisiert (oder wie man sonst vorgefühlt auf irgend ner gestorbenen sprache ausdrückt) und vor allem hatte es bereits mehrere Rollen in irgend einem Leben gespielt.
Sie ließ den Blick, der sich immer weiter verklärte, langsam über die Landschaft schweifen, gewahrte in weiter Ferne unter anderem auch die beiden kleinen Noven die wie Augen eines Drachen sogar durch das Tageslicht stachen. Sie gewahrte die Sonne, die ihren niedrigen Kreis über die Welt zog und die Luft erhellte um das Leben zu erhalten. Ihr fiel auch das steile Gebirge auf, welches beinahe zum Himmel zu reichen schien und im, insofern die Himmelsrichtung in der die Sonne warscheinlich ihren Höchsten Stand erreichen würde Süden lag, Norden seinen Fuß fasste.
Vielleicht sah sie dieses Gebirge auch nicht, sondern dachte nur eines zu sehen, um die entsetzliche Entfernung nicht ertragen zu müssen die bis dorthin zu reichen schien, so weit konnt kein Traum reichen, eine solche Fülle würde ihre Phantasie sprengen, oder? Vielleicht war auch der Gedanke, dass ihre Phantasie springen müsste der einzige Ausweg um nicht den anderen Weg für ihre Seele bieten zu müssen.
Den Weg in diese neue Welt. In die Welt von der ihr die Musik erzählte, in eine Welt gewiss voll von Ungewissheit und voll von Gedanken die nicht in ihren aufregendsten Träumen real sein könnten.
Real war nun auch, dass sie plötzlich von etwas erfüllt wurde, dass sich urplötzlich genähert hatte und nun auch schon wieder zurückzog, ein Lufthauch in ihrem Geiste der alles in ihr ganz kurz aufsaugte und wieder geordnet zurückgab um etwas neues in ihr zu plazieren.
"In eine Welt mit dem Namen Niorsal" hörte sie plötzlich hinter sich.
Die Stimme sprach nicht in ihrer Sprache, das konnte sie erkennen. Und selbst für die Sprache in der sie sich ausdrückte hatte sie einen gewaltigen Dialekt. Doch Sybril machte sich nichts daraus und antwortete einfach in dieser neuen Sprache.
"Aber ich bin nicht hier, ich existiere nicht in dieser... in dieser Dimension. Ich existiere zu hause, wo auch immer das nun liegen mag!"
Nachdem sie nun diese Worte von sich gegeben hatte wusste Sybril, dass sie ihrer Seele den Weg hinaus gewiesen hatte, den Weg in die Freiheit, weg von den alten Zwängen in eine neue Facette des Daseins, in die Facette des Erlebens und nicht des erlebt werdens. Ihr Geist riß sich los von ihrem Körper um in dem nun offenen Mund ihres gegenübers einzudringen, sein Wesen auszufüllen und seine Gedanken aufzusaugen. Sie wusste, dass sie dies eigentlich niemals tun dürfte, dass sie eines der größten Gesetze brach, aber sie tat es, sie stieß dieses Gesetz mit Füßen um endlich zu erfahren was sie hier tat und warum.
Eben hatte sie ja von dem anderen erfahren wie man etwas derartiges bewerkstelligte.
In ihrem Kopf drehten sich von einem Moment zum anderen unmengen von Eindrücken und Erfahrungen, ganze Generationen von Erlebnissen und Erinnerungen, Ängste, Zweifel, Sorgen und Nöte, alles wollte sich vereinen und Sybril komplett einnehmen, doch sie verhinderte dies und ordnete dieses neue "Raubgut" in ihr Gehirn ein. Sie hatte gesiegt und mit gleichen Waffen zurückgeschlagen, sie hatte das Recht auf diese Handlung, oder?
"Deine Reaktion ist gut, zumindest dafür dass du aus einer Hinterwelt hierher gesaugt worden bist. Nun befindest du dich auf Niorsal und hast bereits dein Schicksal beschieden. Ich habe dich bereits zuvor beobachtet und mich dir genähert, doch du schienst keine Angst zu besitzen. Du hast die meine erhalten, und nun fordere ich den Preis dafür." Diese Worte sprach ihr Gegenüber äußerst ruhig aus, während er anschließend eine Bewegung mit etwas, was eine Hand sein musste machte. Schlagartig befanden sie sich an einem anderen Ort und die Musik Sybrils hörte an dieser Stelle zu existieren auf.