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Karnival
Karneval
Es ist für mich eine unangenehme Situation; ihr verschleierter Anblick hat mich gebändigt, lässt meine Augen immer wieder verstohlen zu ihr in der Dunkelheit gleiten, gleichzeitig jedoch empfinde ich einen starken Trotz in mir, der hevorbricht, wie eine dem Fluß entgegen drängende Welle. Sekunden, dann ist der Widerstand niedergedrückt. Alles drängt mich zu ihr; plötzlich ist eine Sehnsucht aus der Tiefe gestiegen, die alles voran treibt, die meine Füße Schritt für Schritt in Bewegung setzt. Die Unbekannte hat ihren Kopf zwischen den Knien vergraben und weint leise, fast unhörbar. Es ist so ein Augenblick, in dem ich die Kontrolle verliere. Taten, an deren Ausführung ich normalerweise nicht ansatzweise denke, geschehen mechanisch. Ich setze mich neben sie. Auf der nassen Straße spiegelt sich das Licht der Laternen, sodass der Asphalt sich wie ein glänzender Streifen Latex in den Horizont hinein schiebt. Vor dem Mond schweben einige Wolken; sein Leuchten verschwimmt in der Dunkelheit. Eine bewölkte sternenlose Nacht drückt auf mich hinab.
"Du fragst dich sicher, warum ich weine? So ist es doch... ein junges Mädchen, versunken, und scheinbar nur Zentimeter über der Tiefe. Warum sitzt eine Siebzehnjährige nachts ganz allein an der Bushaltestelle? Klar, für dich strahlt das auch eine gewisse Verführung aus. Sonst bekommst du eine solche Gelegenheit vermutlich nicht oft. Vielleicht versuchst du es gerade mit der alten Masche; diese einfühlsame liebevolle Tour. Aber wen kümmert es?" Als ich merke, wie lange ich sie schon ansehe, hole ich schnell tief Luft, entfliehe schließlich ihrem Anblick und wende meine Augen einer Cola-Dose zu, die mit blechernen Tönen die Bordsteinkante hinabrollt. Trotzdem steigt das Bild von ihren Augen in der Dunkelheit immer wieder zwischen Gedanken empor. Sie schlägt die Lider rasch auf und ab; die Wimpern sind wie bei einer Puppe gezupft. Irgendwo in der Iris glaube ich etwas erkannt zu haben. Dass ich zumindest für den Augenblick wirklich eine gemäßigte Besorgnis empfinde, scheint sie nicht wahrzunehmen und vergeht auch innerhalb von Sekunden wieder; daraufhin begreife ich, das die Besorgnis nicht wirklich war, das sie beabsichtigte Einbildung war.
"Es ist nun kaum mehr als eine Stunde her, da wir - ein Schulkamerad, dessen Bekannter und ich - zu dritt am Rand einer langen unbefahrenen Straße gingen, die sich in die Unendlichkeit zu dehnen schien. Die Wolken waren noch nicht ganz so dicht zusammengewachsen wie jetzt und es regnete in unregelmäßigen Intervallen kurz, dann fing das Blätterwerk der am Straßenrand gewucherten Eichen den Regen; die Tropfen glitten und bahnten sich ihren Weg durch die Krone hinab, und hinterließen ein Rascheln. Die Stimmung war zermürbend. Das ich mich betrunken hatte, bestätigte eigentlich nur, das der gesammte Abend auf etwas Bestimmtes, Unausgesprochenes hinauslief, ich wußte: es gab nur ein Ende für diesen Abend; sicherlich, da befand sich noch eine Distanz zwischen mir und den Jungen, die auch nicht schrumpfen, sondern sich vergrößern sollte, aber was letztendlich geschehen würde, war allen klar. Trotzdem empfand ich einen aufkeimenden Widerwillen, so eine Art plötzliche Bewegung in meiner Tiefe, welche aber verborgen blieb. Soll ich ehrlich sein? Wäre ich noch so nüchtern gewesen, der Abend hätte auf die selbe Weise geendet, nur offensichtlicher. Muss ich dir erzählen, wie ich mit ihnen aufs Feld hinausgehe, in die Bäume starre, welche wirken, als wollten sie zu mir sprechen, wie ich langsam in Richtung der Sterne aufsehe und daran denke, wie weit sie von mir entfernt sind..."
"Du hast dich nicht gewehrt?
"Ich brauchte nicht... es gibt Dinge, die offensichtlich sind, die sieht man einfach, schon allein, wenn man in ein Auge starrt. Ich hätte so viel mit den Armen schlagen können, wie ich wollte... sie hätten es trotzdem getan... ich weiß noch, wie einer von ihnen dabei aufsah, kurz vor Langeweile den Kopf wog und durch Zufall mir ins Gesicht starrte. Mitunter verzogen sich seine Augenbrauen prüfend, er biss sich zwei Mal auf die Unterlippe. Seine Pupillen wurden glasig und fad, wirkten, als würden sie in etwas Tieferes starren. Schließlich wendete er seinen Blick rasch ab."
"Was geschah, als sie fertig waren?"
"Sie verschwanden irgendwo in der Ferne; ich konnte sie noch einige Sekunden entlang einer Böschung lachen sehen, dann verhüllte Finsterniss ihre Anwesenheit. Am Himmel fügten sich nun die Wolken aneinander, nur die Hälfte des bleichen Mondes war zu sehen. Ich wurde in sein Licht getaucht, nackt, schließlich schlief ich ein..."
Stille. Erster Regen trommelt auf das Dach. Die Cola-Dose treibt nun in einer großen Pfütze, wird vom Wind an ihr Ufer getragen und bleibt dort liegen. Unter den schnellen Reifenbewegungen eines Autos spritzt Wasser auf. Langsam - damit es nicht hastig oder zwanghaft erscheint - lege ich meinen Arm um die Unbekannte und denke glücklich daran, was die Nacht noch bringen wird. Sie schmiegt sich an mich.