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Kartoffelpuffer kann ich nicht leiden ...
Die fünfjährige Corinna wohnte zusammen mit ihren Eltern in einem Mietshaus auf dem Lande. Zu damaliger Zeit - es waren die Sechziger Jahre - hatten die Dorfbewohner im Herbst Kartoffeln eingekellert. Auch eingekochtes Gemüse und Obst wurden dort gelagert. Diese Wintervorräte kamen in einen sogenannten Felsenkeller. Eine große Eichentür, gesichert mit einem eisernen Schloss, versperrte den Eingang. Die Wände waren schmutzig-braun, überzogen von einer Schmierschicht. Es roch nach Schimmel und war kalt.
Eines Abends wollte ihre Mutter Reibekuchen für das Abendessen zubereiten, wofür Corinna Kartoffeln holen sollte. Corinna mochte Kartoffelpuffer sehr gerne. Allerdings verging ihr jeglicher Appetit, wenn sie dafür in diesen angsteinflößenden Keller gehen sollte. Die Mutter ließ jedoch nicht locker, denn der Vater brauchte auch etwas Warmes, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.
“Warum muss denn ich in diesen blöden Felsenkeller gehen, kann das nicht ...?”
“Corinna, bitte ...!”, meinte ihre Mutter genervt, weil sie keine Lust hatte, schon wieder Diskussionen mit ihrer Tochter über das Für und Wider von Handlungen zu führen.
“Naja, wenn’s denn sein muss ...”, brummelte sie, wissend, dass die Mutter Auseinandersetzungen solcher Art gar nicht mochte, diese ganz schnell beendete, indem es Ohrfeigen hagelte.
Ihr Magen zog sich zusammen, als sie an die schaurig-feuchten Wände dachte; die undurchdringliche Dunkelheit. Geisterhaft tanzten dann immer der Lichtkegel der Taschenlampe an den Wänden entlang, wenn sie diese für einen Moment zur Seite legte, um Kartoffeln in den Eimer zu sammeln. Gespenstisch, als würden sie leben.
“Corinna, geh jetzt, Papa kommt bald nach Hause und das Essen muss dann fertig sein!”
“Mich ekelt’s aber vor dem Keller und außerdem rutsche ich dort immer aus. Den Eimer kann ich auch nicht richtig hinstellen, dazu ist er sehr schwer. Die Taschenlampe leuchtet so schwach, dass ich kaum Kartoffeln von Steinen unterscheiden kann. Der Schlüssel für das Eisenschloss lässt sich sehr schwer drehen und jedesmal klemme ich mir dabei den Finger ein. Es gibt dort Ratten und Mäuse, sogar ein Einhorn habe ich letztens gesehen.”
In ihrer Angst dramatisierte sie alles und erfand noch einiges, nur um nicht gehen zu müssen.
“Corinna, jetzt mach endlich, sind doch alles nur dumme Hirngespinste. Du kannst die Öllampe mitnehmen und vorne am Eingang aufhängen, damit wird der ganze Raum ausgeleuchtet.”
Auch die Vorstellung eines ausgeleuchteten Kellergewölbes konnte ihr die Angst nicht nehmen, die sie sogar bis in die Träume verfolgte. Darin kam jedes Mal eine große, schwarze Wand auf sie zu, und eine Hand, die sich auf ihre Schulter legte. Worauf sie erwachte. Als sie ihrer Mutter von diesen Träumen erzählt hatte, tat diese das mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und meinte: „Träume sind Schäume.“«
Mit Unbehagen ergab sie sich dennoch ihrem Schicksal, nahm eisernen Eimer, die Öllampe - die sie doch ein ganz klein wenig beruhigte - sowie den riesigen Schlüssel für das Vorhängeschloss und machte sich auf den Weg. Ein paar Meter die Straße entlang. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Ruhig war es. Allein das wirkte schon unheimlich. Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken und unwillkürlich lief sie schneller. Eine umherstreunende Katze huschte kurz vor ihr über den Weg.
Als sie die Einbuchtung erreichte, in welcher sich der Keller befand, die rutschigen Stufen vorsichtig abwärts ging, den eisernen Schlüssel griffbereit in der Hand haltend, fiel ihr ein, dass sie die Streichhölzer für die Petroleumlampe vergessen hatte. Die schwarze Wand aus ihren Träumen rollte sich augenblicklich vor ihren Augen auf - spürte förmlich die Hand auf der Schulter -, so dass sich ihre Angst verstärkte. Sie lauschte. Irgendwo flog schimpfend eine Amsel davon.
Ihr Wohnhaus leuchtete gespenstisch. Die Lichter hinter den zugezogenen Vorhängen spiegelten zwar Leben wider, dennoch verstärkte sich das undefinierbare Gefühl ausgeliefert zu sein - einer lauernden Gefahr. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Der ganze Körper schien zu pochen. Der Atem ging schneller, immer hastiger. Sich umzudrehen, wagte sie nicht. Wie Krallen legte sich diese Angst ähnlich einem Raubtier um sie, klammerte sich fest, schien sie zu erdrücken. In ihrer Panik ließ sie den Eisenkübel los, der polternd hinunterfiel; in der Stille der Nacht wie der Einschlag einer Bombe wirkte. Die Lampe hielt sie krampfhaft fest, wie um an ihr Halt zu suchen, einen Halt, der vielleicht auch eine Art Waffe sein konnte?
Nein, Reibekuchen wollte sie keine essen!, war ihr schneller Entschluss. Ohne weiter zu überlegen, rannte sie die glitschigen Stufen hinauf. Die Straße wirkte auf sie wie ein zaghafter, schwacher Strohhalm, den sie ergreifen konnte - ein Fluchtweg vor der Angst.
Schimpfend hörte sie erneut die Amsel, das registrierte sie, während sie zum Eingang der Wohnung zurückrannte, der separat in dem Wohnhaus angelegt war. Dort angelangt, wollte sie die Türklinke herunterdrücken, da legte jemand eine Hand auf ihre Schulter. Erschrocken fuhr sie zusammen und drehte sich abrupt um. Sah aber niemanden, nur finstere Nacht breitete sich aus und die Amsel zeterte.
Aus der Küche erklang Stimmengewirr und das Klappern von Schüsseln, sowie die Stimme der Nachbarin, welche mal wieder ihre Sorgen ausbreitete. Ihre Katze hatte Jungen bekommen, fing Corinna gerade noch auf, was sie weniger schlimm fand.
“Corinna”, hörte sie in diesem Moment die Mutter rufen, “stell den Eimer in die Spüle ...” Nun wurde es ihr ganz flau im Magen, weil sie keine Kartoffeln mitgebracht hatte. Die Angst hatte ihr jeglichen Mut genommen. Die Mutter würde ganz schön schimpfen.
“Mama”, sagte da Corinna kleinlaut, “ich habe keine Kartoffeln mitgebracht, ich ... ich ...”
Damit brach sie ab und stellte die Öllampe vor sich auf den Boden.
“Stell dir vor ...”, begann sie weiter zu erzählen und fing an zu schluchzen. Die Mutter war nun doch besorgt, unterbrach das Gespräch mit der Nachbarin, und wollte nachfragen. Da ertönte schallendes Gelächter aus der Ecke. Corinna hörte augenblicklich zu schluchzen auf, starrte ihn an - Tommy!
Sie war vollkommen perplex, als sie ihren Cousin erkannte, schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen.
“Hab ich dich ganz schön verarscht, gelle?”, meinte dieser und grinste von einem Ohr zum anderen. Derweil Corinna nun hellhörig wurde.
“Jetzt sag schon, was das Ganze soll und hör endlich auf so dämlich zu lachen, verstehe echt nicht, was es da zu lachen gibt ...”
“Hahaha ...”, kam es nun noch schallender aus der Ecke.
Corinnas Mutter fand die Situation nun dermaßen dumm, dass sie Klarheit haben wollte. “Also, Tommy, hör jetzt endlich auf zu lachen; da gibt’s nichts zu lachen, gar nichts ...”, sagte sie nun schärfer.
Er konnte es nicht länger bei sich behalten und prustete deshalb heraus: “Die hab ich ganz schön verarscht vorhin. Käseweiß ist sie gewesen ... Hahaha ...”
“Wieso?”, meinte Corinna entrüstet.
“Na, weil du nicht gemerkt hast, dass ich dir auf die Schulter getippt habe ... ganz schön dämlich!” Tommy konnte sich nicht mehr halten, fiel dabei fast vom Stuhl vor lachen.
“Was es da zu lachen gibt, möchte ich mal wissen? Jedenfalls gibt’s heut keine Kartoffelpuffer!”, meinte Corinna, sich augenblicklich zusammenreißend, damit Tommy nicht merken sollte, dass sein angeblicher Spaß bei ihr ein Volltreffer war. Einer, den sie sogar in ihren Träumen vorhergesehen hatte.
“Und außerdem kann ich Kartoffelpuffer sowieso nicht leiden ...”, fügte sie noch an. Tommy verging nun sein Grinsen, da ihm schlagartig bewußt wurde, dass es auch seine Lieblingsspeise war.