Kathrinchen
Als Papa gestern Abend nach Hause kam, freute ich mich. Ich spielte gerade mit meinem Puppen und er nahm mich in den Arm und drückte mich ganz fest, wie er das immer tut. Aber diesmal hat er ganz komisch aus dem Mund gerochen. Ich kicherte und sagte "Du riechst so komisch, Papa". Da wankte er einen Schritt zurück und wäre bald über unseren Wohnzimmertisch gestolpert. "Papa, du guckst ja ganz traurig", bemerkte ich da, "Ist etwas?" Doch da fing er schon wieder an zu lachen und sagte ganz leise: "Nein nein, Kathrinchen, es ist doch alles gut." Er drückte mich noch einmal, dann ging er zu Mama in die Küche und machte die Tür hinter sich zu. Komisch, er macht sonst nie die Tür zu. Die Luft im Wohnzimmer wird ja auch so schlecht, wenn die Tür zu ist.
Bald darauf kommen Stimmen aus der Küche. Mama und Papa reden miteinander. Etwas in der Küche klappert. Dann kommt Mama aus der Küche. Sie sagt, ich solle mal schnell runtergehen zu Frau Fischer und sie fragen, ob sie eine Dose Tomatenmark hat. Und ich soll ein bisschen mit Anna spielen. Anna ist die Tochter von Frau Fischer, aber ich mag sie eigentlich nicht. Aber weil Mama gerne möchte, dass ich runtergehe, gehe ich. Mama hat gelächelt, aber irgend etwas war komisch an ihrem Lächeln.
Zu den Fischers ist es nur eine Treppe runter, das ist total lustig, sie haben genau die Wohnung unter unserer, im fünften Stock. Frau Fischer kocht das Abendessen und ich spiele mit Anna Mensch-ärgere-dich-nicht. Anna gewinnt meistens. Aber nur, weil ich sie gewinnen lasse, sonst ist sie nämlich gemein zu mir. Auf einmal scheppert es oben und dann fällt etwas zu Boden. Frau Fischer guckt besorgt. Dann lacht sie wieder und sagt: "Deine Eltern haben sich sicher eine Menge zu erzählen, was?" Ich weiß nicht, was sie damit meint. Langsam will ich wieder nach oben. Was soll ich eigentlich so lange hier? Mama braucht doch sicher das Tomatenmark für das Abendessen.
Wieder scheppert oben etwas, lauter als davor und ich höre laute Stimmen. Das müssen meine Eltern sein, denke ich, und wundere mich, dass ich sie auch in der Wohnung von den Fischers hören kann. Ich verliere die Partie gegen Anna. Frau Fischer guckt besorgt und geht zum Fenster. Da fängt sie auf einmal an zu schreien. Hat sie etwas vor dem Fenster erschreckt? Aber Frau Fischer rennt ganz schnell aus ihrer Wohnung und die Treppe rauf zu unserer Wohnung. Anna und ich gucken uns an und laufen hinterher. Frau Fischer klopft laut an die Tür zu unserer Wohnung, aber keiner macht auf. Ich klopfe zusammen mit Frau Fischer und rufe "Mama, Papa, macht doch die Tür auf". Aber nichts rührt sich. Die Nachbarn kommen aus ihren Wohnungen und gucken erstaunt. Irgendjemand sagt, man solle Frau Weiskopf rufen. Frau Weiskopf wohnt ganz unten und hat einen Zweitschlüssel für alle Wohnungen, das habe ich mal gesehen.
Aber jemand ruft, dass Frau Weiskopf nach draußen gelaufen ist. Irgendetwas ist auf den Parkplatz vor unserem Haus gefallen. Wir klopfen weiter, aber wieder umsonst. Einer der Nachbarn unter uns sagt, er hat die Polizei gerufen. Warum machen Mama und Papa denn die Tür nicht auf?
Bald darauf hört man die Sirene von dem Polizeiwagen. Aber die Polizisten kommen nicht gleich zu uns herauf. Ich höre nur laute Rufe von unten, dann kommen zwei Polizisten plötzlich schnell die Treppe hinauf gerannt, hinter ihnen Frau Weiskopf, die unsere Wohnungstür aufschließt. Sie gehen in die Küche, ich höre Mama schreien und die beiden Polizisten laut "Zurück" rufen. Mama, was ist denn bloß los? Ich laufe in die Küche und sehe, wie meine Mutter vor dem Küchenfenster steht. Ihr Haar ist ganz zerzaust. Das Fenster ist offen. Wo ist Papa? Sie halten meine Mutter fest.
Ist etwas bei uns aus dem Fenster gefallen, frage ich Frau Weishaupt. "Nur ein Kochtopf", sagt sie und legt ihre Hand auf meinen Kopf. "Nur ein Kochtopf". Sie ist ganz weiß im Gesicht. Ich glaube, sie lügt.
Ein dritter Polizist kommt herein und bei ihm ist ein Mann, der ganz in weiß gekleidet ist. Der Polizist sagt ganz nett zu mir, ich soll aus dem Zimmer gehen. Aber ich reiße mich los und gehe zu Mama. Sie sitzt auf einem Küchenstuhl. Der Mann in weiß hat ihr eine Spritze gegeben.
Mama, wo ist Papa? frage ich. Sie guckt nur starr geradeaus, ihre Augen auf den Küchentisch gerichtet. Der nette Polizist nimmt mich bei der Hand und bringt mich ins Wohnzimmer. Kommt Papa bald wieder, frage ich ihn. Er guckt mich traurig an. "Ich weiß nicht, meine Kleine, ich weiß es nicht."