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Kein Anruf in Anwesenheit
Sein dürrer Körper nahm nicht mal die Hälfte vom Bett in Anspruch. Problemlos könnte hier eine zweite Person liegen, nur war da niemand.
Seit drei Tagen war er nicht zur Arbeit gegangen, hatte sich bei niemandem gemeldet. Den ersten Tag hatte er in freudiger Erwartung verharrt, und darüber sinniert, wer sich wohl aller um ihn reißen würde. Hoffentlich keiner dieser Deppen von der Arbeit, die würde er abblitzen lassen.
Nein, es durfte schon ruhig wer besonderer sein. Stefanie, die Schnecke vom Wochenende, die er klar gemacht hatte. Sie wollte zwar nicht in die Kiste mit ihm, doch sie hatte ihm hoch und heilig geschworen, sich bei ihm zu melden. Sie wollte ihn, da war er sicher.
Julia, die Schwester seines Fußballkameraden, die ihn schon öfters mal kokett angelächelt hat. Die dürfte auch anrufen.
Vielleicht würde er sich auch melden, falls einer von seinen Kumpels anrief. Das ließ er aber offen.
Den ganzen ersten Tag verbrachte er nur mit sich selbst. Niemand rief an, doch das erschütterte ihn nicht besonders. Klar, ein toller Hecht wie er es ist, sollte schon mehr erwarten dürfen als ein stummes Telefon und imaginären Besuch. Der doch nie kam.
Aber vielleicht war dies nur ein schlimmer Tag. Er gönnte sich das neunte Bier an diesem Tag, putzte sich danach aber jedes mal die Zähne und gurgelte. Es konnte ja jemand kommen, den wollte er nicht mit einer Alko-Fahne begrüßen.
Am Morgen des zweiten Tages war er schon wieder voller Elan. Ganz in seinem Element, tigerte er quer durch alle Zimmer, zog sich mehrmals an und aus, um am Ende das perfekte Outfit beisammen zu haben. Für die Frisur brauchte er etwa eine Stunde, bis jede Strähne saß, wie er es wollte. So aufgetakelt setzte er sich mit seinem Kaffee neben das Telefon, das jede Minute läuten müsste. Qualvolle Stille herrschte im Raum, für Momente war ihm, als könnte er das Dampfen des heißen Braunen als Geräusch wahrnehmen. So, als ob sich das Geräusch, wie auch der aromatische Duft, um seinen Kopf herum, und weiters überall in seinem Zimmer verteilen würden.
An dieser Stelle verpasste er sich eine leichte Ohrfeige, da er schon wieder angefangen hatte, zu spinnen. Solche Gedanken passen nur zu Psychopaten und Spinnern.
Wie gerne wäre er raus gegangen. Draußen jedoch schüttete es heftig. Zum Teufel, dabei hätte er in diesem Kleinkaff doch sicher wen bekannten treffen können. Jemanden, der sich über ein Treffen mit ihm gefreut hätte. Da saß er nun, und wusste nicht, womit sich die schier unendliche Armee der Minuten auf der Wanduhr auslöschen ließe.
Handwerklich war er unbegabt, Zeichnen oder Schreiben konnte er genauso wenig. Für solches Brimborium hatte er auch nichts übrig. Sein Metier war das Fortgehen, Schnecken aufgabeln und seinen Mazda auf Hochglanz halten. Er war schlicht zu geil für solchen Einzelgänger-Mist wie Kunst.
Doch die Tatsache, dass er geil war, änderte nichts daran, dass er sich einsam fühlte. Wenn doch bloß dieses Hunds-Telefon läuten würde... und wieder Stille.
Nein, er würde niemanden anrufen. Das kam nicht in Frage, er hatte schließlich genug Freunde, die voll auf ihn abfuhren. Es war halt unter der Woche, da hatten alle sicher zu viel Stress.
Er bastelte Türme aus den Büchern, die er sich gekauft hatte, um bei gewissen Schnallen als belesen durch zu gehen. In Wirklichkeit hatte er zu manchen Büchern einfach eine Zusammenfassung aus dem Internet heruntergeladen, um bei manchen seiner Eroberungen mit seinem „opulenten“ Wissen angeben zu können.
Solange die Bienen darauf abfuhren, sollte ihm jedes Mittel recht sein. Einmal hatte er sogar eine Zeichnung aus dem Block eines Freundes gestohlen, um sie bei einem Aufriss als seine auszugeben.
Nun gut, genug der Erinnerungen.
Den Abend verbrachte er damit, das verlumpte Telefon anzuschreien. Zuerst missachtete er es für Minuten, drehte sogar den Klingelton ab. Nicht, um mit sich allein zu sein, oder weil er sich mit der Einsamkeit abgefunden hatte. Sondern nur, damit die Freude noch größer würde, wenn der so willkommene Anruf endlich eintrudelte. Die Freude, wenn er „1 Anruf in Abwesenheit“ auf dem Display lesen konnte. Nein, wer war er denn, dass er gleich beim erstbesten Anruf zum Telefon sprang, und gleich abhob? So kümmerlich war er nun auch wieder nicht.
Und doch konnte er es nicht länger als 5 Minuten am Stück aushalten, ohne noch mal die Lage am Display zu checken. Nichts. Vielleicht war das Ding kaputt? Er entschloss sich, es aus zu probieren, und wählte die Nummer seines Haustelefons. Anstatt eines Frei-Zeichens hörte er nur die alt bekannte Stimme vom Band, die ihn über etwas benachrichtigen wollte.
Auf eine Warteschleife hatte er aber schlicht keinen Bock.
Konnte denn nichts so laufen, wie er es sich vorstellte?
Der Schuldige war schnell ausfindig gemacht worden. Zwei Sekunden später hatte das Handy nahe Bekanntschaft mit der Wand gemacht.
Schon bevor es dort eingeschlagen und unweigerlich eine 4 Millimeter tiefe, schwarze Kerbe hinterlassen hatte, tat es ihm leid.
Hastig glaubte er die einzelnen Teile des Telefons zusammen, betete, dass ihm nichts geschehen war und fügte sie wieder zu einem Ganzen.
Als er die „ON“-Taste mit zittrigem Daumen drückte, leuchtete das Display grün auf, und ihm fiel ein Stein von Herzen. Es funktionierte noch.
Als es endlich Abend wurde, tschecherte er sich wie am Vortag weg, wobei er den Rest seines Biervorrats killte. Diesmal machte er sich nicht die Mühe, die Zähne zu putzen, wer sollte schon groß kommen.
Kaum hatte er die Augen geschlossen, schlief er auch schon ein.
Alpträume plagten ihn, er träumte davon, der Einzige auf der Welt verbliebene Mensch zu sein. Schon beim Träumen empfand er das Ganze als Abgedroschen, doch trotzdem genoss er den Gedanken. Wenn niemand da war, gab es auch keinen, der ihn vergessen konnte.
Am nächsten Morgen kam er nicht mehr aus dem Bett. Sogar den Arm aus zu strecken, um sich am Bein zu kratzen, war ihm zu schwer.
Halleluja! Was für eine Erleichterung empfand er, als er nun endlich etwas auf dem Display, das sein neues Fenster zur Welt war, entdeckte. Da stand doch was. Gierig, wie ein Junkie nach seinem Schuss, schnappte er nach dem Telefon. Dieselbe Hand, die gerade eben dem Bein nichts Gutes tun wollte, war innerhalb von einer Sekunde beim Handy und hatte es auch schon vor die Augen gezerrt. Und damit eben doch nichts Gutes getan. „Bitte Akku aufladen“ stand da. Ihm drehte sich alles im Kopf. Es konnten ihn doch nicht alle vergessen haben? Sogar die hässliche Fotze von Nachbarsfrau, die er gegen Bezahlung einmal wöchentlich durchnahm, sogar sie hatte Besseres zu tun!? Fiel ihm jetzt sein Hochmut auf den Schädel? Ach, Gesocks, sentimental werden nur Schwuchteln. Als Mann musste er den Kopf hoch halten, das liebten die Tussen so sehr. Die, die am meisten einen Softie herbeigesehnt hatten, fühlten sich bei ihm am Wohlsten. Ironie.
Von Stephanie und Julia keine Spur. Um ehrlich zu sein, hätte er sich über Jede gefreut, die nun angetanzt wäre. Stattdessen blieb ihm nichts anderes, als sich zum wiederholten Mal einen runter zu holen. Zum dritten Mal an dem Tag. Nur kam es ihm mehr als seltsam vor, dass er dabei an die Nachbarsfrau dachte. Ein Ungetüm von Frau, mindestens einen Kopf größer als er, doch hässlich wie die Nacht. Sie war immer so nett zu ihm, hatte ihm Kuchen oder selbstgebackenes Brot gebracht. Jedes Mal mit einem Glas Milch natürlich. Sie war so etwas wie eine jüngere Großmutter für ihn. Bis sie, als sie nebeneinander am Sofa gesessen waren, nach seinem Gemächt gegriffen hatte. Völlig überraschend und durch Nichts provoziert.
Natürlich schickte er sie zum Teufel, doch die gute Frau wollte nicht locker lassen. Und angesichts des stattlichen Honorars, das sie ihm für seine Dienste bot, konnte er kein schlagendes Argument finden, um ihr Angebot auszuschlagen. Und so wurde dann in der Folge daraus eine (un)fruchtbare Zusammenarbeit, getrost dem Motto „Ficken für Geld und Brot“. Also für einen guten Zweck.
Ja, an sie dachte er, nicht an die vielen Stephanies und Julias, die seine Bettdecke schon von unten kennen gelernt hatten.
So lag er nun im Bett. In der einen Hand das verfluchte Telefon. Den erschlafften, lahmen Vater von Tausenden in der anderen Hand.
Vor Ratlosigkeit, nein, Verzweiflung und fehlgeleiteter Sehnsucht legte er sein Telefon an seinen halb-erigierten Schwanz, und onanierte darauf.
In dem Moment klingelte es an der Tür.
Unverdrossen wichste er weiter auf das Handy, bekam das Läuten nur ganz entfernt mit.
In seinem Kopf hatte es in den letzten Tagen so oft falschen Alarm geläutet, dass er nun nicht gewillt war, dem noch mal nach zu gehen.
Auch wenn tatsächlich jemand an der Tür gewesen wäre, hatte er oder sie sich zu viel Zeit gelassen. Jetzt wollte er niemanden mehr empfangen.
Als er mit seinem Akt fertig war, legte er das besudelte Telefon neben sich und driftete, mehr schlecht als recht, in den Schlaf ab.
Zu anderen Aktivitäten hatte er schlicht keine Kraft mehr.
Während er in seinen postkoitalen Träumen wühlte, ging eine Kurzmitteilung am Handy ein.
Nachdem er aufgewacht war, las er sie, wobei er sich wegen der verkrusteten Substanz auf dem Display etwas schwer tat.
Mit beiden Händen griff sich an den Kopf, raufte die Haare. Wie ein wunder Stier brüllte er. Sein Körper wand sich unter scheinbar unerträglichen Schmerzen. Mit blanken Fäusten traktierte er seinen Kopf, um ihn danach mit dem Telefon selbst zu bearbeiten.
Als sein Anfall vorbei war, ging er zum Kasten neben dem Fenster, langte hinein und holte... einen Briefumschlag raus. Flüchtig warf er sich den Trenchcoat über und rannte Richtung Mobil-Shop.
Es gab nur eine Erklärung für das Chaos. Vor zwei Monaten war er umgezogen, und hatte seitdem das Gefühl, irgendwas vergessen zu haben.
Immer wieder und wieder las er auf dem Weg ins Geschäft die SMS der Telefongesellschaft.
„Nach dreimaligen Mahnungen und dem Sperren der Anruf- und Kurzmitteilungs-Dienste für ihre Nummer, sahen wir uns gezwungen, ihre SIM-Karte ab dem 25. 5. ebenfalls für eingehende Anrufe und Mitteilungen sperren zu lassen. Das Inkassobüro wurde beauftragt, den ausstehenden Betrag von € 89.90 + Mahnspesen bei ihnen ein zu holen. Hochachtungsvoll, adov-phone AG“
Heute war der 29. 5.
Was er vergessen hatte? Die Telefongesellschaft von seinem Umzug vor zwei Monaten zu verständigen...