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Kein Plan
Es war eigentlich schon aus gewesen. Pat hatte Schluss gemacht.
“Du kommst einfach nicht aus dem Quark”, hat sie gesagt, und ich konnte das nicht von der Hand weisen. Sie war mittlerweile Master und auf dem Weg zur Psychotherapeutin, ich war noch immer Dauerstudent der Philosophie ohne jegliche Perspektive. Die Kluft zwischen uns wurde größer und größer, auch emotional. Jetzt also der letzte Versuch in Südamerika. Sie war schon vorgereist, ich sollte nach sechs Wochen in Lima dazustoßen. Dann gemeinsam einen guten Monat nordwärts bis nach Ecuador. Und schon wieder war ich dabei, es zu verkacken. Mir ging das Geld aus – zwar unverschuldet, aber wen kümmerte das? Ich hatte geplant, bis zwei Tage vor Abflug bei der Bauunternehmung meines alten Nachbars Ralf zu arbeiten. Nur spielten die Sehnen nicht mit. Golfarm … Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es so etwas gibt.
“Du, das geht aber nicht”, hat Ralf nach einem Monat gesagt, “dass du mir hier Woche für Woche nen Gelben reinreichst. Wer soll das bezahlen?”
Natürlich war das eine miese Nummer. Hatte es mir ja nicht ausgesucht, nicht mehr zupacken zu können. Aber mir war es dann auch zu blöd, für die paar Kröten auf die Barrikaden zu gehen und es mir mit ihm zu verscherzen. Erst dachte ich, das Geld würde schon reichen. Dann kamen ein paar Ausgaben dazu, die ich nicht einkalkuliert hatte, und mit einem Schlag sah es nicht mehr so rosig aus. Der Flug war bezahlt, das schon. Aber die Reisekasse, die wurde magerer und magerer, und ich wusste ja, was Pat so alles geplant hatte. Zum Beispiel einen Abstecher in den Amazonas. Dafür musste man was auf den Tisch legen, die Indios waren ja auch nicht blöd. Ich konnte mir schon ausmalen, was passierte, wenn ich sagte:
“Sorry, Babe, ist nicht drin für mich!”
Entweder würde sie noch vor Ort adios sagen oder direkt nach der Landung am Flughafen Frankfurt. So in etwa.
Bei einem Bier erzählte ich einem Kumpel von meiner Lage und er kannte jemanden bei irgendeiner Leiharbeitsfirma. Gastro Stars. Die würden immer Leute suchen. Ich schickte noch in der Nacht meinen Lebenslauf und einen Zweizeiler. Schon am Tag darauf wurde ich eingeladen. Nach einem fünfminütigen Gespräch in der Zentrale in Leverkusen bekam ich die Zusage. Aktuell suchten sie Leute für den Einsatz bei der Kölner Messe. Vor meiner Abreise standen noch zwei davon an, die Lebensmittelmesse Anuga und die Aquanale, auf der es um Pools und Saunas und so einen Kram ging, wenn ich das richtig verstand. Einzig einen kurzen Gesundheitskurs musste ich absolvieren. Gleich am nächsten Tag ließ ich mir von einem kalkweißen Typen mit Schweiß auf der Stirn erklären, dass ich mir gründlich die Hände waschen musste, wenn ich rohe Eier angefasst hatte, und nahm gegen eine Gebühr von zwanzig Euro mein Gesundheitszeugnis entgegen. Pat gegenüber trat ich auf, als wäre nichts gewesen.
“Siehst du, Babe, alles geregelt! Wie ich gesagt hab!”
Eine gute Woche später begann die Anuga. Ich fuhr mit der Bahn über die Deutzer Brücke und lief eine halbe Stunde ums Messegelände herum, bis ich genervt neben einem Anlieferungstor den Personaleingang fand, zu dem man mich beordert hatte. Vor der Tür und im Flur drängten sich etwa zwei Dutzend Menschen, alle wie aufgetragen in schwarzen Hosen und mit schwarzen Schuhen. Es waren Personen jeden Alters dabei, Männer und Frauen, die einen grell gekleidet, die anderen dezent, die einen gestylt, die anderen zerzaust, als wären sie gerade aufgestanden. Ihre einzige Gemeinsamkeit: Nach Geld sah hier niemand aus. Ich lehnte mich ans Geländer der Treppe und verfolgte das Geschehen um mich herum. Eine Frau mit violettem Lidschatten und Palästinensertuch um den Hals war sichtlich aufgeregt. Sie fragte die umstehenden Leute alle möglichen Sachen, aber keiner konnte ihr helfen.
“Naja, warten wir einfach mal ab!”, so war irgendwann das einhellige Fazit und wenn neue Leute zur Gruppe dazustießen, zuckte man als Antwort auf ihre fragenden Blicke nur die Achseln.
Es verging vielleicht eine Viertelstunde, bis eine junge Frau zu uns trat und Anweisungen rief. Sie hatte eine sehr helle Stimme und in den hinteren Reihen verstand man kein Wort. Also lief ich einfach den anderen hinterher durch den Gang bis zu einem kahlen Raum. Die Frau stellte sich hinter einen Tisch, auf dem mehrere Kartons standen.
“Nehm euch bitte zwei Shirts raus. Es gibt klein, mittel und groß.”
Einige probierten die gelben Polohemden an. Nachdem ich sah, wer zur mittleren Größe griff, war ich mir sicher, dass sie mir nicht passen würde. Ich nahm mir ein großes Hemd und faltete es auseinander. Es war riesig.
“Ihr könnt euch auf den Toiletten im Gang umziehen oder auch hier, wenn euch das nichts ausmacht. Eure Sachen könnt ihr dann an den Snack-Points einschließen.”
Vor dem Spiegel bestätigte sich, was ich schon wusste. Das Hemd hing mir weit über die Schultern und hatte keinerlei Form. Na, toll – fünf Tage lang wie ein Vollidiot rumlaufen! Ich überlegte, ob ich die Mission Messearbeit einfach an Ort und Stelle abbrechen sollte. Aber dann sagte ich mir, “Schluck es einfach runter, du brauchst die Knete!”
Als wir alle in voller Montur wieder im Raum versammelt waren, stellte sich ein Mann neben die junge Frau und übernahm das Wort. Er hatte eine Stirnglatze und einen Klobrillenbart.
“Mein Name ist Kauder und ich bin für die nächsten Tage Ihr Supervisor.”
Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen ließ er den Blick durch die Reihen schweifen, wie ein aus dem Leim gegangener Drill Instructor. So einer hatte gerade noch gefehlt.
“Wie ich sehe, haben Sie Ihre Hemden schon erhalten. Wer möchte, kann auch noch eine Schürze bekommen, je nach Aufgabe ist das sinnvoll. Melden Sie sich dafür einfach gleich bei Tina.”
Die junge Frau nickte beflissen. Ich fragte mich, ob Sie ihren Stolz an einem Snack-Point frittiert oder nie welchen besessen hatte. Kauder trat vor den Tisch und sah an uns runter. Sein Blick blieb bei den Schuhen von einem schwarzhaarigen Typen mit Gelfrisur hängen, irgendein Asi um die zwanzig mit Bleistiftbärtchen und falschem Brilli im Ohr.
“Kein Sportschuhe! Hat man Ihnen das nicht gesagt?”
Der Mann zuckte grinsend die Schultern. “Hab keine anderen!”
Kauder starrte ihn an, für einen Moment blitzte regelrechte Abscheu in seiner Mimik auf. Das irritierte den Typen.
“Soll ich mir jetzt extra neue Schuhe kaufen, oder was? Dann arbeite ich ja für nichts.”
Das war ein Argument, fand ich, und auch Kauder schien dem nichts entgegensetzen zu haben; er zog nur die Brauen zusammen und nickte. “Bleiben Sie bitte im Anschluss an die Einweisung noch kurz hier, ja?”
Er ging wieder hinter den Tisch und nahm einen Schnellhefter in die Hand. Mit der anderen zog er einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines hellblauen Busfahrerhemds. Er drückte mit dem Daumen auf den Knopf und es klang, als würde eine Eisfläche bersten.
“Ich teile Sie jetzt in Dreier- und Viererteams ein, je nach Größe des Snack-Points. Wer hat schon einmal hier gearbeitet?”
Ein paar Hände gingen in die Höhe.
“Das wird nicht ganz aufgehen, aber kommen Sie bitte kurz nach vorne und machen Sie ein Kreuz neben Ihrem Namen. Sie machen Kasse. Wie sich der Rest organisiert, bleibt Ihnen überlassen. Solange es funktioniert!”
Als sich die Aufgerufenen eingetragen hatten, nahm Kauder vom letzten den Stift entgegen.
“Gut! Dann gehe ich jetzt Ihre Namen der Reihe nach durch. Wenn ein Team feststeht, gehen Sie zu Ihrem Snack-Point. Tina oder ich kommen gleich zur genaueren Einweisung vorbei. Verstanden?”
Kollektives Nicken. Im Raum war eine Stimmung, als würden wir gleich in eine olivgrüne Frachtmaschine steigen, um von ihr über dem Ärmelkanal abgeworfen zu werden.
“Alberz?”
“Hier!”
“Zu Lehmann an die Kaffeebar in Halle 2.”
“Adamek?”
“Hier!”
“Auch Kaffeebar Halle 2.”
Ich wurde mit einer älteren Frau mit türkischem Namen und mit einem schmächtigen Jungen auf die “Piazza” geschickt. Da unsere Nachnamen weit hinten im Alphabet standen, hatten wir niemanden mit Erfahrung im Team. Kauder sah mich prüfend an, warf dann einen Blick über meine Schulter auf die anderen beiden. Langsam legte er mir den Schlüssel in die Hand. “Sie machen Kasse!”
Gerne hätte ich ihm ein “Yessir!” ins Gesicht geschrien.
Auf den Gängen und in den Hallen herrschte schon reger Betrieb. Die Aussteller nahmen letzte Handgriffe an ihren Ständen vor, das Personal der Messe, erkennbar an anthrazitfarbenen Uniformen und Badges mit grünem Logo, lief hin und her, um sich selbst und den anstehenden Betrieb zu organisieren. Bis zur Öffnung war es nur noch eine halbe Stunde hin. Mir war nicht klar, wie wir vorher noch eingearbeitet werden sollten, wir waren ja noch nicht mal an unserem Platz. Ich hatte vergessen, wie gigantisch so ein Messeareal ist. Die hektische Atmosphäre, aber auch die Architektur erinnerten mich an einen Flughafen. Ein ganzes Leitsystem aus Schildern, Nummern und Symbolen sowie strategisch positionierte und gekonnt geschminkte Hostessen in kurzen Röcken warteten darauf, die eindringende Menschenmasse an ihr Ziel zu lotsen. Die Hallen waren so hoch, dass man einen Wohnblock hätte hineinbauen können, von den Decken mit ihren Stahlstreben und Lüftungsventilatoren hingen an Metallrahmen befestigte Lampen und Banner mit Firmenlogos herab. Die meisten sahen aus, als hätte die Schwiegertochter vom Geschäftsführer das Design ausgeheckt – Anfang der Neunziger. Jede Ecke war mit grellem, kalten Licht ausgeleuchtet. Eine angenehme Atmosphäre stand einem guten Geschäft scheinbar entgegen. An den Knotenpunkten der wichtigen Passagen waren die “Snack-Points” von Gastro Stars angesiedelt. Mich kotzte es jetzt schon an, dieses Wort von nun an dauernd hören und sagen zu müssen. Die meisten dieser Fressstände wurden sekundiert von Snack- und Getränkeautomaten, auf denen ich ebenfalls das Logo mit dem Stern entdeckte. Gastro Stars hatte sich wohl ein Monopol gesichert. Good for them!
Im Gehen machte ich mich mit meinen neuen Kollegen bekannt. Die Frau hieß Belkis, der Junge Aaron. Wie ich, waren beide das erste Mal überhaupt für Gastro Stars im Einsatz. Sie wirkten nicht gerade wie Zugpferde – eine türkische Oma und ein schmächtiger Teenie, der in jeder beliebigen Highschool-Komödie den Loser spielen konnte, ohne durch die Maske zu müssen.
Als wir unseren Arbeitsplatz endlich erreichten, hatte die ganze Bewegung meine Verdauung in Gang gebracht. Ausgerechnet jetzt! Hoffentlich kreuzte Kauder bald auf, damit ich mich noch kurz absetzen konnte. Ich sah mich um und realisierte, dass sich die “Piazza” zwischen den Haupthallen, also genau im Epizentrum der ganzen Messe befand. Diese Lage und der blaue Himmel über uns ließen überhaupt nichts Gutes erwarten. Ich schielte zu Belkis und Aaron rüber und seufzte.
“Und jetzt?”
“Keine Ahnung.”
Wir standen vor der Theke rum und niemand kam. Die ersten Leute betraten den Platz, die Messe hatte jetzt aufgemacht. Mir wurde das Warten zu blöd.
“Ich verschwinde noch mal grade!”
Es war jetzt wirklich eilig. Ich riss die Tür zur nächstgelegenen Halle auf und rannte fast in Kauder hinein.
“Wo wollen Sie denn hin?”
“Ich muss noch mal eben auf die Toilette.”
“Gut, aber beeilen Sie sich!”
Ich schob mich an ihm vorbei und wusste schon, dass ich mir den Gang sparen konnte. “Wir warten auf Sie!” Arschloch! Wie sollte man so in Ruhe kacken gehen? Nach drei Minuten auf der Schüssel gab ich auf. Ich drückte die Spülung. Das ist alles ein Alptraum hier!
Zurück am Stand hatte sich mein Bauch in einen verkrampften Klumpen verwandelt. Kauder erklärte uns die Abläufe. Es war idiotensicher; ein Schimpanse konnte die Arbeit verrichten. Die Kassenbedienung glich einem Spiel für Kleinkinder – “Na, wo ist das Würstchen? Wo ist das Würstchen drauf? Da ist es drauf! Da ist das Würstchen drauf!” Kauder behandelte den Apparat trotzdem wie einen hochsensiblen Supercomputer. Ich und nur ich sollte die Kasse bedienen, in meiner Pause würde er jemand von einem anderen Stand als Vertretung schicken.
“Wann wollen Sie Pause machen? Um drei oder um vier?”
“Um drei dann.”
“Gut, notiere ich mir.”
Kaum war Kauder weg, musste ich wieder aufs Klo. Wollte Gott mich zum Narren halten? Aaron legte die ersten Würstchen auf die Edelstahlplatte, ohne dass es zischte. Er war der designierte Grillmeister und stand offensichtlich zum ersten Mal vor so einer Gerätschaft. Belkis sollte die Theke bedienen und die Teller anrichten, ich mich neben der Kasse um die Getränke kümmern. Das Angebot war popelig, es gab insgesamt keine fünfzehn Optionen auf der Karte. Ich überlegte, ob ich direkt einen zweiten Versuch wagen sollte. Noch war nichts los und wenn ich in die andere Halle ging, würde ich Kauder sicher nicht noch einmal über den Weg laufen. Andererseits wusste ich nicht, wann die ersten Kunden aufschlugen. Hinterher standen sie da und konnten nicht bedient werden. Ich hatte meine taktischen Überlegungen noch nicht beendet, da näherten sich die ersten beiden Personen unserem Stand, ein Mann und eine Frau, beide in ihren frühen Dreißigern. Sie waren bester Laune und der Mann gab seiner Frage einen leutseligen Ton, der mich sofort aufregte.
“Kriegen wir bei Ihnen schon was?”
Während er das sagte, legte er den Kopf schief und reckte sein Kinn vor. Ich wollte nach Hause.
“Ja, aber nur Getränke oder Brezeln, der Rest ist noch nicht fertig.”
Ich weiß nicht, warum ich derjenige war, der antwortete. Aber auch Belkis schien das richtig zu finden, denn sie hatte nicht einmal zu einer Antwort angesetzt. Die zwei sahen sich an und wägten ab, ob sie noch warten oder schon zuschlagen sollten. Mir wurde währenddessen klar, dass ich wie ein devotes Arschloch geklungen hatte. Ich musste sofort einen anderen Ton finden, wenn ich heute Abend noch in den Spiegel gucken können wollte.
“Wir warten noch”, entschieden die beiden und schauten aufmunternd, so als hätten sie uns damit enttäuscht.
“Kein Problem, wir sind den ganzen Tag hier”, sagte ich.
Sie nahmen meine Anspielung nicht wahr.
Die Würstchen kamen langsam ins Brutzeln.
“Läufts?”, fragte ich Aaron aus einem diffusen Impuls, Kollegialität aufzubauen. Er war darüber so erfreut, dass er viel zu euphorisch bejahte. Was ein Opfer! Der Gedanke tat mir sofort Leid. Er war einfach nur ein unbedarfter Junge. Doch so ganz gelang mir die innere Gutmenschenschelte nicht. Er war halt doch ein Opfertyp!
In einem kleinen Raum hinter dem Verkaufsbereich machte Belkis die Speisen für die Theke fertig. Sie hielt mit beiden Händen einen Plastikeimer vom Großmarkt über eine flache Keramikschüssel und der Kartoffelsalat rutschte platschend heraus. Auf den gleichmäßig geschnittenen Scheibchen schimmerte transparenter Schleim, die Masse sah viel zu flüssig aus.
“Hmmm, lecker!”
Ich nahm Belkis die Schüssel ab und sie begann damit, das vegetarische Chili in einen Metalleinsatz für den elektrischen Warmhaltetopf zu kippen, den sie auf den Boden zwischen ihre Füße gestellt hatte. Es sah aus, als würde eine Bäuerin Kraftfutter für Schweine anrühren. Sofort mischte sich penetranter Paprikageruch in den scharfen Essiggeruch des Kartoffelsalats und in den Fettgeruch der Würstchen, der von draußen in das Kabuff zog.
Als die Theke fertig bestückt war, musste ich zu meiner eigenen Überraschung einräumen, dass die Pampe gar nicht mehr so einen schlechten Eindruck machte. Spezielle Lämpchen ließen die Kartoffeln gelber und den Krautsalat grüner erscheinen und das Weiß der Keramikschüsseln verlieh der Auswahl einen Hauch von Feinkost. Was für eine Verarsche! Für den Wurstteller komplett musste man zwölf Euro latzen, für ein Plastikpöttchen Chili mit Brötchen zehn.
Da die Mittagszeit nahte, hatten wir bald gut zu tun. Belkis legte ihre Scheu zu reden ab und Aaron bekam den Bräunungsgrad der Würstchen in den Griff. Ich hatte am wenigstens zu tun, was mir für die beiden Leid tat, aber etwas daran ändern konnte ich auch nicht. Mein Darm drückte unnachgiebig weiter und alle paar Minuten schaute ich auf die Uhr. Meine Pause rückte einfach nicht näher. Irgendwann musste ich eine neue Risikokalkulation vornehmen: Es war wohl besser, von Kauder erwischt zu werden, als mir dort am Stand in die Hose zu scheißen.
Ich schaffte es ungesehen in die Klokabine, wo mich der ganze Stress wieder verkrampfen ließ. Ich war kurz vorm Heulen. Erst als es mir gelang, meine Situation von außen zu betrachten, löste sich der Knoten. Mein ganzer Stress war selbstgemacht. Kauder und Gastro Stars konnten mir doch keine Toilettenpause verwehren! Und überhaupt – was interessierte mich das alles hier überhaupt? Sollten sie mich halt rauswerfen!
Entspannt und von allem distanziert schlenderte ich zum Stand zurück. Ich sprach jetzt anders mit den Kunden, hielt hier und da sogar ein kleines Schwätzchen. Und wenn eine attraktive Frau vor mir stand, musste ich mich bremsen, um nicht kurz mit ihr zu flirten. Dass ich in meinem Zelt von T-Shirt wie ein Trottel aussah, darüber dachte ich überhaupt nicht mehr nach. Die Leute goutierten meine lockere Art und wenn ich es nicht eh schon gewesen war, so stieg ich jetzt endgültig zum Ansager am Stand auf. Ich behielt die Abläufe und den Nachschub im Blick und wies Belkis und Aaron darauf hin, wenn sie etwas vergaßen oder übersahen.
In meiner Pause ging ich durch die Hallen und schaute mir die Stände an. Überall gab es etwas zu probieren und viele Aussteller hatten Sample-Tüten vorbereitet, die man mitnehmen konnte. Genau darauf hatte ich mich schon seit Tagen gefreut und für kurze Zeit fühlte ich mich wie bei einer Freizeitunternehmung. Dann lief ich der Gehilfin von Kauder über den Weg, Tina oder wie sie hieß.
“Was machst du denn hier?”
Ihr Ton ließ nichts Gutes vermuten.
“Ich hab Pause.”
“Ihr dürft nicht aufs normale Messegelände?”
“Bitte, was?”
“Also das klang jetzt etwas falsch. Ihr dürft natürlich aufs ganze Gelände, aber ihr dürft euch nicht unter die Besucher mischen. Steht auch so im Rahmenvertrag.”
“Echt jetzt?”
Ich strich mir über Brust und Bauch.
“Hab doch mein eigenes T-Shirt an. Ist doch meine Sache, was ich in meiner Pause mache.”
“Ich möchte das jetzt hier nicht diskutieren.”
“Wo soll ich denn sonst meine Pause verbringen?”
“Du kannst dich überall aufhalten, wo keine Aussteller sind.”
“Also auf den Gängen?”
Ich meinte das sarkastisch, doch sie nahm mich ernst.
“Zum Beispiel.”
“Darf ich das Gelände verlassen?”
“Ja, sicher. Die meisten machen das aber nicht, weil die Zeit dafür nicht reicht. Aber klar, du darfst natürlich auch rausgehen.”
Mit diesen Worten ließ sie mich stehen und ich war kurz davor, einfach weiter über die Messe zu laufen. Dann dachte ich mir, Scheiß drauf!, und ging stattdessen zum nächsten Aufenthaltsbereich. Ohne etwas zu tun zu haben, saß ich den Rest meiner Pause auf einer Bank ab.
Am Nachmittag zog es sich zu. Frierend stand ich hinter der Kasse und sehnte den Feierabend herbei. Aus Mangel an Alternativen war der Stand noch immer gut besucht, sodass wir regelmäßig weitere Eimer in die Schüsseln kippen mussten. Die Riesenwanne mit den Brötchen war irgendwann leer und ich hätte den Leuten gerne einen Euro weniger berechnet, aber Kasse erlaubte das nicht. Gastro Stars hatte diese Situation scheinbar antizipiert und in weiser Voraussicht nur “Chili sin carne” und “Frikadelle” auf das Menü gedruckt, sodass es den meisten Kunden nicht auffiel, dass sie um ihr Brötchen betrogen wurden. Nur die paar Leute, die das Gericht zum zweiten Mal bestellten, meckerten. In diesem Fall tippte ich andere Sachen ein und erließ ihnen so einen Euro. Belkis und Aaron waren unsicher, ob das erlaubt sei, aber ich beruhigte sie.
“Hier macht doch keiner Inventur.”
Nach Feierabend skypte ich mich Pat. In Peru war es früher Abend und ich merkte schnell, dass unsere Vibes auch sonst nicht synchron liefen. In allen Einzelheiten wollte ich Pat von meinem ereignisreichen ersten Arbeitstag erzählen, aber sie zeigte wenig Interesse, gedanklich den Urlaub und die Tropen zu verlassen, um sich an einen Würstchenstand auf einer deutschen Messe zu begeben. Ich hingegen konnte mich nicht auf sie und ihre belanglosen Updates vom Ende der Welt einlassen. Nach fünfzehn Minuten wünschte sie mir eine gute Nacht und ich ihr einen schönen Abend.
Tag zwei begann ich besser vorbereitet. Ich war früh aufgestanden, um mich noch zu Hause richtig auszuscheißen. Für die Pause hatte ich ein Buch und gegen die Kälte ein Long Sleeve zum Drunterziehen dabei. Als ich Belkis und Aaron mit Handschlag begrüßte, kam es mir vor, als würden wir schon Wochen zusammenarbeiten. Auch der Platz hinter der Theke war mir jetzt schon so vertraut, als hätte ich nie woanders gearbeitet. Gleichzeitig empfand ich sofort ein Gefühl von tiefer Erschöpfung, wenn ich daran dachte, dass sich der gestrige Tag nun haargenau wiederholen würde. Und die nächsten zwei Tage dann wieder. Die Messe war wie ein steriles Paralleluniversum, wo die Zeit gedehnt wurde. Ich konnte mir nicht ausmalen, wie es Leuten ging, die solche Jobs über Jahre machten.
Als der Mittagsansturm vorbei war, machte ich mir selbst einen Teller mit Würstchen und Kartoffelsalat fertig, den ich hinten im Kabuff aß.
“Ob das erlaubt ist?”, wunderten sich die anderen und ich ließ sie großspurig wissen, dass mich das nicht interessierte. Ich ermunterte sie dazu, sich auch etwas zu nehmen, wir würden es einfach niemandem sagen. Aber sie trauten sich nicht und so fühlte ich mich dann doch ein wenig so, als würde ich Gastro Stars beklauen. Dabei warfen wir ja abends die Reste weg.
Ich spießte gerade das letzte Stückchen Wurst auf, als ich draußen Kauders Stimme hörte. Schnell schob ich mir die Gabel in den Mund und räumte den Teller zur Seite. Noch mit dem Bissen im Mund trat ich betont beiläufig wieder hinter die Theke. Belkis war gerade dabei, einem Kunden einen Teller fertig zu machen. Ich kassierte ab und der Kunde verzog sich an einen der Stehtische, die sie auf einem Holzboden aufgestellt hatten. Kauder winkte Belkis zu sich und führte sie dann mit einer Hand an ihrer Schulter hinter die Bude. Man verstand trotzdem jedes Wort.
“Erklären Sie mir mal, was Sie da vorne machen!”
“Habe ich verkauft Würstchen und Kartoffelsalat.”
“Drei Löffel! Drei! Sie geben ja den halben Eimer raus!”
“Ich dachte, zahlen die Leute so viel, tue ich bisschen mehr drauf.”
“Sie dachten! Sie dachten! Meinen Sie, wir machen die Einweisung zum Spaß?”
Aaron und ich sahen uns betreten an.
“Wenn es heißt, drei Löffel, dann heißt das drei Löffel. Capito? Oder wie das bei Ihnen heißt. Haben Sie mich verstanden?”
“Ja, habe ich verstanden. Tut es mir wirklich Leid, Herr Kauder!”
“Schon gut! Gehen Sie jetzt wieder nach vorne!”
Kauder stapfte davon. Ich meinte ihn murmeln zu hören, “Was ist das wieder für ein Kroppzeug?”
Geknickt trat Belkis zu uns hinter die Theke.
“Alles ok?”
“Habe ich Ärger bekommen. Aber ist schon in Ordnung. Brauche ich nur einen Moment.”
Sie tat mir Leid. In ihrem Alter hatte sie es verdient, dass man sie mit Respekt behandelte. Sie sollte solche Jobs gar nicht mehr machen müssen.
Wir nahmen die Arbeit wieder auf. Ab und an schielte ich zu Belkis hinüber. Sie übertrieb es jetzt ein wenig mit der Sparsamkeit, fand ich. Und auch der eine oder andere Kunde schien mir kurz davor zu meckern. Doch ich sagte besser nichts. Das hätte sie wahrscheinlich vollkommen verunsichert.
Der dritte Tag begann schon stressig. Die Bahnen fuhren aus irgendeinem Grund nicht und ich musste zu Fuß über die Brücke laufen. Dadurch war ich natürlich viel zu spät dran, woran auch mein sporadisches Joggen nichts änderte. Alles, was es bewirkte, war, dass ich völlig verschwitzt am Stand ankam, wo die Leute schon Schlange standen. Ohne Erklärungen steckte ich den Schlüssel in die Kasse und begann mit dem Abkassieren, bis sich die Lage entspannt hatte. Ich erfuhr, dass Kauder vorhin am Stand gewesen war und gewütet hatte. Er wollte später wiederkommen und mit mir sprechen.
“Soll er doch kommen – Arschloch!”
Belkis und Aaron lachten. Ich spürte, wie mein Handy in der Hosentasche vibrierte, und zog es heraus. Pat hatte geschrieben:
“Bin überfallen worden. Können wir skypen? Bin total fertig.”
Auch das noch!
“Bin bei der Arbeit, kann nur kurz telefonieren”, schrieb ich zurück.
“Ok.”
Ich sagte den beiden, dass ich kurz telefonieren müsste, ein Notfall. Dann ging ich mit schnellem Schritt in eine der Hallen, wo ich in einem Nebengang eine ruhige Ecke fand. Pat nahm sofort ab. Sie erzählte mir, was passiert war. Ein junger Typ hatte sie auf dem Weg von einem Aussichtspunkt zurück zum Hostel mit einem Messer bedroht und ihr das Portmonee und die Kamera abgenommen. Dann war er weggerannt. Ich versuchte, Pat mit den üblichen Phrasen, die einem in so einem Moment einfallen, zu beruhigen, doch sie war geradezu hysterisch und wollte den Urlaub abbrechen. Mir schien das eine Überreaktion zu sein und ich redete so bedächtig, wie ich konnte, auf sie ein, merkte aber, dass ich langsam nervös wurde, weil sich das Gespräch so zog. Da kam Kauder um die Ecke. Ich sah seinem Gesicht den Moment an, in dem er realisierte, was Sache war.
“Babe, ich muss Schluss machen, der Chef kommt.”
Sie begriff nicht und stellte eine Frage.
“Erkläre ich dir nachher, ja? Ich muss jetzt wirklich …”
Kauder baute sich vor mir auf und blitzte mich an.
“Also, wir sprechen uns später! Ciao!”
Ich drückte Pat weg. Kauder sagte nichts, sondern starrte mir nur in die Augen. Ich hielt ihm stand und unsere Blicke verschränkten sich auf eine Weise, die mir eine Sekunde lang intim vorkam, so als würden wir uns im Inneren irgendwo verbinden. Dann schlug mein Gefühl um. Mein Herz begann zu rasen und ich fühlte, wie sich meine Nackenmuskeln verkrampften. Ich hatte seine Machtspielchen satt und große Lust, ihm ansatzlos in die Fresse zu schlagen. Eine leise Stimme in mir, das berühmte kleine Engelchen, hielt mich davon ab. Ich schloss die Augen und zog Luft durch meine Nase. Mein Brustkorb weitete sich und ich gewann die Beherrschung zurück.
“Kann ich Ihnen helfen?”, fragte ich mit betont ruhiger Stimme und lächelte.
Kauder öffnete den Mund, sagte aber nichts. Sein Atem roch wie eine Zigarettenkippe, die man in einen Becher Kaffee geworfen und dann über eine faule Banane gegossen hatte. Er schloss den Mund wieder und fasste sich an den Kopf. Während er vor mir langsam einen Kreis abschritt, murmelte er vor sich hin.
“Er fragt, ob er mir helfen kann! Er fragt tatsächlich, ob er mir helfen kann!”
Dieses Theater wurde mir zu blöd.
“Wo ist eigentlich ihr Problem, Mann?”
Er riss den Arm runter und machte einen Satz auf mich zu.
“Was glaubst du, wen du hier vor dir hast, du Pimpf?”
“Einen Versager?”
Ich sah, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Er brauchte zwei Ansätze, um eine Antwort herauszupressen.
“Lass dir am Schalter deine Stunden auszahlen und verpiss dich! Aber sofort!”
Er wandte sich ab und stapfte über den Flur in Richtung Halle davon.
“War mir eine Freude mit Ihnen zu arbeiten! … Arschloch!”
Ich schlug mit der Faust gegen die Scheibe einer Tür, die vom Gang zu einem Innenhof führte. “Was ist das für ein Scheißtag?”
Ein vorbeitrottender Techniker sah mich verwundert an. Ich drehte mich um und ging mir mein Geld holen.
Noch auf dem Parkplatz der Messe rief ich Pat an. Sie war immer noch aufgelöst und mich machte das noch wütender. Als sie wieder und wieder sagte, dass sie sofort nach Hause fliegen wollte, schrie ich sie an, dass sie mal nicht übertreiben sollte und was sie denn erwartet hätte. Wenn man in solche Länder fuhr, musste man eben mit so etwas rechnen. Auch sie wurde jetzt wütend und schrie mich zurück an, ich wäre unsensibel und wie immer nicht für sie da. Und sie bliebe dabei, sie wollte den nächsten Flug zurück nehmen.
“Gut”, schrie ich, “dann mach das halt – ich hab eh kein Geld für diese scheiß Reise! Und auf diesen ganzen Scheiß hab ich auch keinen Bock mehr. Flieg nach Hause, bleib am Arsch der Welt, es ist mir egal. Das war’s!”
Ich drückte den Knopf mit dem Hörer so fest, als würde ich ihn mit meinem Daumen zerdrücken wollen, und war kurz davor, das Handy auf den Boden zu pfeffern.
Die Bahnen fuhren immer noch nicht. Ich blieb in der Mitte der Brücke stehen und lehnte mich aufs Geländer. Was für ein scheiß Tag! Was für eine scheiß Zeit! Mein Leben war dabei, aus den Fugen zu geraten. Würstchen verkaufen, um in Länder zu reisen, in denen man nichts verloren hatte, mit einer Frau, die einem im Grunde den ganzen Tag auf den Sack ging. Ich brauchte endlich einen Plan! Ansonsten würde mein Leben weiter so sinnlos dahinfließen, wie das Dreckswasser vom Rhein da unten. Wenn man nicht aufpasste, endete man bei Würstchen und einer hysterische Ziege und bei Arschlöchern, die einem sagten, wann man zu scheißen hatte, und bei ein paar miesen Kröten für tagelanges Rumstehen, und bei Schuldgefühlen, weil man glitschigen Industriekartoffelsalat in einem Kabuff in sich hineinschaufelte, das hatte sich jetzt deutlich gezeigt. Wenn ich das nicht wollte, brauchte ich einen Plan! Ich brauchte einen Plan! Einen Plan brauchte ich! Endlich einen Plan!