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Keine Wiederkehr
Das Baby rührt sich nicht, es scheint eingeschlafen zu sein. Die Frau, die den Kinderwagen durch die Kälte schiebt, schaut es an. In ihrem Gesicht ist ein Lächeln erkennbar, doch ihr Blick ist gequält und leer. Glücklich scheint sie nicht.
Der Wind streift die Haare der jungen Mutter. Er lässt die Ästchen einer grossen Linde baumeln, als wolle er sie in den Schlaf wiegen. Unter der Macht des gewaltigen Baumes steht ein kleines, altes Haus. Die Frau hebt ihren Kopf und schaut hoch zur Krone. Sie zählt. Dreizehn Raben. Das Krächzen ist unüberhörbar - beängstigend. Sonst ist alles ruhig, unheimlich ruhig.
Als sie beim Haus angelangt ist, öffnet sie die Tür, tritt ein, das Baby auf ihrem Arm, ein Plüschhäschen in der Hand, und verschwindet gleich darauf im Schlafzimmer. Sachte legt sie den Säugling in seine Wiege, das Plüschtier neben seinen Kopf. Sie schaut auf die Uhr. Ach du liebe Zeit! Schon zehn vor fünf, es wird langsam Zeit, meinem Kleinen die Milch heiss zu machen, er wird bestimmt bald aufwachen. In der Küche füllt sie eine Pfanne mit Wasser und stellt sie auf eine Herdplatte. Auch die Flasche mit dem Milchpulver steht schon bereit. Geduldig wartet die Mutter bis das Wasser köchelt.
Das Telefon klingelt. „Hallo Schatz, wie geht es dir?“, tönt es besorgt vom anderen Ende der Leitung. – „Gut, danke.“, antwortet sie freundlich, aber knapp. Sie versteht nicht, weshalb ihr Mann sie in den letzten Tagen ständig anruft und nach ihrem Wohlbefinden fragt. „Und“, fährt er angespannt weiter, „wie geht es dem Kleinen?“ – „Er schläft, es ist alles in Ordnung.“, erwidert sie. Jetzt wird es still; ihr Gegenüber sagt nichts mehr. Zehn Sekunden vergehen, zwanzig Sekunden, eine halbe Minute. „Ich komme so schnell wie möglich nach Hause.“, meint er jetzt mit zittriger Stimme. „Bis dann, ich liebe dich.“
Ohne weiter zu überlegen, füllt sie das Wasser in die Flasche, schliesst sie und schüttelt sie nochmals kräftig durch. Dann geht sie wieder hoch ins Schlafzimmer, um des Kleinen Hunger zu stillen. Liebevoll hebt sie ihn aus seinem Bettchen, nimmt ihn zu sich und gibt ihm die Milch. Doch wie so oft in letzter Zeit möchte das Baby nicht trinken. Mein kleiner Sonnenschein, denkt die Mutter, es wäre wirklich wichtig, dass du ein bisschen mehr trinkst. Sie ist aber nicht besorgt, ihr Kleiner trinkt nun seit längerer Zeit nicht mehr so richtig. Das ist nur eine Phase, sagt sie sich.
Sie steht auf und trägt den Säugling ins Wohnzimmer, wo sie ihn auf eine Decke legt. Auch der Plüschhase ist dabei. Er ist immer dabei. Er war ein Geschenk zur Geburt. Überall liegt Spielzeug – Rasseln, Klötzchen und vieles mehr. Nirgends lauert eine Gefahr für den Kleinen, nirgends könnte er sich verletzen. Alles ist abgesichert oder weggestellt.
Das Baby ist schon wieder eingeschlafen. Die Mutter setzt sich aufs Sofa und nimmt eine Broschüre zur Hand: „Plötzlicher Kindstod“. Sie blättert. Vorwärts und wieder zurück, liest ein paar Zeilen, wird nachdenklich. Schrecklich, denkt sie, was es in dieser Welt alles gibt. Doch meinem kleinen Schatz wird so etwas nie widerfahren. Ich passe immer auf ihn auf.
„Hallo! Da bin ich.“, tönt es vom Hausflur her. Der Vater und Ehemann konnte, trotz viel Arbeit, eine Stunde früher Feierabend machen. Sein Tag war anstrengend; der junge Polizist, erst 26 Jahre alt, ist erschöpft. Er zieht seine Schuhe aus, nimmt die Dienstmütze vom Kopf, hängt sie an die Garderobe und betritt das Wohnzimmer. Das Baby und sein Häschen noch immer auf der Decke liegend, seine Frau auf dem Sofa. Auch sie ist eingeschlafen, die Broschüre auf ihrem Bauch. Es geht ihr nicht gut, ihr Mann weiss es.
Seine Miene verändert sich schlagartig. Sie wird düster - sehr düster. In seinen grünbraunen Augen ist keine Hoffnung mehr, nur Trauer - endlose Trauer. Er seufzt. Tief. Was soll ich nur machen? Was um alles in der Welt soll ich nur machen? Wann wird sie es endlich einsehen? Tränen kommen hoch, fliessen langsam über seine noch von der Kälte geröteten Wangen. Er sieht keinen Weg mehr. Keinen Ausweg. Sonst ist er immer so selbstbewusst und entschlossen, jetzt ist er ganz klein. Ein kleines Wesen in einem grossen Raum. Alle Türen sind geschlossen. Er ist gefangen. Doch er kann so nicht mehr leben. Es macht ihn kaputt.
Er läuft ein paar Schritte vorwärts, bis zu der Decke, und fällt auf die Knie. Die Tränen fliessen weiter. Den Vater schüttelt es vor Kummer, vor Angst. Einzelne Tränenperlen fallen auf das Gesicht des Säuglings, kullern jetzt dessen Wange hinunter, doch der Kleine rührt sich nicht. Er spürt sie nicht.
Ich kann ihr das Baby nicht nehmen. Sie wird es nicht verstehen, nicht verkraften. Sie braucht es. Und ich brauche sie. Ich kann es nicht! Der Vater beugt sich zu seinem Sohn vor, küsst ihn auf die Stirn; sie ist ganz kalt. Der Schmerz ist unbeschreiblich. Er legt seinen Kopf, so sanft es ihm möglich ist, auf die winzige Brust, doch alles bebt. Im Innern des Vaters tausend Schreie, im Innern des Säuglings kein Herzschlag. Der Plüschhase lebt weiter.