Keiner
Als er am späten Abend die Tür zu seinem Büro hinter sich zufallen ließ und seine Tasche unterhakte, um abzuschließen, wunderte er sich, dass von der Kneipe nebenan keine Stimmen zu hören waren. Normalerweise waren um diese Zeit die Stammtische voll besetzt und die Skatspieler hatten schon einige Bier intus. Aber vielleicht war der Wirt auch im Urlaub.
Unten angekommen sah er noch kurz in den Briefkasten, fand aber keine Post. Draußen war alles ruhig, eigentlich zu ruhig für einen Freitagabend. Nur das seltsame Geräusch in seinem Ohr, dass ungefähr um ein Uhr mittags begonnen hatte, ihn zu nerven, war immer noch da. Es war ein Summen, manchmal wurde es stärker, dann wieder war es kaum zu hören. War das der Stress?
Er ging zur Straßenbahn, die um diese Zeit nur alle halbe Stunde fuhr. Die nächste würde gleich kommen, deswegen musste er sich beeilen. Etwas schneller als sonst ging er die Hauptstraße hinab. Es fing an zu regnen und er zog die Kapuze über. Niemand sonst war zu sehen.
An der Haltestelle wartete er, aber keine Bahn kam. Er sah noch mal auf die Uhr, sie zeigte 23.35 Uhr. Die Straßenbahn hatte bald zwölf Minuten Verspätung. Also beschloss er, die zwei Kilometer nach Hause zu laufen. Irgendwann würde schon eine Bahn kommen. Was war passiert?
Während er die Straße entlang der Schienen in Richtung seiner Wohnung lief, hörte es auf zu regnen. Er sah sich um, konnte aber immer noch keinen Menschen entdecken. Auch kein Auto fuhr auf der Straße. Als um viertel vor zwölf eigentlich die Glocken der nahe gelegenen Kirche hätten läuten müssen, aber es nicht taten, wurde er stutzig.
Er lief schneller und erreichte schließlich die Bahnhofsbrücke. Ohne weiter nachzudenken, lief er die Wendeltreppe hinauf, um von oben einen Blick auf die Gleise werfen zu können. Doch die Bahnsteige waren leer. Keine Seele rührte sich dort, wo um diese Zeit immer späte Reisende, Jugendliche und die Gestrandeten der Gesellschaft herumstanden. Er blieb am Geländer der Brücke stehen. Nichts war zu hören. Nur der Ton in seinem Ohr wurde wieder lauter und schien schriller zu werden.
Er rief, aber niemand antwortete. War da ein leises Echo, das zu ihm zurückkam von den Gleisen und Dächern? Er rief wieder, wartete, rief erneut. Aber nichts. Er war allein.
Hastig nahm er seine Tasche, lief los, irgendwo mussten doch Leute sein. Gedanken schossen ihm durch den Kopf. War es ein Unfall in einem Kraftwerk? Eine Seuche? Ein Putsch? Er hatte den ganzen Tag nur in seinen PC gestarrt, sicher war etwas in den Nachrichten gekommen. Und was war mit diesem Geräusch in seinem Kopf? Jetzt erst merkte er, dass er beinah rannte.
Dabei sah alles ganz normal aus. Die Autos standen geparkt wie immer. Die Lichter in den Schaufenster leuchteten, auch in vielen der Wohnungen war Licht. An einer Haustür blieb er stehen, klingelte bei einem der Namen, dann bei einem anderen, schließlich bei allen, aber nichts geschah. Er suchte nach einem offenen Hauseingang und trat ins Treppenhaus. Der Lichtschalter funktionierte, er läutete an der ersten Wohnung. Nichts. Dann fasste er einen Entschluss. Er lief wieder hinunter und sah durch die Fenster. Drinnen war aber kein Mensch zu sehen. Mit seiner Tasche schlug er gegen das Glas. Der Griff ließ sich drehen und er kletterte in die Wohnung.
Im Wohnzimmer fand er den Fernseher, aber der ging nicht. Es war Strom auf dem Gerät, aber kein Bild kam. Auch das Radio in der Küche hatte keinen Empfang. Genauso war es mit dem Radio im Bad und mit der Stereoanlage im Zimmer, das einem Jungen gehören musste. Erschöpft sank er auf das Bett und saß dort einige Zeit. Dann bemerkte er, wie der Ton in seinem Ohr langsam lauter wurde, noch tat es nicht weh, aber wie würde es damit weitergehen? Wo sollte er hin?
Plötzlich glaubte er, draußen einen Schatten vorbeigehen zu sehen. Er stürzte zum Fenster, aber konnte aber niemanden erkennen. Jetzt konnte er das Geräusch wieder hören. Es wurde lauter und begann in seinem Schädel zu pochen. Er hielt sich die Schläfen, Müdigkeit überfiel ihn und er musste sich in einen der Sessel setzen. Dann setzte sein Bewusstsein aus.
Als ihn die Morgensonne weckte, war er sich nicht sicher, was er erlebt hatte. Der schwarze Bildschirm und die zerschlagene Scheibe erinnerten ihn sofort an die letzte Nacht, aber erst ein Blick auf die Straße zeigte ihm, was er bereits befürchtet hatte. Niemand war zu sehen, die Stadt war leer. War es überall so? dachte er. Entkräftet und unsicher lief er los, lief durch die Straßen im Bahnhofsviertel, kam in entlegene Stadtteile, ohne jemanden zu treffen. Nur ein halber Kilometer trennte ihn jetzt noch von der Autobahn. Dort mussten doch Menschen sein, vielleicht auf der Flucht, vielleicht Tote, irgend jemand?
Als er an die Auffahrt kam, lief er mitten auf der Fahrbahn weiter. Am Ende der Kurve blieb er nur kurz stehen, rannte dann weiter zur Mittelleitplanke. Den Anblick der leeren Autobahn ertrug er nicht. Schweiß lief ihm über die Stirn.
Dann war das Geräusch wieder da, er spürte es in seinem Kopf und seiner Brust. Er stolperte die Fahrbahn entlang, begann zu laufen, wollte sich vor dem immer stärker werdenden Ton verstecken, doch wohin sollte er gehen? Das Geräusch wurde stärker und schien seinen ganzen Körper zu durchdringen. Als er auf die Knie fiel, sah er es: sein Hände begannen, sich aufzulösen, zu verschwinden. Er konnte durch seine Handflächen bereits den Asphalt sehen. Auch seine Beine, sein Bauch, alles wurde durchsichtig und verschwand. Unwillkürlich nahm er die Hände vors Gesicht, doch er spürte seine eigene Berührung nicht mehr. Wieder wurde der Ton lauter.
Er schrie.