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Kerzenorakel
In der Wohnung hatte sie alle Lichter ausgemacht. Nur am anderen Ende, in ihrem Schlafzimmer, hatte sie eine Kerze brennen lassen. Sie hatte es mit Absicht getan. Sie liebte diesen kleinen Reiz, doch heute sah sie es als Orakel. Ja oder nein, zu diesem Leben, zu der Gegenwart, zu ihr. Sie sagte zu sich, als sie sich im Schlafzimmer auszog: „Ein Leben bei dem nicht von Zeit zu Zeit alles auf dem Spiel steht, ist nichts wert.“ Dann brauchte sie sich auch nicht die Schuld zu geben, wenn alles lichterloh brannte, alles abfackelte und dann zu Asche und Staub wurde. Sie fragte sich was aus ihr, in der Badewanne liegend, werden würde, ob das Wasser sie vor dem Feuer, vor der Welt beschützen würde? Oder verdampfte es? Das hätte sie an allen andern Tagen geglaubt, weil es doch physikalisch am einleuchtendsten war, aber heute war alles anders, tief im Innern wusste sie es, aber heute wollte sie glauben, dass es sie beschützte.
Auf dem Weg ins Badezimmer, dachte sie darüber nach was sie mitnehmen würde, falls ihr Orakel nein sagte. Wenn sie richtig Mut hätte, liesse sie alles zurück, dachte sie, leider hatte sie aber keinen. Sie dachte an ihr Fotoalbum, ihren Reisepass, ihre ganzen Unterlagen für das Auto, die Wohnung, lauter Papierkram. „Wie Scheisse mein Leben doch ist, ich klammer mich an dumme, unnütze Dinge, alles sinnlos, wie ich“, schrie sie in sich selbst hinein. Es hallte ihr durch den Kopf, der ihr in diesem Moment unglaublich hohl vorkam.
Ich muss ihn füllen, ich sterbe sonst, ich muss ihn füllen, schnell. Eine Todesangst überfiel sie, ganz plötzlich, sie wusste sie musste ihren Kopf füllen, nicht mit Gedanken, sondern mit Masse. Auf halben Weg machte sie ruckartig kehrt, rannte in die Küche und riss den Kühlschrank auf. Unüberlegt packte sie die Spagettischüssel, die noch halb gefüllt war. Sie liess sie in ihrer Hektik fallen, Spagettis mischten sich mit Scherben, sie sah es gar nicht und stopfte ihren Mund, kaute, schluckte. Sie dachte, wenn nur erst ihr Magen bis oben hin gefüllt war, dann füllte sich doch der Hals, und danach, logischerweise, der Kopf. Und sie ass und ass. Und als alle Spagettis weg waren, kam der Rest des Kühlschranks dran, ob essbar oder nicht, sie schluckte es. Sie spürte keine Fülle, keinen Ekel, keine Übelkeit.
Nach einer Zeit, sie war nicht in Minuten und Stunden auszudrücken, doch soviel war sicher, das Teelicht in ihrem Schlafzimmer war längst ausgebrannt, nach dieser Zeit, stand sie auf, leer, viel leerer als vorher, und ging ins Badezimmer, legte sich in die Badewanne, wartete und dachte an die Kerze. Sie war nicht umgekippt, das Haus, ihre Unterlagen, der Pass, das Fotoalbum, alles noch da. Das Orakel sagte ja, meinte aber wohl doch nein.