- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Kick
Kick (überarbeitet)
"Weißt du, wie es sich anfühlt tot zu sein?"
Die Pille hatte eben erst sein Gehirn erreicht und entfaltete dort nun die glitzernd und bunt ihre Wirkung.
Ihre Stimme hallte in seinem Kopf wie in einer riesigen Kathedrale mit hohen Steinmauern und dunklen Ecken. Er sah die Worte vor sich, wie sie tanzend durcheinander wirbelten und gegen Wände stießen, bevor sie sich wieder zusammen fügten und er ihren Sinn verstand.
"Hm?"
"Ich habe dich gefragt, ob du weißt wie es ist, tot zu sein."
Oh Scheiße ... Immer das Gleiche mit diesen blöden Weibern. Warum konnten sie denn nicht endlich mal begreifen, dass man nach dem Sex am besten einfach die Klappe halten und eine Zigarette rauchen sollte? Aber in Ordnung, wenn das Mädchen neben ihm so scharf auf eine postkoitale philosophische Diskussion war, dann ließ sich das jetzt nicht ändern.
Auch wenn sich die Droge gerade schwer auf seinen Lippen und dem Rest seines Verstandes niederließ, wollte er sich Mühe geben.
"Wie kommst du denn auf so was? Jemand gestorben, den du kennst?"
Er wartete auf ihre Antwort. Auf eine mit Tränen belegte Stimme, die Trost für eine kürzlich verschiedene Großmutter oder wahlweise ihrer vom Auto überrollten Katze forderte.
Sie schien eigentlich nicht der Typ für so einen sentimentalen Schwachsinn zu sein - aber bei Mädchen konnte man das wohl nie so genau voraus sagen.
"So meine ich das nicht, du Idiot."
Sie stand auf, um aus ihrer zuvor achtlos neben das Bett geschleuderten Tasche eine Schachtel Zigaretten zu kramen und sich eine davon in den Mund zu stecken.
"Kennst du das Gefühl, völlig leer zu sein? Wenn nichts, gar nichts, für dich auch nur noch die geringste Bedeutung hat?"
Natürlich kannte er dieses Gefühl. Bei ihm stellte es sich vorzugsweise an verkaterten Tagen nach einer zu langen Nacht mit viel zu vielen Pillen ein - und das hätte er ihr auch deutlich gesagt, wenn ihm nicht in diesem Moment das flackernde Licht des Feuerzeugs einen kurzen Blick auf ihre nackten Brüste geschenkt hätte.
Auf Pille zu Ficken war einfach das Beste. Keine Spur von "Tot sein" und "Nichts fühlen" und solchem depressiven Blödsinn...
Er hatte sie auf der Tanzfläche gesehen, mitten in der Masse aus zuckenden schwitzenden Körpern.
Zu diesem Zeitpunkt war sein Kopf noch ziemlich klar. Trotzdem kam es ihm so vor, als würde sie nicht einfach tanzen, sondern vielmehr mit der Musik verschmelzen.
Anders als die meisten Mädchen sah sie sich nicht um, um die Wirkung ihrer Bewegungen zu kontrollieren oder die bewundernden Blicke der Jungs und die neidischen der Frauen zu zählen. Sie schien nur für sich selbst zu tanzen und gerade das machte sie so einzigartig wie einen Schmetterling in einem Schwarm von Nachtfaltern.
Er war nicht der Einzige, dem sie auffiel: Einer der typischen muskelbepackten Kerle von der Security hatte sie schwungvoll auf eine der Boxen gehoben, und dort stand sie dann mit geschlossenen Augen und ließ sich von der Musik bewegen.
Ihr Gesicht sah er zum ersten Mal in dem schmalen dunklen Gang, der zu den Toiletten führte. Er war noch damit beschäftigt, seinen Gürtel wieder zu schließen, als sich plötzlich eine Hand auf seine Brust legte. Sie stand vor ihm und sah ihn an. Er war überrascht, wie klar ihre Augen waren, denn er hätte seinen BMW auf ihren Drogenkonsum verwettet. Niemand konnte nüchtern so cool sein.
Sie musterten sich gegenseitig, und mit geübtem Kennerblick erkannte er sofort, dass es sich lohnen würde sie zu ficken. Sogar, wenn sie darauf bestehen würde, dafür zu ihr nach Hause zu gehen und er sich irgendwann ein Taxi leisten müsste.
Er hasste es, nach einer wirklich netten Nacht neben irgendeinem Mädchen aufzuwachen und im Sumpf der vernebelten Erinnerungen nach ihrem Namen zu wühlen.
Ganz zu Schweigen von einem verkaterten Frühstück, bei dem das Wesen ihm gegenüber ungeschminkt und mit bläulichen Augenringen meist nur noch flüchtige Ähnlichkeiten mit dem begehrenswerten Aufriss aus der Disco aufwies und tatsächlich so etwas wie eine romantische Konversation erwartete ... Nein, er hatte seine Lektion gelernt und außerdem für besonders hartnäckige Fälle stets eine nichtexistente Telefonnummer im Kopf.
Sie drückte ihn gegen die Wand und lächelte ihn an. Dabei öffnete sie leicht ihren Mund und zeigte ihm so die beiden Pillen auf ihrer Zunge. Das zuckende Laserlicht ließ ihre dunklen Haare bläulich schimmern und brachte die winzigen Schweißtropfen auf ihrem Dekollete zum Leuchten.
Er küsste sie und nahm sich so eine der Pillen.
Die Nächsten servierte ihnen der Barkeeper auf ein Zeichen von ihr praktisch und diskret in zwei Cocktails. Sie schien über beneidenswerte Verbindungen zu verfügen. Aber trotz der kleinen Glücksbringer waren die dunklen Augen, die er manchmal im Blitzlicht ausmachen konnte immer noch nicht glasig und verschleiert.
Er hätte von sich gern das Gleiche behaupten können, aber was ihn dann schnell wieder klar werden ließ, war ihre Hand. Sie glitt plötzlich so selbstverständlich und ruhig zwischen seine Beine, als würde sie nach ihrem Cocktailglas greifen.
"Lass uns gehen."
Die Glut ihrer Zigarette flammte in regelmäßigen Abständen in der Dunkelheit auf.
"Was fühlst du?"
Hatte er es nicht gesagt? Warum mussten Mädchen immer reden? Was sollten diese dämlichen Fragen? War sie denn nicht langsam auch mal drauf?
Er hatte sie mindestens vier Pillen schlucken sehen ... oder doch mehr? Und trotzdem bewegte sie sich immer noch mit der gleichen fließenden Ruhe, die er vor Stunden auf der Tanzfläche bewundert hatte.
Sie kam zu ihm zurück und ließ sich neben ihm auf das Bett fallen. Bisher hatte er sich nicht die Mühe gemacht, sie genauer anzusehen. Aber jetzt erkannte er, dass sie wirklich schön war. Auf jeden Fall attraktiver als jedes Mädchen, das er in den letzten Monaten nackt gesehen hatte.
"Ich fühle, dass ich dich noch mal ficken will, wenn du es so genau wissen willst."
Ihr Lachen streifte seine Haut wie ein sanfter Windhauch an einem glühendheißen Tag im Sommer.
"Meinst du wirklich, dass dir das weiterhelfen wird? Nein, ich glaube, ich habe da eine bessere Idee."
Besser als Sex? Vielleicht hatte sie Koks da. Das wäre jetzt allerdings auch nicht zu verachten. Ein weiterer Kick für diese Nacht, der den Regler seines Selbstwertgefühls bis zum Anschlag aufdrehen würde.
"Willst du dich mal richtig lebendig fühlen? Ich denke, ich kann dir etwas geben, dass du nicht ganz so schnell vergessen wirst wie den Rest deines Lebens."
Wahrscheinlich war sie doch ganz schön zu. Natürlich war sie sehr hübsch und auch im Bett alles andere als mittelmäßig. Aber das klang jetzt trotzdem ein bisschen arrogant.
„Na, da bin ich ja mal gespannt.“
Er lächelte sie an und fuhr mit seinem Finger über die Innenseite ihres Oberschenkels.
„Ich verspreche es dir. Es wird besser als nur Sex sein. Unvergesslich und ein echter Kick.“
Er schloss die Augen und spürte, wie sie wieder aufstand.
Musik. Lauter, sehr lauter Techno, dessen Beats sein Herz ihrem Rhythmus anzupassen zwangen.
„Schau mich an!“
Sie stand in der Mitte des Raumes und tanzte. Und diesmal nur für ihn. Die riesigen Fenster hatten keine Vorhänge und die Sterne drehten sich draußen in der Nacht wie eine endlose Zahl von Discokugeln. Und auch sie war ein weiß leuchtender Stern.
Bisher zu diesem Moment war Liebe für ihn nichts als ein abstrakter Begriff gewesen.
Aber jetzt sehnte er sich danach aufzustehen und sie in seine Arme zu nehmen. Nicht, um sie zu ficken und danach zu vergessen wie alle anderen vor ihr. Vielleicht lag es auch nur an den Pillen, aber er wollte sie festhalten, sein Gesicht zwischen ihre perfekten Brüste legen und den Duft ihrer Haut atmen. Er wollte sie schmecken, mit ihr schlafen, ihren Atem an seinem Hals spüren und danach neben ihr liegen und in ihre Augen sehen. Sie war seine perfekte Drogenprinzessin, der ultimative Kick, nachdem er gesucht hatte. Wenigstens bis morgen früh.
Aber er konnte sich nicht bewegen, sondern nur auf ihrem großen Bett liegen und warten, bis sie zu ihm kam.
Sie setzte sich auf ihn und er griff mit beiden Händen nach ihren schmalen Hüften. Aber sie entzog sich ihm und holte etwas unter dem Bett hervor. Er spürte kühles Metall an seinem Handgelenk. Sie zog seinen Arm nach hinten und er hörte ein leises Klicken.
Ihr nächster Kuss war zärtlicher und weniger fordernd als bisher. Ihr Atem schmeckte nach rosafarbenen Kaugummi und süßem Lipgloss. Sie strich ihm sanft das Haar aus der Stirn und legte ihm ein Tuch über die Augen.
Dann löste sie sich von ihm und ließ ihn blind und gefesselt auf dem Bett zurück. Für einen Moment fühlte er sich hilflos und ausgeliefert - und zwar über das Maß hinaus, das er erotisch fand.
Die Musik wurde noch lauter und er fragte sich, ob die Nachbarn wohl bald sturmklingelnd vor der Tür stehen würden.
Dann spürte er ihre Lippen und vergaß diesen Gedanken.
Ihre langen Haare kitzelten seinen Bauch und während sie ihn leckte, explodierte hinter seinen Augen ein Wirbel aus Farben.
Mit seiner freien Hand griff er in ihr weiches Haar um ihren Kopf nach oben zu ziehen. Er bezweifelte schwer, dass sie zu den Frauen gehörte, die eine verfrühte Ejakulation nur mit einem sanften Lächeln kommentierten. Sie schien sein Zeichen zu verstehen und setzte sich auf ihn.
Bisher hatte er sich beim Sex noch nie als den passiven Part betrachtet. Aber jetzt erfuhr er zum ersten Mal, wie es sich anfühlte, von einer Frau gefickt zu werden. Eine ihrer Hände hielt sein freies Handgelenk fest, die andere lag sanft auf seinen Hoden. Als er versuchte, ihre Bewegungen in seinen eigenen Rhythmus zu zwingen, verstärkte sie ihren Griff für einen Moment. Die Musik war so laut, dass er sein Keuchen mehr spürte als hörte.
Plötzlich gab sie nach. Ihre Bewegungen wurden langsamer, und sie überließ sich ihm. Er freute sich darüber, weil ihm das zeigte, dass sie ein richtiges Mädchen war und letztendlich doch von ihm gevögelt werden wollte.
Sein Höhepunkt war besser als jemals zuvor. Ein Gefühl, als würde er sein ganzer Körper zerspringen und gleichzeitig von ihr wieder zusammengefügt werden.
Sie sank nach vorne und ihr Körper lag weich und nachgiebig auf ihm. Mit seiner freien Hand tastete er nach ihrem Gesicht. Aber statt ihrer weichen warmen Haut, spürte etwas Heißes. Klebrig, dickflüssig und außerdem der seltsame Geruch von Kupfer.
Als er seinen Mund öffnete, füllte sich dieser mit einer salzigen Flüssigkeit, bevor er begriff, dass das kein Trip mehr war.
Er riss sich das Tuch vom Gesicht. Panisch tastete er mit der freien Hand nach dem Lichtschalter. Als er ihn gefunden hatte, stach grelles Licht in seine Augen. Seine Hand war rot, als hätte er sie in Farbe getaucht. Oder in ihr Blut. Der Schock überflutete ihn wie eine eiskalte Welle.
Er packte sie an der klebrigen Schulter und drehte sie auf den Rücken. Das Messer steckte tief in ihrem Hals. In der weichen Grube zwischen ihren Schlüsselbeinen, die er vor ein paar Minuten noch zärtlich mit seiner Zunge erforscht hatte. Das Blut schoss aus der Wunde wie Wasser aus einem Springbrunnen.
"Scheiße, was hast du gemacht?"
Seine Zähne schlugen hysterisch aufeinander. Ein Arzt, dachte er. Sie braucht einen Arzt. Blaulicht und einen Krankenwagen. Er versuchte aufzustehen, aber er war noch immer ans Bett gefesselt.
„Der Schlüssel! Wo ist der verdammte Schlüssel?“
Er kannte ihren Namen nicht und seine Hand verfing sich in ihren feuchten dunklen Haaren. Sie gab einen seltsamen gurgelnden Laut von sich. Ihre verschleierten Augen starrten ihn an. Er hätte schwören können, dass sie lächelte, aber das konnte nicht sein. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er wollte weg, raus! Raus aus diesem Zimmer, aus dieser Wohnung, diesem Albtraum. Sein Kopf weigerte sich zu denken und seine Panik gewann die Oberhand. Sie lag noch immer halb auf ihm, und er wälzte sich unter ihr hervor und schrie.
„Sag mir, wo der Schlüssel ist!“ Er hatte Angst, sie anzufassen und sie damit am Ende noch mehr zu verletzen.
Er wünschte sich Bewusstlosigkeit, stattdessen fühlte er sich so schmerzhaft klar wie selten zuvor in seinem Leben. Niemand würde seine Schreie hören und sie beide retten kommen. Die Musik war zu laut.
Er tat das Einzige, was ihm übrig blieb, griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Er tastete nach ihrem flachen, schnellen Puls und schloss die Augen.
Später konnte er nicht sagen, wie lange er dort neben ihr gesessen hatte.
Er wusste nur, dass sie tot war, als er schließlich den Schlüssel für die Handschellen auf dem Boden neben dem Bett entdeckte.
Er konnte ihn mit seiner freien Hand gerade noch erreichen und sich endlich befreien. Als er aufstand, gaben seine Beine augenblicklich unter ihm nach. Vor seinen Augen der helle Parkettboden und ihr rotes Blut. "Kontraste" schoss es durch seinen Kopf. Er kotzte. Schloss die Augen und sah sie immer noch vor sich. Dunkle, lange Haare ohne Locken. Feuchtverklebte Strähnen in einem schmalen hellen Gesicht. Zart. Ihr Körper ein zerdrückter Schmetterling. Und überall ihr Blut. Auf ihrem Körper, auf dem Bett, dem Boden und sogar an der Wand. Er hatte nicht gewusst, dass ein Mensch so sehr bluten konnte.
Irgendwann gelang es ihm, seine Boxershorts anzuziehen und aus dem Zimmer zu taumeln. Das Telefon stand im Flur.
Er bemerkte erst, dass er heulte, als er versuchte, dem Polizisten am anderen Ende der Leitung seine Situation begreiflich zu machen. Es dauerte lange, bis er sich an die Adresse erinnern konnte, die sie dem Taxifahrer genannt hatte.
Anschließend lehnte er sich erschöpft gegen die Wand und starrte auf die halboffene Tür zu ihrem Zimmer.
Sie hatte nicht mit allem Recht gehabt. Er fühlte sich nicht lebendig, sondern nüchtern und leer. Wie tot.
Und plötzlich wusste er, dass genau das ihr Plan gewesen war. Sie hatte ihn gezwungen, den finalen Kick ihres Lebens, ihr Sterben, mit an zu sehen. Er aber hatte den Rest seines Lebens in dem Moment vergessen, als sie neben ihm starb.
Er schloss die Augen und wartete auf das Eintreffen der Polizei.