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Kinder für Kinder
Sie hatte eine Leere in den Augen, diesen Ausdruck stumpfer Gleichgültigkeit, wie bei Autisten. An die hohe, gerunzelte Stirn heftete sich eine spitze und gebogene Nase; und die fleischigen Lippen schimmerten als zwei knallrote Linien in dem blassen Gesicht. Sie war hässlich. Hatte irgendwie etwas Jungenhaftes. Kurze Locken kurvten über Schläfen und kleine Ohren. Auf dem Foto hatte sie besser ausgesehen, überbelichtet, vermutlich am Computer mit Photo Shop bearbeitet. Der Torso, breit in Hüften und Becken auslaufend, thronte auf stelzenartig dünnen Beinen. Aber wen interessiert das schon? Wenn ich die Augen schließe, ist sie eine Frau wie jede andere auch. Ich fragte:
"Und wie heißt du?"
"Emily."
"Du gefällst mir, bist hübsch.", log ich.
Schweigend folgte ich ihr eine von Arkadenreihen gesäumte Allee hinab, betrachtete den Himmel, der kein Himmel mehr war. Eine Kulisse aus Grau wölbte sich über schneebedeckte Schieferndächer; schwach durchleuchtet von der unsichtbaren Sonne, die den Schnee vorher zu Matsche und Pfützen geschmolzen hatte.
"Schön hier.", sagte ich, um irgend etwas zu sagen.
"Nicht wirklich. Ist ein Kaff. Wir haben nicht einmal nen Puff. Eine Stadt zeichnet sich dadurch aus, dass sie einen Puff hat. Ansonsten ist es nur en Kaff.", entgegnete sie trocken.
Vor einem grauen Quadrat hielten wir. Ihr Zuhause, Altbau, dunkle Fenster schauten auf stille, leere Cafes, Läden, in deren Schaufenstern sich Lichterketten um künstliche Tannenbäume schlangen und Neonreklamen zuckten. "Da sind wir.", sagte sie und lächelte matt und erschöpft, Röte hatte sich über ihre Wangen gezogen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, sie sei desinteressiert, was ich als ziemliche Kränkung empfand. Ihre Wohnung bestand aus vier Räumen inklusive der blau gefliesten Eckküche und dem unhygienischen Bad mit den von ihren Locken verstopften Abflüßen. Es roch nach Hund. Sie hatte einen Eurasier namens Sam; der Hund leckte meine gefrorenen Hände nass und sah mit seinem krausen, hellen Fell aus, als hätte er zuvor an einer Steckdose geleckt. Da er bellte, gab sie ihm Futter und er verstummte, lag bloß noch wie ein ausgestopftes Tier in der Ecke vor seinem Napf. Wir nahmen im Wohnzimmer Platz; metallene Bücherregale, ein Fernseher auf einer Mahagonikommode, der schon bei unserer Ankunft flimmerte und ein Poster des Films Attack of the 50 Foot Woman bedeckten die halbe Wand. Darauf war die riesige Amazonin gebeugt über eine Schnellstraße zu sehen, in der Gigantenhand ein Auto zerquetschend. Ansonsten sah ich ein Chaos von geöffneten und ungeöffneten Kartons. Sie sagte, sie sei gerade erst eingezogen, aber aus dem versifften Bad, überquellenden Aschenbechern und dreckigen Geschirr, dass sich in der Spüle stapelte, schloß ich, dass sie vor Scham log. Uns trennte bald Schweigen und ein halbrunder Tisch, auf dem sie uns Pfefferminztee servierte. Dann fragte ich:
"Machst du das öfters?"
"Mich mit Leuten aus dem Internet zum Ficken treffen? Jau."
"Wie oft so?"
"Ich führe keine Listen."
"Also kannst du sie nicht mehr an einer Hand abzählen."
"Ich habe nicht das Bedürfnis, sie überhaupt zu zählen."
Wir fanden kein Thema, unser Gespräch wandelte sich zum ermüdenden Austausch von Monologen. Ich erzählte von meinem Dasein als Germanistikstudent und unentdeckter Poet. Sie bemühte sich im Gegenzug nicht, ihre Geringschätzung zu verbergen, erzählte vom anspruchsvollen Medizinstudium und der menschlichen Anatomie. Ich versuchte mich zu rächen, indem ich wiederrum meine Geringschätzung offenbarte: "Ziemlich trocken, mh. Würde mich nicht interessieren, so viele Fremdwörter." Und sie wölbte ihre schmalen dunklen Brauen unter drei Stirnfalten, verdrehte die Augen und erklärte: "Es ist interessant, zu wissen, warum man lebt." "Wenn man so unordentlich und verdreckt lebt wie du, wäre es allerdings interessant, zu wissen, warum.", konterte ich. Und als wir dann nur noch Verachtung für das Wesen des Anderen in uns spürten, zerrten und rissen wir aneinander, landeten auf dem cremefarbenen Sofa unter dem Fenster, dass auf die Schneeschicht über den Dächern schaute; Schnee, der vom Wind zu Schleiern aufgewirbelt wurde. Ich versuchte an ihren Locken zu ziehen, kriegte nichts zu fassen, sah vor mir, unbewegt, die Iris im Azurblau ihrer Augen schwimmen, sah ihre Haut, den Rücken mit zwei Muttermalen, die mich anschauten, während sie rittlings auf mir hockte. Ich zitterte und in mir zitterte es; Gänsehaut überzog meinen Nacken und Rücken. Nach fünf Minuten kam ich in ihr, bedeckte sie hektisch mit Küssen, streifte mir meine Klamotten im Bad über und erklärte, dass ich mich nicht mehr wohl fühle. Emily kicherte, das Augenzwinkern glich einem Flügelschlag. Ich verschwand, vorbei am Hund, dessen Augen zornig im Halbdunkel seines Winkels funkelten. Ins stille Treppenhaus, das Knarren der Stufen unter meinen Sohlen, rasch; ich kam mir schmutzig und unwürdig vor, in die verschneite Abenddämmerung tretend.
Und dann wurde sie schwanger. Ich horchte, starrte auf das Quadrat, welches das Fenster in die sternenlose Nacht hinein schnitt. Wolken schlangen sich um den Mond, ein rotes Leuchten blinkte, weiterziehend, im Schwarz; vermutlich ein Flugzeug. Am Telefon sprach nicht mehr die abgeklärte und geradlinige Emily, die ich bei unserem einstündigen Treffen kennengelernt hatte. In Tränen aufgelöst. Die zittrige Stimme brach ständig ab, dann krächzte sie bloß und heulte - ein Schluchzen, dass sich wellenförmig verstärkte und abschwächte. Ich stellte mir vor, wie sie in einem Meer aus verrotzten Taschentüchern hockte, mit verquollenen Augen.
"Ich habe einen Test gemacht. Dann noch einen; und weitere. Ich bin schwanger. Du musst her kommen. Bitte... Ich brauche Hilfe. Ich komm damit nicht allein zurecht."
"Moment mal... ich kann nicht einfach so zu dir fahren, jetzt, ich wollte gerade pennen... wir haben uns einmal getroffen. Hast du keine beste Freundin oder so was? Deine Eltern?"
Schweigen - ab und zu das Geräusch der Rotze, die sie in ihren Nasenlöchern hoch zog. Wie konnte sie mit so hirnverbrannter Selbstverständlichkeit erwarten, dass ich mich wie ein Samariter um fremde Probleme kümmere? Genau genommen: Um Probleme einer Fremden, die ich nicht ausstehen konnte.
"Ich kriege jetzt Besuch. Von einer Freundin.", erklärte ich.
Dann schluchzte und quiekte sie; ein Gekreische, dass schrill und unerträglich im Hörer klang: "Erst willst du pennen, dann kriegst du Besuch, du Bestie, Schluss, jetzt ist Schluss... verstehst du nicht, dass es möglicherweise dein Kind ist. Was bist du denn für ein erbärmlicher Mensch? Weißt du, was ein Gewissen ist? Du bist daran so beteiligt wie ich, dein verfluchter Samen! Wenn du irgendwo noch so etwas wie Herz hast, so etwas wie Verantwortungsgefühl, dann kommst du her oder ich jage dir die Richter von ganz Deutschland an den Hals; und werde dafür sorgen, dass die Richter Deutschlands erzwingen, dass du einsiehst, was es heißt seinen Samen so zu verteilen." Abrupt höhlte mich ein Nichts aus. Ich schloß die Lider, versank in dem ruhevollen Dunkel hinter geschlossenen Lidern, dass, durchdrungen von ihren Heularien, allerdings nicht beruhigte. Mein Kind, ein Klumpen Fleisch, der in ihrem Körper heran wuchs. Ein Möglicherweise schenkte mir Hoffnung, nichts Definitives. Sie gab sich zufrieden, als ich erklärte, sie am nächsten Tag zu besuchen. In der Nacht konnte ich kaum schlafen, fiel nur manchmal in einen dumpfen, halbwachen Dämmerzustand, in den sich Bilder von Emily schoben, Gedanken an dieses Kind, dass noch gar kein Kind war, dass kein Bewußtsein hatte, in ihrem Bauch. Ich dachte daran, was es sein könnte, wälzte mich in Unruhe hin und her.
Ihr Gesicht zeigte, was sie durchlebte: Leichenblässe überzog das aufgedunsene Gesicht. Ränder hatten sich unter den verheulten Augen gebildet, deren Blicke mal zornig in mich drangen, mal ziellos über die Decke irrten. Ich sah den Speck, der sich unter dem enganliegenden, grünen Top aufbauschte. Ich sah den Hund zu ihren nackten Füßen mit den kleinen Zehen liegen wie ein Teppich. Sie saß bewegungslos neben mir auf dem Sofa, rauchte eine Marlboro.
"Also, was ist dein Plan?", fragte ich.
"Sehe ich aus, als hätte ich einen Plan? Frag nicht so einen Scheiß!", fauchte sie, wie ein Drache, Rauchwolken ausatmend. Ich verstand nicht, warum ich sie gevögelt hatte. Verstand nichts, sah durch die Wohnung, Stühle und Schränke verlängerten sich zu Schatten; eine Unordnung von Magazinen bedeckte den Couchtisch vor uns.
"Du bist dir sicher, dass ich dich... geschwängert.... habe?"
"Ja, meinste, es war das Christkind oder was?"
"Du hast gesagt, du hättest... naja... schon häufiger so herum gevögelt... und du sagtest, es ist möglicherweise mein Kind. Ein Möglicherweise ist nichts Definitives. Du kannst mich ja nicht einfach in irgendetwas hier herein ziehen."
"Was bist du nur für ein verfluchtes Arschloch! Es ist definitiv dein Kind. Ich bin mir sicher."
Ich fragte mich, ob ich ihr vertrauen konnte. Sekundenlang schob sich ein Gequietsche aus der Wohnung über uns zwischen unser Gespräch. Als würde jemand Möbel verrücken. Ich versuchte, mich zu ordnen, schnappte mir eins der Magazine, nur um etwas in meinen zitternden Händen zu halten, knickte es.
"Also, wir haben zwei Möglichkeiten...", setzte ich an: "...Abtreibung oder..."
Schluckte. Mich überkam Schwindel. Ich wußte, dass ich erblasste, wie sie und malte mir das Bild aus: Wir zwei marmorne Skulpturen auf dem cremefarbenen Sofa, wir als Gegensätze, erbärmlich, voller Angst. Und all der Hunger nach Leben in mir war verschwunden, Träumereien, tot. Ich war so klein, ich bin selbst ein Kind, dachte ich und sagte:
"Dieses Kind darf nicht geboren werden."
"Das ist auch meine Entscheidung."
"Nein, niemals. Wir sind Kinder. Guck dich in deiner beschissenen, versifften Bude um. Wir haben uns im Internet zum Ficken getroffen, du Idiotin. Wir sind Kinder, nichts als das."
Sie verstummte, den Kopf senkend, sagte, sie müsse mal auf Toilette. Und mein Blick folgte dem apfelförmigen Rund ihrer Pobacken unter dem gespannten Stoff der Jeans, ich zögerte, lauschte dem Klicken der Tür. Ich dachte, weg hier. Tapste durch den Raum, schwindelig, Und schlich mich davon.