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kkaskkak
Kkaskkak
Seit meinem achten Lebensjahr schreibe und dichte ich. Mit zehn Jahren habe ich allen Mut zusammengerafft und habe meiner damaligen Klasse unangemeldet meine Lieblingsgeschichte vorgetragen. Die Reaktionen waren nicht schön.
Meine Lehrerin war so perplex gewesen, dass sie mich vortragen ließ ohne einzugreifen. Die anderen Kinder waren erst ganz still, lauschten meiner Geschichte vom Puppenspiel und Krokodil, aber bald fingen die Mädchen an zu kichern. Ich wurde nervös. Sehr nervös. Es dauerte nicht lange und ich begann zu stottern, was den Vortrag vollkommen zum Absturz brachte.
Das anfängliche Kichern der Mädchen verwandelte sich nun in ein allgemeines Gröhlen und kurz danach schmissen sie mit Sachen nach mir, derer sie habhaft werden konnten. Aber ich presste und stauchte immer noch Worte hervor. Ich wollte es ihnen unbedingt erzählen. Dieser Drang war stärker als aufzugeben.
Ich weiß nicht mehr wie lange die Lehrerin mich schüttelte – so in Trance war ich. Ich glaube sogar sie hat mich geohrfeigt, damit ich endlich aufhöre und Ruhe gebe. Schließlich packte sie mich und schaffte es mit mir vor die Tür.
Da stand ich nun mit meiner Lehrerin auf dem Linoleumflur. Hinter meiner Klassentür ging es noch hoch her. Meine Lehrerin aber, schaute mich nur stumm an, nahm mir den Zettel mit meiner Geschichte aus der Hand, las und schüttelte dann den Kopf. Das traf mich mehr, als alles andere zuvor.
„Beruhig Dich erstmal“, meinte sie nur und ging dann, ohne mich mitzunehmen, wieder hinein.
Das Bild werde ich nie vergessen, wie ich alleine im Flur stand. So ausgegrenzt hatte ich mich nie zuvor gefühlt. Da merkte ich erst, dass ich weinte. Wenn Schreiben solche Katastrophen verursacht, wollte ich es nie wieder tun. Das hat mich so traumatisiert, dass ich lange Zeit eine Schreibblockade hatte.
Kurz nach meinem Vortragsdesaster erhielt ich vom Psychologen ein Attest, dass es mir unmöglich sei, Aufsätze zu schreiben. Das ging so bis zur zehnten Klasse. Ich konnte einfach nichts aufschreiben. Kennen Sie Menschen mit Phobien? Dann wissen Sie wie entsetzlich es ist, wenn man sie mit dem Objekt ihrer Angst konfrontiert. Sie fangen an zu zittern und zu schreien und wollen nur noch eines: weg. Ganz weit weg.
Sprachunterricht war mit mir daher kaum möglich. Es war ganz schlimm. Meine Familie hat sehr darunter gelitten. In der Nachbarschaft war ich nur der kleine Spinner. Die Kinder haben mit Füller und weißen Blättern mir aufgelauert und riefen immer „Tintenschisser, Tintenpisser“. Es war so schlimm geworden, dass ich den Wunsch hatte, auf eine andere Schule – und sei es eine Sonderschule – versetzt zu werden.
Meine Stiefmutter, Angelika, wollte mich aber nicht auf eine Sonderschule schicken. Schon gar nicht wollte sie: wegziehen. Sie meinte zu mir, dass es zuviel Geld kosten würde, mich woanders hinzuschicken. Wenn ich darauf bestanden hätte, hätte sie darauf bestanden, mich zur Adoption freizugeben oder auszusetzen. Die Hexe!
Ich glaubte ihr damals, weil ich instinktiv wusste, dass Vater alles tun würde, was sie sich wünschte - und weil Helge, mein älterer Bruder, keine Gelegenheit ausließ, mir zu versichern, dass Angelika Vater verhext hätte. Das hätte er mit eignen Augen gesehen. Mehrmals.
Was ich damals nicht begriffen hatte, war, dass Helge von der Sexbesessenheit meines Vaters wusste. Die Verhexung, von der Helge gesprochen hatte, war alles andere als paranormal oder mystisch-märchenhaft. Die Wahrheit war einfacher: Meine Eltern filmten sich beim Sex - und mein Bruder Helge hatte die entsprechenden Kassetten gefunden. Wahrscheinlich mehr für den „Eigenbedarf“, als für die spätere Aufklärung seines kleinen Bruders, hatte er heimlich Kopien von Vaters und Angelikas Sitzungen gezogen. Dieser Wissensvorsprung verlieh Helge eine Autorität, dass ich jahrelang nicht an seinen Worten zweifelte.
Erst sehr viel später, ich muss so, um die Siebzehn gewesen sein
und mein Glauben an Verhexungen arg gelitten haben, weihte mich Helge in sein Geheimnis ein. Seinen eigenen Vater beim Pimpern zu beobachten, war für mich kein Spaß. Aber Helge fand es geil. Ich glaube wenn ich nicht dabei war, hat er sich auf die Dinger einen runtergeholt. Damals ganz sicher. Ich glaube er stand auch auf Angelika. Aber ich möchte gar nicht mehr wissen was da im Einzelnen gelaufen ist. Das ist alles so ekelhaft ...
Als ich noch als Steppke zur Schule ging, wusste ich natürlich noch nichts von diesen Sachen und erst recht nichts von diesen Videos,
aber ich spürte, ich sah es ja jeden Tag, dass Vater Angelika aus der Hand fraß. Er hätte alles für sie gemacht. So habe ich Tag für Tag die Hänseleien aushalten müssen und war der Trottel vom Dienst.
Es wurde erst besser, als sich unsere neue Nachbarin – Ursula -bei uns vorstellte. Sie wollte gleich, dass ich sie duze. Ursel sollte ich sie nennen. Oder kleine Bärin. Aber nur wenn ich alleine mit ihr war. Jedenfalls hatte sie diese Atemübungen drauf. Sie machte Eurythmie und arbeitete halbtags in einem Anthroposophischen Krankenhaus. Sie sagte, ich sollte das auch machen, denn es könnte meine Seele befreien. Damit meinte sie die Atemübungen.
Im Krankenhaus erlebe sie es immer wieder, dass sie am Ende einer Übung die Seelen der Menschen sehen könne. Die Seele würde sich vom Körper lösen und vor ihr schweben. Das sei immer sehr erhebend und die Patienten seien danach immer so gereinigt. Meine Seele befreite sie nicht. Auch wenn sie darauf bestand, sie hätte sie bei den Übungen gesehen. Aber sie schaffte es, meine Angst vor dem Papier zu beseitigen. Zwar in kleinsten Schritten und auch nur Stück für Stück.
Wir fingen mit Buchstabensuppe an und arbeiteten uns über selbst gemachte Wortkekse, Magnetbuchstaben, Touchscreens und Textverarbeitungsprogramme bis an ein weißes Blatt vor. Den letzten Schubs hatte sie mir gegeben, als ich sie außerhalb unserer inoffiziellen Therapiesitzungen besuchte und sie mich ganz nebenbei bat, kurz etwas aufzuschreiben, weil sie ihre Hände grad nicht frei hätte. Ich war irritiert, weil ich nicht wusste, wie ich ihre Bitte erfüllen sollte und da sagte sie ganz spontan: "Da liegt was zum schreiben."
Ohne darüber nachzudenken, habe ich aufgeschrieben was sie mir sagte und dann konnte ich gar nicht mehr aufhören zu schreiben. Ich musste schreiben, weil ich Angst hatte mein Kopf würde platzen. Er war mit einem Schlag voller Wörter, Wörter die ich nie zuvor gehört hatte, vertraute Wörter und natürlich auch Namen und Geschichten. Es war wie im Fieberwahn – ich schrieb und schrieb und schrieb.
Erst hatte Ursel gedacht der Block würde ausreichen aber der war ratzfatz voll geschrieben und ich schrieb einfach auf der Tischdecke weiter. Da wollte sie mich bremsen, aber ich schrie wie am Spieß! Als sie mir den Griffel wegnehmen wollte, schrie ich: ich müsse alles rauslassen, ich müsse alles aufschreiben, alle Wörter, alle Sätze müssten raus. Entsetzt gab sie mir den Stift wieder und ich stürzte mich auf die Decke und als die vollgeschrieben und völlig ruiniert war, organisierte sie alles Papier was sie finden konnte, und schmiss es mir vor die Füße. Aber auch als das Papier voll geschrieben war, dachte ich immer noch mir bliebe die Luft weg und verzweifelt suchte ich nach anderen Unterlagen. In meiner Not schrieb ich mir die Finger quer durch ihre Wohnung wund.
Irgendwann, mitten in der Nacht, fand ich mich im Schlafzimmer wieder,
weil es da eine weiße Wand gab und da hörte ich auch endlich auf zu schreiben. Dreiviertel der Wand war schon voll mit meinen Worten und die letzten waren kkaskkak, kkaskakk, kkaskakk, kkaskakk, kkaskakk.
Ich habe nicht gezählt wie häufig es dastand. Aber ich erinnerte mich an kkaskkak. Es war ein Geräusch. Es war der einzige Laut den ich damals noch ausstoßen konnte, als ich meiner Klasse meine Geschichte vorgetragen hatte: Die Geschichte, die ich damals vortrug, hieß: Kasperkopf. Aber bei einem Kkkasperkopf war ich dann hängen geblieben und stammelte nur noch.
An dem Tag, als ich meine Blockade überwand und Ursels Wohnung vollgeschrieben hatte, hatte ich alle Sätze, alle Worte, Verse, Reime niedergeschrieben, die mir seit dem Tag des verunglückten Vortrags eingefallen waren. Die jüngsten zuerst, die ältesten zuletzt - bis ich wieder vor der Klasse stand und mich zum Kasper gemacht hatte: kkaskkak.