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Kleine Geister
Es wird warm sein, hat er gesagt. Und es wird dunkel sein.
Der Raum wird groß sein und du wirst die Wände nicht sehen können.
Du wirst überhaupt nichts sehen können.
Er hat gesagt, du wirst glauben, deine Augen müssten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Aber es wird sich nichts ändern, auch nach einer Weile nicht.
Da wird eine Flasche in dem Raum sein. Sie wird direkt vor dir stehen, vertrau mir da, hat er gesagt. Aber du wirst sie nicht sehen können.
Du wirst überhaupt nichts sehen können.
Vielleicht bist du allein. Vielleicht bist du es nicht.
Vielleicht wirst du dich anfangs sogar wohl fühlen, in diesem warmen, dunklen Raum, hat er gesagt. Besser warm als zu kalt, wirst du denken. Obwohl es bekanntlich irgendwann egal ist, ob zu warm oder zu kalt.
Du wirst dasitzen. Du wirst gelangweilt tun. Vielleicht wirst du lachen.
Aber mit der Zeit wird sich dein Körper verändern. Er wird sich viel näher anfühlen, auch wenn das seltsam klingt, hat er gesagt.
Du wirst den Kopf drehen, du wirst blinzeln, ganz angestrengt. Rufe ruhig, hat er gesagt. Sprich mit dir selbst oder spich mit mir, es ist egal. Aber erwarte keine Antwort, das ist sehr wichtig.
Such die Flasche, hat er gesagt, sie steht ganz nah vor dir. Such dir einen Anhaltspunkt in der Leere. Nur das du nicht weißt, ob die Dunkelheit wirklich leer ist.
Wenn du die Flasche gefunden hast, halt sie ganz fest. Drück sie an dein Gesicht, wenn du möchtest. Überzeug dich davon, dass sie wirklich da ist. Überzeug dich davon, dass dein Körper wirklich da ist. Betaste deine Arme, berühr dein Gesicht.
Irgendwann wirst du dich fragen, was in der Flasche ist. Riech ruhig daran, hat er gesagt. Aber denk daran, dass die meisten Gifte geruchlos sind. Das könnte sehr wichtig sein.
Du wirst die Flasche in den Händen behalten, ihr Gewicht wird beruhigend sein, hat er gesagt. Aber du wirst versuchen, nicht mehr an sie zu denken. Es wird viel wichtiger scheinen, über die Dinge, die hinter deinem Rücken sein könnten, nachzudenken.
Du wirst dir eine Wand wünschen, hat er gesagt. Mach dich auf die Suche, ich werde dich nicht abhalten. Ich nicht.
Du wirst ein Prickeln spüren, in diesem ganz nahen Körper. Und während du dich über den Boden tastest, wirst du fast erwarten in etwas Warmes zu greifen. Oder in etwas Kaltes. Oder in etwas Weiches.
Du wirst glauben, zu spüren wie es unter deiner Hand zuckt. Wegzuckt oder ein letztes Mal erbebt und dann nachgibt. Mit einem Knacken. Oder einem satten, dumpfen Geräusch.
Was wäre schlimmer für dich?
Du wirst dir auf die Lippen beißen und sie werden spröde sein. Fühl ruhig hin mit deiner Zunge, auch sie ist trocken. Du wirst wissen, warum sie trocken sind, hat er gesagt. Du hast Durst.
Du wirst weiter tasten, dich weiter über den Boden schieben, auch wenn du Angst hast vor dem, was du vielleicht finden könntest. Oder nicht finden könntest, denn du wirst nicht wissen, wie weit die Wände wirklich entfernt sind.
Du wirst dir einbilden, dass deine Augen schärfer geworden sind, hat er gesagt. Dasselbe wirst du auch von deinen Ohren denken, obwohl du fast nichts anderes hörst als das Rauschen deines Blutes.
Du wirst Blicke in deinem Nacken spüren. Du wirst dich umdrehen und du wirst Bewegungen im Dunkel sehen.
Und wenn du schluckst, wirst du den Durst spüren.
Er hat gesagt, du wirst dann wieder anfangen über die Flasche nachzudenken. Sie ist ja noch da, in deiner Hand.
Du wirst sie vor deine Augen halten, ganz nah. Du wirst sie ein wenig schütteln und wieder an ihr riechen. Du wirst Wasser riechen, aber du wirst dir nicht vertrauen.
Du wirst ins Dunkel starren und so tun als ob du nachdenkst. Doch du wirst nur immer wieder denselben Gedanken wälzen, hat er gesagt.
Du wirst zum Trinken ansetzen. Vielleicht wirst du schon die kühle Nässe an deinen Lippen spüren, aber die Flüssigkeit wird deine Zunge nicht erreichen.
Du wirst dich räuspern. Einmal. Zweimal. Du wirst die Flasche von einer Hand in die andere wandern lassen, aber du wirst nicht aus ihr trinken, hat er gesagt. Das wirst du nicht.
Du wirst nicht spüren, wie die Zeit vergeht. Oder ob sie überhaupt vergeht. Fühle nach deinem Körper, hat er gesagt. Das ist sehr wichtig.
Fühl das dumpfe Drücken in deinem Magen, fühl deine Zähne, wie du sie aufeinander presst. Fühl vor allem die leichte Gänsehaut auf deinem Rücken.
Du wirst dasitzen und du wirst oft blinzeln, hat er gesagt. Du wirst oft blinzeln, weil du manchmal nicht mehr wissen wirst, ob deine Augen offen oder geschlossen sind.
Du wirst den Unterschied nicht sehen.
Du wirst überhaupt nichts sehen.
Es wird warm sein, hat er gesagt. Und es wird Dunkel sein.
Der Raum ist groß und ich kann die Wände nicht sehen.
Ich kann überhaupt nichts sehen.
Die Flasche liegt in meiner Hand. Vielleicht bin ich allein. Vielleicht bin ich es nicht.
Ich erwarte keine Antworten, ich denke an das Gift, ich fühle nach meinem Körper.
Das ist sehr wichtig.