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Kleine Kugeln
Kleine Kugeln
„Heilix Blechle! Bub! Zappel doch net so rum!“
Man schrieb das Jahr achtzehnhundertachtundachtzig. Albert, gerade neun Jahre alt und Kaufmannssohn aus Ulm, trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Mit den Brüderles, dem alten Nachbarsehepaar, sollte es heute nach Augsburg gehen. Der alte Felix Brüderle hatte ihn, Albert ganz allein, zu der Fahrt eingeladen. Mußte doch Alberts Vater Hermann geschäftlich nach München für ein paar Tage. Und seine Mutter Pauline fühlte sich überfordert durch den nervösen Jungen, der seine Umgebung durch hartnäckige und seltsame Fragen zu nerven pflegte.
Der Bahnhof Ulms faszinierte Albert. Der Strom der Reisenden, die hektische Betriebsamkeit, aber vor allem die Lokomotiven, die wartend auf den Gleisen standen, zogen ihn in ihren Bann.
„Schau Bub, die große Dampflok da, die fährt am Nachmittag nach Konstantinopel. Da wird grad der Kessel beheizt.“ Albert folgte der ausgestreckten Rechten des alten Felix. Das mächtige Stahlroß, das unablässig Dampf aus den Ventilen abließ, beeindruckte ihn über alle Maßen.
„Wenn der Dampf nicht abgelassen wird, und man den Kessel immer weiter heizt, was passiert dann?“, wollte er wissen.
Der alte Felix lachte. „Ja, Bub, was fragst so saudumm?! Dann fliegt er dir irgendwann um die Ohre’.“
Adele Brüderle, das treue Weib Felix’, nahm kopfschüttelnd ein Paket mit Wurststullen aus dem Korb, den sie über dem linken Arm trug.
„Das solltest aber wisse’ in deinem Alter, Albert.“ Damit reichte sie ihm eine dick mit Fleischwurst belegte Stulle, die obendrein noch mit Kräutern aus dem eigenen Garten verfeinert war.
„Iß, Bub. Siehscht so mager aus. Und nervös bischt auch.“
Albert nahm die dargebotene Stulle, ohne hineinzubeißen. Das angeschlagene Thema ließ ihn nicht los.
„Was ist denn“, wollte er wissen, „wenn man die Wände des Kessels ganz dick macht? Einen Meter dick?! Dann kann er nicht explodieren?“
„Was glaubst, was des koscht, Albert?“, wandte Felix ein. „Da würd’ soviel Stahl verbraucht werden, des könnt kein Mensch zahle’. Und außerdem, irgendwann fliegt der auch in die Luft. Man muß nur lang genug heize’…“
Er lachte.
„Was is’ mit dem Bub?“, wollte Adele wissen. „Des is net gut, dass er soviel fragt. Mit dem nimmt’s ein schlimmes End. – Iß jetzt, Bub. Und sei ruhig.“
Diese letzte Bemerkung galt Albert, der gerade zu einer neuen Frage ansetzte. Folgsam biß er in seine Stulle.
„Gell, es schmeckt, Albert“, ließ sich Felix vernehmen und tätschelte Alberts Arm. „Da muß man sich kei’ Gedanke mache’, der Albert is scho’ ganz gesund. Das Nervöse, das wächst sich aus.“
Eine Viertelstunde später saßen Albert und das alte Ehepaar in einem Abteil dritter Klasse nach Augsburg. Noch stand der Zug auf dem Gleis.
„Wann fahren wir denn ab?“, wollte Albert wissen.
Felix zog eine Uhr aus der Westentasche, die an einer Kette hing. „Noch zeh’ Minute’, Albert“, sagte er. Und zu Adele: „Des dauert zu lang für so ein Kind.“
Auf dem Nachbargleis fuhr der Zug aus München ein. Albert verfolgte gebannt die vorbeigleitenden Waggons, duckte sich gar unter das Fenster, dass er nur die obere Hälfte der Wagen zu sehen vermochte.
„Von hier sieht es so aus, als würden wir fahren“ sagte er.
Adele stieß ein Seufzer aus. „Der Bub macht mich au’ scho’ ganz nervös“, sagte sie. „Er hat eine kapriziöse Art.“
Das schwierige Wort wollte kaum über ihre schwäbischen Sprechwerkzeuge. Desto mehr drückte es ihre Gereiztheit aus.
„Laß doch mal den Bub in Ruh’“ sagte nun Felix. „In dem Alter muß ma’ halt viel frage’, des isch einfach so. – Hast scho’ recht, Albert. Von da unte’ sieht des ganz so aus, als würde’ mir fahre’. Aber es sieht halt nur so aus, des weißt doch, gell?!“
Die plötzlich aufkeimende Besorgnis Felix’ um die geistige Gesundheit Alberts animierte Adele, sich nach der Zurechtweisung durch ihren Ehemann wieder zu Wort zu melden.
„I’ weiß net, ob er des weiß“, sagte sie.
„Spielt das überhaupt eine Rolle“, fragte Albert, „ob wir fahren oder der andere Zug. Wir bewegen uns aneinander vorbei.“
„Bist net ganz gescheit“, polterte nun Felix, dem die Fragerei Alberts auch zuviel wurde. „Des spielt schon eine Rolle. Du willst doch auch nach Augsburg, oder vielleicht net?! – Siehst, da isch des schon wichtig.“
Der Zug ruckte an. Albert vertiefte sich in die vorbeiziehende Landschaft. Felix lehnte seinen Kopf an die Waggonwand, zog seine Schildmütze über die Augen und nickte ein. So war er vor den Fragen Alberts sicher.
Ein paar Jahre später begann Albert, inzwischen ein junger Mann, ein mathematisch-physikalisches Fachlehrerstudium an der Technischen Hochschule in Zürich. Weihnachten achtzehnhundertachtundneunzig kam er zu Besuch zu seinen Eltern. Wie es der Anstand erforderte, besuchte er am Heiligen Abend auch die alten Brüderles, um sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen und ihnen ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen.
„Bischt ein stattlicher, junger Mann geworde’, Albert“ sagte Adele Brüderle. Sie hatte ihn bei den Schultern gefasst, hielt ihn mit ausgestreckten Armen und betrachtete ihn. „Die Mädele in Zürich habe’ das bestimmt au’ scho’ festgestellt.“
Lächelnd begrüßte Albert Felix. Der schlug ihm nach Männerart auf die Schulter und setzte ihm ein Glas Kirschwasser vor. Eine halbe Stunde unterhielt man sich fröhlich und angeregt, dann jedoch wurde Albert immer stiller. Nachdenklich saß er da, hörte kaum noch auf die Fragen der Brüderles.
Adele gab ihrem Ehemann ein Zeichen. Beide erhoben sich, um in die Küche zu gehen. „Wir müsse’ nach dem Brate’ schaue, gell, Albert“, gab der alte Felix zur Erklärung.
„I’ hab’s scho’ immer g’wußt”, sagte Adele in der Küche. „Der Bub is’ net g’sund.“
„Vielleicht hat er Liebeskummer“, sagte Felix. „Wir werde’ ganz behutsam vorgehe’“.
Zurück bei Albert fragte Adele: „Weihnachte’ isch ein besinnliches Fest, gell, Albert?! Da wird man manchmal ganz traurig…“
Albert lächelte. „Ach nein. Ich denke nur nach.“
Adele tauschte mit Felix einen Blick. „Worüber denkst nach, Bub?“
„Über ein wissenschaftliches Problem.“
Wieder ein Blick. „Laß doch mal höre’, Albert“, sagte Felix dann. „I’ würd’ scho’ gern wisse’, was dir im Kopf rumgeht.“
Albert räusperte sich und sah Felix konzentriert an. „Wenn man eine Zinkplatte mit einem besonderen Licht bestrahlt, dann treten aus dieser Platte Elektronen heraus. Wir wissen nicht, warum.“
„Des macht dir jetz’ Sorge’?“ begehrte Felix zu wissen, während Adele fragte: „Wie heißt des?!“
„Elektronen“, sagte Albert mit Blick auf Adele, „das sind kleine, elektrisch geladene Kugeln.“
„Elektrisch geladene Kugele“, echote Felix und warf seiner Frau einen vielsagenden Blick zu. „Und was macht dir da jetz’ Sorge'?“
„Daß wir nicht wissen, wie das vor sich geht“, erklärte Albert geduldig. „Licht ist eine Welle, die Elektronen sind Teilchen, das kann eigentlich nicht funktionieren.“
„Wieso ist Licht eine Welle?“ Felix sah Albert konsterniert an. „Wenn ich die Donau entlanggeh’, dann seh’ ich Welle’. Aber das isch doch kei’ Licht. Licht isch einfach hell.“
Albert sah so bekümmert aus, dass Felix nicht weiter in ihn drang. Nach einer Weile sagte er: „Hano, Welle könne’ scho’ Kugele bewege’. Die Welle’ von der Donau bewege den Sand am Ufer, und Sand besteht aus kleine’ Kugele.“
Prüfend sah er Albert an, ob dieser Rat den Betrübten in irgendeiner Weise aufhellte. Doch Albert schüttelte den Kopf.
„Das geht bei diesem Problem nicht. Die Elektronen können nur durch andere Teilchen bewegt werden.“
Felix rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Es schien ungemein schwierig, Albert die Flausen aus dem Kopf zu treiben. Er räusperte sich.
„Also die Elektrone’ sind kleine Kugele, des stimmt doch?“
Er sah erst Albert und dann seine Frau an, die sich inzwischen erhoben hatte und sich am Weihnachtsbaum zu schaffen machte.
Albert nickte. „Die Elektronen sind kleine Kugeln.“
„Und des Licht bewegt die Kugele?“ bohrte Felix weiter.
Albert nickte wieder.
„Und nur andere Kugele könne die Kugele bewege’?“
„Ja, aber…“, setzte Albert an, doch Felix schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Dann besteht Licht ebe’ aus kleine Kugele.“
Als Albert immer noch skeptisch dreinsah, ergänzte er: „Wenn’s eine Welle sein kann, dann kann’s au’ eine Kugel sein.“
Plötzlich hatte Albert es sehr eilig, sich zu verabschieden. Kaum hörte er den Gruß der Brüderles.
Wieder allein mit ihrem Ehemann, sagte Adele mit missbilligendem Blick: „Mußt den Bub net völlig verrückt mache’. ‚Licht besteht aus kleine Kugele’ , wenn i’ des scho’ hör! Du bist schuld dran, wenn der Bub no’ völlig durchdreht.“