Kleine Seele sagt
Da funkelt etwas. Oh, wie schön, die Sonne. Durch das Fenster, wie schön. Ich freu mich, so schöne Sonnenstrahlen. Meine Hände leuchten ganz rot. Ich halt sie vor die Augen. So rot, wie mit der Taschenlampe.
- Mama, schau mal, Mama. Ich brauch Papier und einen Stift. Mama.
Er wackelte fröhlich durch sein Zimmer, heute musste er nicht in den Kindergarten, seine Mutter war zu Hause geblieben, Teamweiterbildung der Kindertagesstätte, das heißt, ein Urlaubstag weniger für ein Elternteil. Er hatte noch seinen Schlafanzug an, mit Spiderman darauf, der sich gerade in die Höhe schwang. Den mochte er gerne, Batman aber auch. Nicht mehr so Teddybären und Kuscheltiere, nein, am liebsten wäre ihm ein Pokemon Schlafanzug gewesen, aber daran dachte er gerade überhaupt nicht.
- Mama, ich will malen!
- Schatz, geh Dich bitte erst anziehen, ich hab Dir Deine Sachen hier ins Bad gelegt, komm doch rüber, ja?
- Okidok!
Durch den Flur ging er auf das Badezimmer zu, seine Mama konnte er schon durch den Spalt der Türe dahinter sehen, sie malte sich das Gesicht an. Als er nach oben zum Türgriff langte und hindurchschlüpfte, fuhr ihm seine Mama durch die Haare, die ihm wild von Kopf standen, sie glänzte im Schein der Badezimmerlampe. Wie ein Engel. Er hätte das aber nie zu ihr gesagt, das sagten nur Mädchen. Mädchen, bah.
- Mama, ich will malen!
- Komm, Zieh Dich erst einmal an, dann frühstücken wir und dann, wenn der Küchentisch leergeräumt ist, dann kannst Du da malen, ja?
- Okidok!
Er schlüpfte aus seinem Schlafanzug und nahm den Waschlappen, der zu kalt war, von seiner Mama entgegen.
- Der ist kalt!
- Och, stell Dich nicht so an, komm, wasch Dich, aber gründlich, ich schau gleich nach, ja?
- Och, Menno!
- Komm, mach schon, wir müssen gleich los, und wenn Du noch malen willst?
Er wusch sich weiter, auch unter den Armen und auch den Penis und rubbelte sich trocken, mit dem Handtuch. Mama zupfte ständig an ihm rum, erst das Unterhemd in die Hose, dann diese doofe Strumpfhose, es ist kalt geworden, und dann kam Sie auch schon mit der Bürste. Sie hatte sie unter den Wasserstrahl gehalten und nun tropfte sie ihm auf den Kopf, während Mama ihm die Haare bürstete.
- Und, was möchtest Du frühstücken? Ein Brot, oder Müsli?
- Müsli! Schokomüsli!
- Oh, ich hab aber kein Schokomüsli mehr, nur noch das mit den Früchten, mein Schatz.
- Dann lieber ein Nutellabrötchen!
- Ach, Du weißt doch, erst etwas Herzhaftes.
- Och, Menno, dann Müsli.
Mama stand mit dem Rücken zu ihm an der Arbeitsplatte und goss Milch über sein Müsli. Das Küchenfenster war auf Kipp. Kalte Luft strömte hinein. Hier konnte er die Sonnenstrahlen nicht sehen, er drehte sich herum und starrte in sein Zimmer, wo es ganz hell war.
- Aber bitte nicht kleckern, immer schön mit dem Kopf über der Schüssel essen, ja?
- Okidok!
Er mochte eigentlich keine Obststücke im Müsli, die fühlten sich ekelig an, in seinem Mund. Früher hatte er sie ausgespuckt, aber heute ging das nicht mehr, er wusste ja, Mama würde schimpfen. Und das mochte er nicht. Aber er aß seine Schüssel nicht leer. Mama trank eine Tasse Kaffee, im Stehen, und blickte aus dem Fenster. Im Radio lief das Lied mit der Welle, wo die immer Welle, Welle, Welle, Welle singen.
- Kann ich jetzt malen?
Da fiel ihm die Schüssel vom Tisch, ganz ohne Absicht. Sie verkleckerte den Müslirest auf den Boden und ging auch noch kaputt.
- Oh nein, hast Du mal wieder nicht aufgepasst? Immer das Gleiche mit Dir, kannst Du nicht aufpassen? Was ist los mit Dir?
- ´Schuldigung
- Da kann ich mir jetzt auch keine neue Schüssel von kaufen.
- ´Schuldigung
- Na, geh jetzt in Dein Zimmer, ich muss hier die Schweinerei wegmachen und pass bitte auf, dass Du nicht in die Scherben trittst, ja?
- Kann ich jetzt malen?
- Nein.
- Warum?
- Geh jetzt in Dein Zimmer, sofort!
Traurig setzte er sich auf den Sack, der neben seinem Bett lag. Er hielt sich die Hände vor die Augen, aber der Sonnenschein war fort, kein rotes Leuchten mehr, er war, wie hieß das noch, voll Kummer. Da spürte er, wie es in ihm drückte und zerrte und wie seine Beine ganz hart wurden und sein Bauch auch und er rannte auch schon los, durch die Küche, an seiner Mama vorbei, durch den Flur, er griff zur Tür, aber da war es schon passiert, er fühlte die Wärme seine Beine hinunter laufen. Mama hatte sofort begriffen, was da los war und kam ihm hinterher. Lieber sofort zugeben.
- Ich war nicht schnell genug, Mama!
- Oh nein, nicht auch noch das! Du machst mir ja nur Ärger, ständig muss ich Deine Sachen waschen, Alles was Du kaputt machst und dann noch in die Hose pinkeln.
Mamas Lippen bebten. Sie waren grell bunt angemalt und die Worte wurden immer lauter. Und böser.
- Los, zieh das sofort aus. Oh nein, ich hab keine saubere Strumpfhose mehr für Dich, die anderen hängen auf der Leine, Nein, Nein, Nein.
- ´Schuldigung, Mama
- Das will ich jetzt gar nicht hören! Warum gehst Du nicht früher aufs Klo, warum? Immer muss ich alles waschen, immer. Los, jetzt zieh Dich endlich aus, ganz aus, ich muss Dich abduschen.
Das war schlimm, er fühlte sich sehr traurig und hätte Mama gerne in den Arm genommen, aber… Schon stand er in der Badewanne und Mama drehte den Wasserhahn an. Sie wartete nicht, bis das Wasser warm war, es war kalt, sehr kalt, er fing an zu weinen.
- Das ist kalt Mama, Mama.
- Das ist die Strafe, weil Du mir soviel Arbeit machst. Ich krieg immer Ärger, wenn ich bei Dir bleiben muss, von meinem Chef. Meine Arbeit macht sich nicht von selbst und Du machst es mir dann immer so schwer. Los komm, hier ist die Seife, wasch Dich überall, wo die Pipi war. Und hör doch auf zu weinen, so schlimm ist das doch gar nicht, siehst Du, das Wasser wird schon wärmer. Komm, kleiner Mann! Ein Indianer kennt keinen Schmerz!
Nachdem Mama ihm geholfen hatte, sich wieder anzuziehen und ihn in den Arm genommen hatte und ihm gesagt hatte, dass sie ihn doch lieb habe, ging es ihm ein bisschen besser. Er lag im Kinderzimmer auf dem Boden und hörte eine Kassette. Mama telefonierte in der Küche. Sie kam zu ihm ins Zimmer.
- Ich muss eben mal kurz nach draußen, etwas erledigen, ja? Kann ich Dich hier alleine lassen? Ich bin in wenigen Minuten wieder da, ja?
- Wie viel Minuten?
Er wollte nicht alleine sein.
- Na, so zehn bis zwanzig, nur mal schnell zum Plus und etwas zur Post bringen, ja?
- Bis wie viel zählen ist das?
- Bis tausend, vielleicht etwas mehr, ja?
- Bis Tausend?
- Ja.
- Kann ich nicht mitkommen?
- Nein, es geht schneller, wenn ich das jetzt alleine mache, außerdem kannst Du dann die Kassette weiter hören, und wenn die zu Ende ist, bin ich auch schon wieder da, ja?
Er sagte ein trauriges Okidok und nickte.
Kurz darauf hatte Mama ihre Jacke an und gab ihm einen Kuss.
- Bis gleich, mein Großer, sei tapfer, ja?
- Okidok.
Als die Kassette klickte, war Mama noch nicht wieder da. Er ging aus dem Kinderzimmer, durch den Flur, am Bad vorbei und zur Wohnungstüre. Keine Schritte waren zu hören. Er ging wieder zurück ins sein Zimmer und nahm sich ein Buch, Peterchens Mondfahrt. Er blätterte es durch und stand wieder auf, ging zurück zur Wohnungstüre, immer noch keine Schritte. Er fing an zu zählen, er konnte schon gut zählen, war ja auch schon fünf und kam nächstes Jahr in die Schule. Aber bis tausend konnte er nicht zählen, das konnte keiner. Tausend kam ihm furchtbar lang vor. Er ging wieder zurück ins Kinderzimmer und trat aus Versehen auf das Buch, das er auf dem Boden hatte liegen lassen. Die Seiten rissen entzwei, das schöne Bild, wo Peter und Anneliese mit Herrn Sumsemann dem Mondmann das Beinchen abnehmen. Schnell verstecken. Er klappte das Buch zu und schob es unter sein Kopfkissen. Da war auf einmal dieses böse Wort, Frau Hasencamp aus seinem Kindergarten hatte mal gesagt, das sei ein ganz, ganz, ganz, ganz böses Wort und Kinder dürften es nicht benutzen, aber Mama hatte es zu ihm gesagt, als sie sauer war. Trottel. Trottel, das war das böse Wort, und es tat ihm weh. Obwohl er ´Schuldigung gesagt hatte. Es tat ihm auch weh, wenn die anderen Kinder im Kindergarten, in der Pause, draußen beim Spielen, hinter den Bäumen es zu ihm riefen, aber Mama hatte es auch gesagt und da hatte es ihm richtig weh getan.
Er ging noch einmal zur Wohnungstüre, da hörte er Geräusche, das musste Mama sein. Da strahlte er aber. Er wollte ihr entgegen gehen und zog die Türe auf. Sein Herz klopfte, er hatte Mama so lieb und wollte nicht, dass sie sauer auf ihn war. Er wollte sie drücken und küssen und ihr sagen, dass sie wie ein Engel aussah.
Unten ging die Eingangstüre zu, die knallt immer so ein bisschen, Mama sagt, der Herr Carsten muss sich mal darum kümmern. Auf seinen Socken stand er am Treppengeländer und schaute zwischen den Stangen hinunter, da musste Mama gleich kommen. Doch sie kam nicht. Wo blieb sie denn.
- Mama?
Keine Antwort.
- Mama?
Etwas lauter, aber trotzdem, keine Antwort.
Traurig dachte er, dass Mama wohl noch nicht wieder da sei. Er drehte sich herum und sah, dass die Wohnungstüre zu war. Sofort bekam er riesige Angst. Keine Drachengeschichte-Angst, keine Mumiengeschichte-Angst, nein. Sein Herz schlug ganz schnell, es klingelte und klopfte immer wieder ganz laut in seinem Kopf, er zog an der Türe, aber die ging nicht auf. Hätte er doch einen Schlüssel, manchmal durfte er aufschließen, wenn Mama die schweren Einkaufstaschen trug, er konnte schon aufschließen. Aber er hatte keinen Schlüssel und Mama war nicht da. Er schluchzte.
Langsam ging er die Treppe hinunter, er hielt sich am Geländer gut fest, so wie Mama immer sagte. Es war ganz schön rutschig auf Socken, und kalt. Er ging nach ganz unten und guckte, ob Mama da wäre. War sie aber nicht. Er tat sich an den Briefkästen, die an der Wand hingen ein bisschen weh, als er mit dem Kopf dagegen kam. Es war ganz still, im Treppenhaus.
Dritter Stock, wir wohnen im dritten Stock. Er war sich nicht mehr sicher, bis wo er hinaufgehen sollte, aber er konnte doch schon Buchstaben lesen und seinen Nachnamen kannte er auch, der fing mit G an.
Als er wieder an der Wohnungstüre ankam, hörte er das Telefon klingeln, hinter der Tür, im Flur, in der Wohnung. Er hörte die Stimme seiner Mutter; vom Anrufbeantworter sagte sie, bitte hinterlassen sie eine Nachricht. Ihre Stimme klang so lustig darauf, sie mussten immer zusammen lachen, wenn sie zu Hause und nicht schnell genug am Anrufbeantworter waren. Doch es sprach niemand etwas darauf. Er setzte sich auf die Fußmatte und zog die Beine ganz dicht an seinen Körper, umschlang sie mit seinen kurzen Armen und wartete auf seine Mama.
Noch einmal rief er:
- Mama?
Dann dachte er an seine rot leuchtenden Hände, die so magisch ausgesehen hatten, im Kinderzimmer, im Sonnenschein, heute morgen.