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Kleinigkeiten
Es könnte bald schneien, dachte ich, als ich an einem Dezemberabend durch den Park ging. Ich wollte Zigaretten kaufen. Mir war kalt, deshalb vergrub ich meine Hände tiefer in der Jacke.
Weiter vorne, auf dem mit Steinplatten ausgelegten Weg, bemerkte ich zwei Krähen, die flügelschlagend immer wieder auf etwas zwischen ihnen Liegendes pickten. Bald sah ich, dass es sich um eine Scheibe Brot handelte: Eine der Krähen hatte das Brot gerade im Schnabel und hopste damit davon. Doch schon nach kurzer Zeit rutschte die Scheibe wieder auf den Boden, geradewegs vor die Füße der zweiten Krähe, die das Brot sofort in die andere Richtung zu bewegen versuchte.
So ging es, bis ich nur mehr ein, zwei Schritte von den Vögeln entfernt war. Sie flogen aber nicht weg, so wie ich erwartet hatte, sondern waren plötzlich ganz ruhig und blickten mich mit seitlich verdrehtem Kopf aus pechschwarzen Augen an.
Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Fast wäre ich auf die Grasfläche ausgewichen, überlegte es mir dann aber anders und machte einen weiteren Schritt auf sie zu.
„Mach das nicht, Mensch!“, hörte ich eine kratzige Stimme.
„Ja, bleib zurück! Du glaubst wohl, du kannst dir alles erlauben!“, setzte das andere Tier hinzu.
Die Angst stieg mir bis zum Hals: „Ihr sprecht?“, stieß ich hervor.
„Natürlich sprechen wir!“
„Wir Krähen sprechen genauso wie ihr Menschen. Nur machen wir uns nicht so viel daraus.“
„Sprechen ist nichts Besonderes, das glaubt nur ihr.“
„Ja, Mensch. Sprechen ist genauso öde wie ihr selbst!“ Dann starrten sie mich schweigend mit ihren bösen Augen an.
Ich stand noch eine Weile da, der Schreck saß mir in den Knochen, dann machte ich den Schritt zur Seite, nein, ich ging sogar im weiten Bogen an den beiden vorbei und beeilte mich davonzukommen. Ich blickte erst zurück, nachdem die Gittertür des Parks quietschend hinter mir ins Schloss gefallen war: Die beiden Vögel sah ich schon wieder an dem Brotstück zerren.
Auf dem Rückweg mied ich den Park. Später, in meiner Wohnung, schaltete ich das Fernsehgerät ein, doch von den akrobatischen Verrenkungen des Actionhelden bekam ich kaum etwas mit. In der Nacht schlief ich nicht.
Am nächsten Tag ging ich nach der Arbeit noch einmal in den Park. Ich wollte endlich Gewissheit haben. Aber was soll ich sagen? Den einen Vogel fand ich auf der Stange über der Kinderschaukel. Er flog einfach weg, als ich ihn ansprach. Das andere Tier warf mir sein abscheuliches Gequake direkt ins Gesicht, bevor es hinter die nächste Hecke sprang. Als ich ihm folgte, sah ich es über die Häuserdächer in den regenschweren Himmel davonfliegen.
Wieder zurück in der Wohnung, erschien mir diese zweite Begegnung, mehr noch als die erste, der Beweis dafür zu sein, dass ich den Verstand verloren hatte: Denn, was hätte ich wohl von jemanden gedacht, der im Park mit Vögeln redete?
Am nächsten Tag meldete ich mich in der Arbeit krank. Lange saß ich nur zu Hause herum. Dann eilte ich plötzlich auf die Straße und den Gehsteig hinunter, doch wo ich hinwollte, wusste ich nicht. Schließlich setzte ich mich auf eine Bank. Ich sah Autos fahren und Leute vorübergehen, doch es kümmerte mich nicht. Das Geschehen um mich herum konnte mich nicht mehr erreichen. In meinem Kopf hatte ein Lied zu spielen begonnen und der Refrain lautete Angst, Angst, Angst. Den nächsten und den darauffolgenden Tag verließ ich meine Wohnung nicht mehr.
Schließlich kamen die Sanitäter. Meine Hände hatten zu zittern begonnen. Ich erinnere mich noch, wie man mich an meinen blöd glotzenden Nachbarn vorbei in Richtung Lift rollte. Dann wurde die Tür des Rettungswagens zugeworfen und das Innenlicht ging an.
„Nehmen Sie das. Es wird Sie beruhigen“, sagte einer von ihnen und beugte sich zu mir hinunter. Er hielt ein Plastikschälchen in der Hand: „Nur den Mund aufmachen …“ Ich öffnete den Mund und der Wagen fuhr an.
Man brachte mich in die Klinik und ich bekam weitere Medikamente. Bald kam ich zur Ruhe: Die Angst, sie war immer noch da, doch eine Tür war zugegangen und dahinter fühlte ich mich angenehm und sicher. Ich verschlief die meiste Zeit. Ärzte kamen an mein Bett. Immer andere, wie ich meine, aber meine Erinnerung an die ersten Tage ist lückenhaft. Es bleiben nur Fetzen.
Einzig das Gesicht von Julia habe ich auch aus dieser Zeit sehr klar vor Augen.
„Du hast die meiste Zeit nur vor dich hingestarrt!“, lachte Julia später und reichte mir eine halbe, blaue Pille. „Aber das ist normal.“
„Etwa so?“, fragte ich und verdrehte die Augen. Sie kicherte los.
Meine Medikamentendosis war schon vor Tagen verringert worden. Doch es ging mir gut, und immer, wenn meine Pflegerin Julia um mich herum war, ging es mir gleich noch viel besser!
Ich griff nach dem Wasserglas, dabei berührte ich ihre Hand. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich stellte das Glas auf die Seite, unsere Blicke trafen sich und ich zog sie an mich heran.
Am nächsten Tag sah ich Julia nicht. Franz, ein Pfleger mit breiten Oberarmen und buschigen Augenbrauen, brachte mir das Frühstück und erledigte auch die Tagesschicht.
„Kommt Julia heute nicht?“, fragte ich am folgenden Tag. Ich hatte seit unserem Kuss nichts mehr von ihr gehört.
Franz knallte das Tablett mit den Mittagessen auf den Tisch, Suppe schwappte über:
Er stützte sich mit den Händen auf: „So, wer lässt denn fragen?“ Muskelwülste arbeiteten auf seinen Unterarmen.
„Du bist wohl ein richtiger Blindgänger, was?“, sagte er nach einer unendlichen Weile, in der ich kein Wort herausgebracht hatte. „Aber hier wird Julia sicher nicht mehr arbeiten, das garantiere ich dir!“
Nachdem er gegangen war, schlich ich mich sofort in das Pflegerzimmer. Elisabeth nahm mich zur Seite: „Sie macht jetzt Dienst in der anderen Station“, verriet sie mir mit gedämpfter Stimme. „Das hat er so eingefädelt.“
Die andere Station, das war Station A. Sie lag gleich gegenüber. Mein Herz begann wild zu schlagen, als ich Julia am Gang erblickte.
„Hi!“, sagte ich und hob die Hand.
Sie nickte mir kurz zu, dann beugte sie sich wieder über den Pflegewagen.
„Du arbeitest jetzt hier?“, fragte ich. Sie schwieg.
Ich erzählte von Franz. Sie sortierte Tabletten, notierte immer wieder etwas auf einem Zettel. „Ich glaube, er weiß von uns ...“, schloss ich leise.
„Ja, ich habe es ihm gesagt. Er glaubt, wir haben miteinander geschlafen“, sagte sie ruhig.
„Aber … aber warum?“, stammelte ich. „Warum hast du das gemacht?“
„Er hat mich mit Petra von der Buchhaltung betrogen“, antwortete sie. „Er soll nicht glauben, dass ich mir das so einfach gefallen lasse!“
„Aber jetzt glaubt er … jetzt bin ich … jetzt habe ich ihn am Hals!“
Sie blickte mich an, doch ihre Augen blieben kalt.
„Mehr ist zwischen uns also nicht gewesen“, sagte ich schließlich, obwohl ich es nicht wollte, ich konnte aber nicht anders.
„Ich werde mit ihm reden“, sagte sie und wandte sich wieder ihrem Zettel zu.
Ob Julia tatsächlich mit Franz gesprochen hat, kann ich nicht sagen. Sein Verhalten änderte er nicht. Er drangsalierte mich, wo er nur konnte: Er beschimpfte mich, nahm sich von meinem Essen und wenn er Nachtdienst hatte, kam ich kaum dazu zu schlafen, weil er immer wieder unter einem Vorwand ins Zimmer platzte.
Ich war ihm gänzlich ausgeliefert! Aber was konnte ich machen? Wenn ich mit der Anstaltsleitung darüber sprach, hätte das Julias Rauswurf bedeuten können. So dachte ich am Anfang. Bald fragte ich mich jedoch, warum ich sie eigentlich noch in Schutz nahm? Sie hatte mich benutzt, um Franz eifersüchtig zu machen und nun hatte ich ihn am Hals! Warum tat ich mir das an?
Nach einer Gruppensitzung, die ich alle zwei Tage besuchte, sprach ich unseren Therapeuten, Herrn Schwarz, darauf an. Herr Schwarz war noch nicht lange im Haus. Wir waren überhaupt seine erste Therapiegruppe, wie ich erfahren hatte. Ich erzählte ihm von Franz‘ Verhalten, ließ jedoch die Vorgeschichte mit Julia weg.
„Das kann …“, sagte Herr Schwarz in seiner gedehnten Art, „… das darf … das darf nicht sein …“
Er blickte an mir vorbei, seine Augen arbeiteten und er fuhr sich mit der Hand über den Mund.
„Ich werde mit der Abteilungsleitung darüber sprechen“, sagte er schließlich und nickte, so als hätte er sich gerade selbst von diesem Schritt überzeugen müssen.
„Aufmachen und hinunterschlucken!“, befahl Franz nach dem Abendessen und kippte das Plastikschälchen mit den Medikamenten in meinen Mund. Ich trank Wasser nach.
„Da ist ja tatsächlich schlecht über mich geredet worden“, sagte er und stellte das Wasserglas auf das Tablett. Ich verstand nicht gleich.
Er kam mit dem Gesicht näher heran. „Du glaubst also, du kannst mich bei der Leitung anschwärzen?“ Ich spürte wie mein Herz einen Sprung machte. „Und denkst auch noch, dass ich nichts davon erfahre!“
Er baute sich wieder vor mir auf: „Man beißt nicht die Hand, die einen füttert. Das wirst du auch noch lernen!“
„Ich … ich habe nicht mit ihr geschlafen“, schrie ich und merkte, wie meine Stimme versagte. „Es war eigentlich gar nichts! Lassen Sie mich endlich in Ruhe!“
„Du willst Ruhe?“ Er packte das Tablett. Geschirr klirrte. „Die wirst du haben! Du wirst heute sehr tief schlafen, dafür habe ich gesorgt!“
Mein Herz klopfte immer noch wild, nachdem er gegangen war. Da spürte ich im Magen einen Griff wie aus Eisen. Ich eilte ins Bad, doch übergeben konnte ich mich nicht. Hitze stieg in mir auf. Meine Unterarme schimmerte schweißnass. Dann kippte ich nach vorne und verlor das Bewusstsein.
Ich musste lange - mehrere Stunden - neben der Toilette gelegen haben. Einen endlosen Traum lang hetzte ich weiter und immer weiter; eine sinnlose Flucht, denn wer mich verfolgte, wusste ich nicht.
Als ich erwachte, klebte mir das Anstaltshemd auf dem Rücken. Auf allen Vieren schleppte ich mich ins Bett. Ich schloss die Augen, doch das Zimmer drehte sich weiter. Ich nickte wieder weg, dann ging es mir etwas besser. Ich tastete mich zur Verandatür.
Der eisige Wind streifte mein Gesicht wie Schleifpapier, als ich den Fuß in die Gartenanlage der Anstalt setzte. Mit den Pantoffeln malte ich zwei dunkle Linien in den mit Reif bedeckten Grasboden. Schon nach kurzer Zeit war ich zu erschöpft, um weitergehen zu können, und setzte mich auf eine Bank. Von den Schuhen abgesehen, trug ich nur das dünne Anstaltshemd, das mir immer noch auf der Haut klebte. Doch die Kälte war mir egal.
Als ich mich umblickte, bemerkte ich zwei Krähen. Mir war sofort klar, dass es sich um die beiden Tiere handelte, die ich einige Wochen zuvor in dem Park, in der Nähe meiner Wohnung, gesehen hatte.
Sie beachteten mich nicht. Eine der beiden stocherte kopfüber im Mistkübel neben meiner Bank und hatte bald ein buntes Papier im Schnabel: die Verpackung eines Schokoriegels. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich ab. Als ich später wieder hinsah, hockten die beiden Vögel am Boden, zwischen ihnen ein Schokoriegel, von dem sie abwechselnd Stückchen heraushackten.
Nach einiger Zeit wandte sich einer der beiden Vögel an mich:
„Du siehst nicht gut aus, Mensch. Ist es dir schlecht ergangen?“
„Wie könnte es mir gut gehen? Ich bin hier in dieser Anstalt eingesperrt!“
„Was hat das damit zu tun, ob es dir gut geht?“
„Gestern Nacht hat ein Pfleger versucht, mich umzubringen! Aber was rede ich überhaupt mit dir? Vögel, die sprechen können! Da muss man doch ganz wirr im Kopf werden!“
„Dein Kopf ist deine eigene Angelegenheit!“, antwortete der Vogel sofort.
Ich wandte mich ab, sagte dann aber, über die Schulter hinweg: „Und ihr? Was wisst ihr schon? Ihr seid Vögel und streitet euch um einen angebissenen Schokoriegel!“
„Wieso? Zu streiten macht uns Spaß. Wir sind Krähen. Was erwartest du von uns?“
„Auf Streit kann ich jedenfalls gerne verzichten!“, entgegnete ich.
„Wie du meinst, das ist deine Sache“, antwortete die Krähe. „Aber, wenn du mich fragst, dir würde ein Stück von dieser Schokolade auch guttun. Es ist zwar nur eine Kleinigkeit. Aber man muss auch das zu schätzen wissen!“
Dann blickten sie mich eine Zeitlang schweigend an. Schließlich sagte eine der Krähen mit ruhiger Stimme: „Was hast du schon zu verlieren? Vielleicht reicht ein Bissen und alle deine Sorgen sind wie weggeblasen. Wenn auch nur für einen Moment. Versuch es doch einfach!“
Ich hätte ihnen gerne gesagt, wie lächerlich ihr Vorschlag war! Wie konnten sie ernsthaft glauben, dass ein Stück Schokolade meine Probleme lösen könnte? Doch ich brachte kein Wort heraus. Ich sah von den Krähen zur Schokolade und wieder zurück. Ich spürte ihre Blicke auf mir ruhen und mit einem Mal war alles so klar: Ja, dieser Schokoriegel ist alles, was ich brauche! Was sollte es auch mehr geben können?
Ich bückte mich also nach der Schokolade, nahm einen großen Bissen - und tatsächlich: Das Karamell, die Milchcreme, die Schokolade – ich fuhr mit der Zunge hindurch und es war einfach nur köstlich! Dieser Geschmack, die Süße, großartig! Besser konnte dieser Moment gar nicht mehr werden!
Während ich kaute, fiel mein Blick auf den Mistkübel und ich sah darin verschmutzte Verpackungen, den abgenagten Rand einer Pizza, gebrauchte Taschentücher und vieles mehr. Es roch nach Hundekot und nach Erbrochenem. Bei der Vorstellung, dass der Schokoriegel einmal darin gelegen hatte, zog sich mir der Magen zusammen. Plötzlich schüttelte es mich vor Ekel und ich schleuderte den Riegel weit weg von mir. Was ich noch im Mund hatte, spuckte ich aus: Den dunklen Faden aus Speichel und Schokolade auf meinem Kinn wischte ich mit dem Handrücken fort.
Am Ende blieb nur mehr ein bitterer Geschmack vom letzten Rest der Schokolade in meinem Mund zurück. Mit dem überwältigenden Gefühl, das ich beim Verspeisen des Schokoriegels vorhin verspürt hatte, war es ebenso: Auch dieses Gefühl war weg. Der perfekte Moment, verflogen wie nichts!
Tränen traten mir in die Augen und ich blickte mich um: Doch von den beiden Krähen war nichts mehr zu sehen. Sie waren wohl schon vor langer Zeit davongeflogen.