Kloschüssel
Glotz mich nicht so an, mit diesem scheiß neidischen Blick. Du hast ja keine Ahnung. Überhaupt keine Ahnung. Und wehe dir, du erwähnst auch nur noch ein einziges mal, wie wahnsinnig beneidenswert du doch meinen flachen Bauch, meine straffen Beine, meinen dünnen Oberarme und meine, sich unter allen Kleidungsstücken leicht abzeichnenden Hüftknochen findest. Ich warne dich - wehe dir, du wagst es, all das auch nur mit einer einzigen Silbe zu erwähnen, ich bring dich um.
Wenn du wüsstest... wenn sie wüssten... wenn ihr alle nur wüsstet... wenn ihr ein einziges Mal euere Augen öffnen und mich sehen würdet, wirklich mich, mich mit meinen Gefühlen, meinen Gedanken, mich mit all meinen Problemen. Wenn ihr auch nur ein einziges Mal wirklich mich sehen würdet und nicht meinen ach so perfekten Körper, ja dann würdet ihr alle endlich sehen, endlich verstehen, dass das, was ihr so unheimlich beneidet reines Produkt ist. Produkt, Ergebnis, Effekt, wie auch immer... Produkt einer langen, harten, grausamen und ausweglosen Tortur. Einer Tortur, die sich mein Leben nennt.
Was verstehst du schon davon, was es heißt ein Leben zu führen, das sich 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche und 365 Tage im Jahr nur um Essen dreht. Essen, essen, essen und noch mal essen.
Wenn du nur wüsstest, wie es ist morgens aufzustehen und den Spiegel zu hassen, schon bevor du überhaupt nur einen einzigen Blick hineingeworfen hast. Wie es ist, jeden Morgen besonders früh aufzustehen um dem Frühstück zu entkommen und den Schulweg mit dem Rad zu fahren, um schon am frühen Morgen Kalorien zu verbrennen. Ja und wenn du auch nur im geringsten ahnen könntest, wie schwer es mir fällt, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, wo meine Gedanken doch minütlich abschweifen, zu dem saftigen Pausebrot in meiner Tasche und zu dem schon längst zur Gewohnheit gewordenen, darauf folgenden Besuch auf dem Mädchenklo. Wenn du nur wüstest, wie es ist, die Kloschüssel als beste Freundin zu haben. Als verhasste beste Freundin, die einen wenigstens für kurze Zeit von allem Essen und somit von all den Sorgen und Schuldgefühlen befreit. Ja und wenn ihr alle auch nur eineinziges Mal das Gefühl dieser schrecklichen Leere in euch spüren würdet, das mich tagein tagaus begleitet. Das Gefühl dieser schrecklichen, gähnenden Leere, dieses Lochs im Magen, das sich auf meinen ganzen Körper ausbreitet. Das sich letztendlich sogar bis in meine Seele erstreckt. Dieses Loch und diese gähnende Leere, um die sich all meine Gedanken drehen wie ein bunter Kreisel.
Wenn ihr alle doch nur ahnen würdet, wie es ist, sich nach der Schule erschöpft ins Bett fallen lassen zu müssen um diesem schrecklichen Schwindelgefühl, dieser Erschöpfung und all den bohrenden Gedanken für ein paar Stunden zu entkommen und um nach einem traumlosen, erschöpfenden Schlaf beinahe ebenso matt wie zuvor aufzuwachen. Wenn ihr ahnen könntet, wie ich mich dabei fühle, wenn ich anschließend in die Küche krieche um mir dort wider meines schlechten Gewissens den Bauch vollzuschlagen und gleich darauf, wie schon so oft, meine beste Freundin zu besuchen und mich bei ihr zu erleichtern.
Oh wenn ihr alle nur wüsstet, wenn ihr alle nur ein einziges Mal euere Augen öffnen würdet und sehen würdet. Mich sehen würdet, mich mit meinen schwarzen Augenringen, mit meiner viel zu durchsichtigen weißen Haut, mich mit den spitzen hervorstechenden Wangenknochen, einfach nur mich, wirklich mich und nicht diese Merkmale einer vermeintlichen Schönheit, eines erstrebenswerten Aussehens, das in Wahrheit die Hölle bedeutet. Eine ausweglose Höllenfahrt auf einer Einbahnstraße zum Tod. Ich zerstöre mich selbst, doch ich weiß weder ein noch aus. Ich habe Angst, Angst vor jedem neuen Tag, Angst vor dir, Angst vor euch, Angst vor ihnen. Ich fürchte alles und jeden, ich sehe keinen Ausweg, mein Zug ist abgefahren, zu spät um abzuspringen, für mich gibt es kein Zurück. Zumindest kein zurück ohne euch, die ihr immer noch nicht verstanden habt, ohne euch, die ihr immer noch nicht sehen wollt, ohne euch, die ihr immer noch nicht im Stande seid, mir eine bessere Freundin zu sein als meine verhasste Kloschüssel.