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Kneipenphilosophie
Kneipenphilosophie
Der Lange Mann und der Alte Mann. Viele sind der Meinung, es hat sie nie gegeben. Doch wir wissen es besser. Leider.
Der Lange Mann und der Alte Mann saßen an der Theke einer Taverne. Sie hätten gerne etwas bestellt, aber der Wirt erzählte ununterbrochen Witze.
„Kennt ihr den schon? Zwei von der Stadtwache patrouillieren nachts, als sie an der Leiche eines Trolls vorbeikommen, die mit siebenundzwanzig Messerstichen im Rücken daliegt. Die Wachen besehen sich die Sache und der eine meint dann: ‚So einen schrecklichen Selbstmord habe ich noch nie gesehen.’ Ha, ein Brüller! Aber wollt ihr was bestellen?“
„Wir hätten gerne –“
„Kennt ihr den schon? Der kürzeste Witz Myrthoras: Geht ein Säufer an einer Taverne vorbei. Ha, ha, ha!“
„Das ist nicht der kürzeste Witz Myrthoras“, sagte der Lange Mann ruhig.
„Ach, nein, Witzexperte?“, fragte der Wirt, nun ohne jede Fröhlichkeit. Sein Lächeln war verschwunden und seine Augen blitzten wütend.
„Nein. Den kürzesten Witz haben Sie. Danke sehr. Und jetzt hätten wir gerne zwei Bier.“
Der Wirt brummelte vor sich hin, brachte ihnen aber das Bestellte.
Der Lange Mann und der Alte Mann nippten an ihren Getränken.
„Das war ... nicht schlecht“, musste der Alte Mann zugeben. „Auch, wenn du ziemlich lange gebraucht hast, um uns etwas zu bestellen“, fügte er gehässig hinzu.
„Darum nennt man mich auch den Langen Mann.“
„Ja?“, fragte der Alte Mann überrascht. „Ich dachte, das sagt man, weil du einen –“
„Das ist der zweite Grund“, erklärte der Lange Mann.
„Aha. Nun, trotzdem scheinst du ziemlich dumm zu sein, wenn du für alles, was du machst, lange brauchst.“
„Urteile nicht vorschnell, mein Bruder im Geiste. Aber ich mache dir keinen Vorwurf. Auch intelligente Menschen tun viel Dummes und machen nicht selten erstaunliche Fehler nicht nur im Handeln, sondern auch im Urteilen. Für dich mag Schnelligkeit ein Zeichen von Intelligenz sein. Aber für die Bataro und Baganda in Uganda ist Schnelligkeit dagegen ein Zeichen von Dummheit und Langsamkeit ein Teil der Intelligenz. Für sie bedeutet Langsamkeit hinhören, abwägen, nachdenken, in sich gehen. Wie heißt es doch? 'Wer sich in Krisensituationen auf Langsamkeit, Nachdenklichkeit und Offenheit einlässt, wird nicht nur die Angst reduzieren, er wird auch schneller ans Ziel kommen.' Und die Japaner haben ein Sprichwort: 'Wenn du es eilig hast, mache langsam. Wenn du es sehr eilig hast, dann mache einen Umweg.' Siehst du jetzt, dass Intelligenz ein dehnbarer Begriff ist?“
Der Alte Mann verschluckte sich an seinem Bier.
„Äh, hast du mit mir geredet?“
„Nein, schon gut“, seufzte der Lange Mann.
Der Alte Mann grinste: „Reingelegt. Natürlich habe ich andächtig deinen Worten gelauscht und möchte zu dem eben Gesagtem gerne bemerken, dass du vollkommen den Aspekt der Einstellung der Inkas zu diesem Thema vergisst, der da lautet: Manchmal muss man warten, um im Leben weiterzukommen.“
„Diesen Ansatz habe ich mit voller Absicht ausgelassen“, redete sich der Lange Mann heraus, „da es nicht sicher ist, ob nicht die Azteken schon vor den Inkas diese Weisheit vertraten.“
„Sehr interessant, aber hat nicht schon der Gott Tie-wieh in seinen Aufzeichnungen gemeint, dass diese Behauptung von Jesus selbst stammt?“
„Nein“, antwortete der Lange Mann lapidar.
„Ich sehe, du beschäftigst dich eingehend mit einem Thema, bevor du es hier ausdiskutierst.“
„Das ist mein Beruf. Denkst du, ich hätte dem Jungen helfen können, in sein Dorf aufgenommen zu werden, ohne mir vorher die Lösung aus dem Internet zu besorgen? Oder hätte ich die Frau vor der Todesstrafe retten können, wenn ich nicht den Richter bestochen, mir zwei kaputte Uhren besorgt, und damit das Volk getäuscht hätte? Nichts dergleichen hätte ich ohne gründliche Vorbereitung geschafft.“
„Und wie war das mit dem Würfel?“
„Ja, ja, schon gut.“
„Nein, sage es, ich möchte es gar zu gerne hören.“
„Nun gut, diese Idee hattest du, zufrieden?“
„Ah, das ist Musik in meinen Ohren!“
„Apropos Ohren: Ich habe schon lange nichts mehr vom Wirt gehört. Diese Runde musst du ausgeben“, sagte der Lange Mann und trank sein Glas aus.
{Ende: (?)}Der Wirt füllte ihre Gläser wieder auf und entfernte sich dann, um zwei neu eingetroffenen Gästen seine Witze zu erzählen.
„Langer Mann, du hast einen Fehler gemacht. Du sprichst davon, alles langsam zu machen sei intelligent – aber selber leierst du deinen Text so schnell hinunter, dass man fast nicht folgen kann.“
„Nun“, sagte der Lange Mann und setzte sein Glas ab. Dann holte er zwei Papierkreise aus seiner Tasche hervor, einen großen und einen, der etwas kleiner war.
„Was siehst du hier?“
„Zwei Papierkreise“, antwortete der Alte Mann, „einen großen und einen, der etwas kleiner ist.“
„Bist du dir da auch sicher?“, fragte der Lange Mann den Alten Mann und faltete den großen Papierkreis zu einem Kegel. Das gleiche machte er mit dem Papierkreis, der etwas kleiner war. Dann steckte er den etwas kleineren Kegel in den großen.
„Siehst du? Der Schein trügt öfter, als man denkt. Vor allem, wenn es ein falscher Schein ist.“
Der Alte Mann war erstaunt.
„Du hast Recht! Die Wahrheit ist oft einfacher, als man denkt. Ich habe dir Unrecht getan, Langer Mann. Du bist weiser, als ich gedacht hatte.“
„Ey, jetzt reicht’s mir!“, sagte da auf einmal der Wirt, der wieder an die Beiden herangetreten war. Er packte sie, führte sie zur Tavernentür und schmiss sie raus. Dann rief er:
„Ich hab’s euch gesagt: Keine Philosophie in meiner Taverne!“