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Koma

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21.04.2002
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Koma

Nun war er also tot.

Entgültig!

Benebelt von Alkohol und Drogen war er bei Wandas Party aus dem Fenster gestürzt. Das wäre weiters nicht so schlimm, wäre ihre Wohnung nicht im neunten Stock gewesen. Na zumindest hatte er seine Sache gut gemacht. Er war nicht einfach nur auf den Asphalt geknallt. Nein, Mark hatte schon ein wenig Stil . Er hatte sich als finalen Landeplatz das Dach eines BMW Cabrios ausgesucht, dessen Verdeck zurückgeklappt war. Mark konnte sich noch an das Geräusch erinnern, als er aufprallte. Knochen, die brachen. Irgendwo ein Schrei , nicht seiner. Er dachte sich nur noch : ‚ Das war’s jetzt .’

Er war daher ein wenig verwundert, als er einen nächsten Erinnerungsfetzen registrierte. Nicht nur das, er hatte auch noch die Erinnerung an den letzten.
Ein Krankenhauszimmer – sein Zimmer. Die klägliche Gestalt, die in dem weiß bezogenen sterilen Spitalsbett lag, war zweifelsfrei er selbst. Er lebte also noch, musste aber schon ziemlich am Grat wandern, nachdem er sich selbst beobachten konnte. Perspektive von oben. Aus seinen Armen traten mehrere Infusionsnadeln, die mit diversen Flaschen und Apparturen verbunden waren. Sein Gesicht war völlig zerstört. Da war nur noch ein Schädel, der von Verbänden zusammengehalten wurde. Aber es war ohne Zweifel Mark selbst, der da lag.

Ein Schleier legte sich über das Zimmer, das Bild begann sich zu trüben. Menschen rannten in das Zimmer. Das Geräusch , das als Hintergrundmusik den Beat seines Herzens trommelte, langsamer und langsamer , war nur noch schwach zu hören . Und dann gar nicht mehr.

Flatline

Mark war nicht mehr.

Nun war er also tot.
Aber den Gedanken hatte er doch gerade gehabt. Er war tot, aber es war noch nicht zu Ende. Mark würde endlich erfahren, was sich auf der anderen Seite des Daseins abspielen würde. Nicht, daß es ihn sonderlich interessiert hätte – zu Lebzeiten zumindest nicht. Aber wo er schon mal hier war – und ihm vermutlich nicht allzuviele andere Optionen offenstanden – machte sich doch ein intensives Gefühl der Neugier in ihm breit.
Die Ansichten jener kirchlichen Pfaffen, die ihren religiösen Schafen von Himmel, Hölle und reinigenden Feuern erzählten, hatte Mark immer schon als ideologischen Schwachsinn abgetan. Da glaubte er schon eher an den weiß beleuchteten Korridor, an dessen Ende sich die neue Welt erschließen würde. Ab und an hatte Mark die Sendungen der lokalen Fernsehsender verfolgt, in denen irgendwelche abgetakelten Freaktypen beschrieben hatten, wie sie im Zustand völliger Erleuchtung beziehungsweise hoffnungsvoller Erwartung durch ebendiesen Korridor gegangen waren. Das wäre okay. Die Stories waren immer halbwegs positiv gewesen.

Doch.

Mark war in keinem schimmernden weißen Korridor. Mark war eher im krassen Gegenteil davon. Mark lag im Nichts. Es mußte das Nichts sein, denn Mark war umgeben von völligem Schwarz. Dem Schwarz , das das Auge nicht mehr als Farbe empfand, sondern als Blindheit. Die Dunkelheit war dermaßen bedrückend, daß sich selbst Marks Herzkammern bei jedem Atemzug zu einem winzigen Nichts zusammenzogen. Na ja, so fühlte es sich an, denn sein Herz schlug nicht mehr. Das allein war bereits ein ziemlich seltsames Gefühl. Das Nichts , das ihn umschloss, verstärkte den Eindruck nur.
Überhaupt waren Sinneswahrnehmungen spärlich gesät, um nicht zu sagen, nicht vorhanden. Mark konnte nichts sehen, nichts hören, nichts riechen. Ob das jetzt an ihm lag oder am grundsätzlichen Mangel an Sinneseindrücken in diesem Nichts , konnte Mark nicht feststellen. Wie erschreckend hilflos man war, wenn die Sinne nichts aufnahmen.

Und doch.

Ein Gefühl hatte er. Das Gefühl in einem geschlossenen Raum zu sein. Sein Verstand hämmerte ihm dies mit kaltblütiger und brutaler Sicherheit in das Bewußtsein. Auch wenn es kein rationaler Schluss war – es fühlte sich so an.
Noch etwas konnte Mark mit Sicherheit sagen. Der Untergrund war fest, eine feste, geschliffene Fläche , und dieser Gedanke beruhigte Mark ein wenig.

Erst jetzt stellte Mark fest, daß er selbst nackt war. Doch irgendetwas hatte sich geändert – war anders. Nein, nicht anders , sondern – falsch. Er fühlte sich nicht komplett.

Langsam strich Mark mit seinen Händen über seinen Körper. Schon bei der ersten Berührung meldete sich sein Verstand wieder – mit einer eiskalten, logischen Schlussfolgerung. Und obwohl die sensorischen Empfindungen, die anscheinend doch noch vorhanden waren, die Stimme seines Gehirns bestätigten, wollte es Mark nicht wahrhaben. Denn er strich über nichts. Sein Körper war schon noch da, aber jegliche Körperbehaarung war verschwunden. Keine Haare, keine Stoppel, kein Flaum – nichts. Mit einer schnellen Handbewegung griff er sich auf den Kopf und fand – nichts – nichts, ausser der nackten Haut, die seinen Schädel umspannte wie eine Membran. Verwirrung machte sich in Mark breit. Und sie steigerte sich in blankes Entsetzen, als er seine Hand über seine Geschlechtsteile gleiten ließ, oder besser, wo sich diese einmal befunden hatten.
Denn dort, wo er seinen Penis finden sollte, war jetzt nichts. Es fehlte nicht nur die Behaarung – es fehlte alles. Mark war nur noch ein geschlechtsloses Nichts.

Mit einem Mal fühlte er sich in ein tiefes Loch gestossen – ein merkwürdiges Gefühl, denn genau dort befand er sich. In einem Loch, einem Nichts. Sein Gehirn drohte ihm den Dienst zu verweigern. Er war außerstande, den Verlust seiner Behaarung und seiner Genitalien zu verkraften und in eine vernünftige Erklärung produktiv umzusetzen.
In seinem Leben war Mark unglaublich stolz auf seine Brustbehaarung gewesen. Es war animalischer Stolz gewesen und die Erfahrungen in der Frauenwelt hatten ihn in diesem Glauben nur bekräftigt. Die Verbindung mit seiner muskulösen Statur hatte einen Reiz ausgeübt, der Frauen in sein Bett gezogen hatte.
Jetzt beeindruckte er niemanden mehr – er war jeglicher Männlichkeit beraubt.

Ha , ihr Prediger ! Das solltet ihr lehren: Im nächsten Leben rauben sie euch die Eier, weil ihr zuviel gebumst habt ! Mark hatte zwar kaum erhofft, auch nach seinem Tod seine Gelüste befriedigen zu können. Trotzdem trieb ihn diese Geschlechtslosigkeit in eine dunkle Orientierungslosigkeit. Und dieses Duett mündete in diesem dunklen Nichts in einem weiteren Gefühl – nackter Angst.
Wenn er noch Haare hätte, so würden sie sich in seiner Panik sträuben. Mark lachte auf , auch wenn das Lachen in dieser Leere einfach verschwand und kein Lachen zurückließ. Aber die Unfähigkeit zu pissen, war in seiner Entsetzlichkeit beinahe komisch. War das bereits ein Zeichen des nahenden Wahnsinns , wenn er darüber lachen konnte ?

Etwas veränderte sich. Irgendetwas war jetzt im Gange.

Der Raum , in dem er hockte, wenn es denn ein Raum war, fühlte sich anders an. Mark lag immer noch am Boden. Trotzdem konnte er die Veränderung spüren. Langsam setzte er sich auf. Immer noch war die Finsternis so allgegenwärtig und verschlingend, dass Mark weder Formen noch sonstige Anhaltspunkte erkennen konnte. Seine Augen waren unfähig etwas zu fixieren, denn es gab nichts, was den entsprechenden Reiz auslösen konnte. Schwarze Farbe hatte sich über seine Augen gelegt.

Plötzlich , und ohne Vorwarnung, kippte Mark nach vorn und knallte mit dem Kopf brutal zu Boden. Harter Boden, schmeckte nach Metall.

Was zum Teufel ging hier vor ?

Mit dem Gesicht auf dem Boden , seinen Körper in embryonale Stellung gewickelt, lag Mark wieder da und wartete.

Nichts passierte.

Immer wieder strich er mit seinen Fingern über den Boden. Und doch dauerte er mehrere Minuten, bis sein Verstand die Tastempfindungen in eine weitere logische Schlussfolgerung umsetzen konnte.
Der Boden war gewölbt, nach oben gewölbt – wie eine Kugel, eine Schüssel.
Mark richtete sich wieder auf, langsam. Er streckte seine rechte Hand aus und konnte mit seinen Fingern die Wand spüren. Die Wölbung begann hier nach innen zu wandern. Ein Griff nach oben bestätigte Marks Entsetzen. Der kugelförmige Existenzraum , in dem er jetzt festsaß, war gerade gross genug für ihn. Gerade gross genug, damit er sitzen konnte. Rings um konnte er die Wände spüren. Die Klaustrophobie schien aus den Wänden zu strömen und strich über Marks Körper, um sich dort zu verdichten mit der Dunkelheit.

Mark zitterte. Es war nicht mehr bloße Angst, die er spürte, es war Panik. Jeglicher Sinn von Logik, jegliche Naturgesetze waren in dieser Welt (welcher Welt ?) außer Kraft gesetzt. Und wenn man sein ganzes Leben an diese natürlichen und unnatürlichen Grenzen gewöhnt war, dann war die plötzliche Aufhebung aller Gesetze umso schwerer. Auch wenn er seine natürlichen Grenzen eigentlich mit dem Aufprall auf dem BMW Cabrio verloren hatte.
Der Wahnsinn berührte Mark mit eiskalten Fingern – und er war machtlos dagegen. Geschlechtlos und gefangen klammerte er sich an seinen letzten Funken Verstand.

Die Minuten verstrichen. Und mit jeder Minute gewann Mark einen Teil seiner Beherrschung zurück. Nicht viel, aber einen Hauch. Er fühlte wieder etwas anderes als nur Panik.
Der Boden , auf dem er saß, setzte sich in Bewegung. Aber es war keine Drehbewegung, wie er es erwartet hätte, liegend in dieser Kugel. Vielmehr schien sich der Boden in alle Himmelsrichtungen auszubreiten. Er wurde eben. Wieder war Marks Verstand kaum in der Lage, diese physikalische Irrsinnigkeit zu verarbeiten, als plötzlich noch etwas passierte. Er konnte ein Geräusch hören. Die ganze Zeit über war er von völliger Taubheit umhüllt gewesen, aber jetzt konnte er ganz deutlich ein hohes Sirren hören. Und es wurde lauter. Mark nahm den Ton auf, um ihn einzuordnen. Er konnte es nicht.
Und dann war es still.

Mark hielt seinen Atem an.

Die Dunkelheit wurde aufgerissen und es wurde schlagartig hell, mehr als hell. Eine Sonne schien dicht vor Mark zu explodieren. Er riss sich die Hände instinktiv vor das Gesicht und kauerte sich zusammen, als die heissen Strahlen der Sonne über seinen Körper schossen.
So musste sich flüssiges Feuer anfühlen. Es war heiß. Brennend heiß. Der Boden schien zu glühen, wie das Blut in seinen Adern. Die Hitze und die Helligkeit waren von unbändiger Kraft. Mark wimmerte am Boden, während die Glut über ihn wegrauschte, und er innerlich zu verbrennen schien.

Genauso ruckartig wurde es wieder dunkel. Mark blieb regungslos am Boden liegen, wagte es nicht , sich zu bewegen, konnte es noch nicht. Nur langsam klangen die Schmerzen in seinem Körper ab (er konnte Schmerzen spüren !). Nur langsam kühlte sein Körper wieder ab. Und als Mark endlich seinen Kopf wieder hob, da sah er ihn.

Der Korridor, der weiße endlose Korridor.
Da vor ihm lag er. Mark kroch auf den weißen Glanz des Ganges zu , näher und näher.
Er stand auf.
Das Weiß, das von den Wänden und Böden abstrahlte, brannte sich wieder in Marks Augen und hinterließ auf dem Weg zum Gehirn eine Bahn der Verwüstung. Der Schmerz überschritt jegliche Grenze, die Mark zu Lebzeiten jemals kennengelernt hatte. Mark hielt, betäubt von der visuellen und physischen Gewalt , inne. Minutenlang stand er am Beginn dieses Ganges ins Ungewisse, unfähig einen weiteren Schritt zu tun. Die enormen Wellen des Schmerzes schienen an den Windungen seines Gehirns zu brechen , wie eine Brandung. Alles in seinem Kopf rotierte, und im nächsten Moment waren die Schmerzen fortgeschwemmt.

Orientierungslosigkeit blieb zurück. Wieviel Zeit war vergangen ? Wie lange war er schon hier ? Wie lange war Mark schon tot ? Zehn Minuten, eine Stunde, Tage ? Mark wußte es nicht. Er stand hier, ein Embryo in Mannesgrösse, und wußte nur, dass er tot war – und auch nicht. Er war jenseits. Was war das für eine Welt ? Keine Religion, sei sie noch so phantastisch , hatte ihren Anhängern über eine Anderswelt wie diese erzählt. Fragen über Fragen fielen über Mark ein.
War dies eine Prüfung ?
Gab es eine Zukunft , eine Zukunft nach dem Tod ?
Eine Zukunft für ihn ?

Die Helligkeit ebbte ein wenig ab, doch Mark war immer noch nicht imstande, Wände oder sonstige feste Formen zu erkennen. Die Vorstellung eines Korridors war eine Eingebung seines Verstandes und das Licht überzeugte seinen Verstand davon.

Zögernd machte Mark einen Schritt nach vorne.

Und fiel.

Mark wußte nicht, wie ihm geschah. Er riß die Arme hoch, um seinen Sturz aufzufangen, doch seine Hände griffen ins Leere. Mark spürte , wie die Geschwindigkeit an seinen bereits toten Organen zog. Es gab keinen Luftzug, aber es war freier Fall. Es fühlte sich an, wie freier Fall. Mark hatte in seinem realen Leben einige Sprünge mit dem Fallschirm getan. Er erkannte die Symptome seines Körpers – als jene, die sich beim freien Fall einstellen. Doch die äußeren Sinneseindrücke ließ diese Verstandeslogik unbeeindruckt. Er fiel durch das Nichts.

Er fiel.
Marks Angst wich einer gewissen Begeisterung. Mark fühlte, glaubte zu fühlen, wie sich die Flüssigkeit in seinen Gehörgängen bewegte. Adrenalin, welches er gar nicht mehr produzieren konnte, schoss durch seinen Körper. Ein Gefühl des Schwindels machte sich in seinem Kopf breit. Der nicht vorhandene Luftsog des stummen Falles umgarnte seinen Körper, drang in seine Poren und schoß durch die halbleeren Blut- und Nervenbahnen.

Mark fiel und fiel. Sein Körper war erfüllt von einem Flair, das Mark zu Lebzeiten nie kennengelernt hatte. Es war jenseits jeder realitätsbezogenen Sensorik, traumgleich.

Sterbe ich jetzt ? Fange ich jetzt erst an zu leben ?

Oder ist das erst der wahre Tod ? Wenn ja, dann will ich nur noch sterben. Es ist okay, es fühlt sich gut an.
Schatten der Vergangenheit rauschten im freien Fall an Mark vorbei. Menschen und Orte, schon längst vergessene Fragmente von Momenten – seine erste Freundin, sein Camaro, Idaho. Gesichter, Gesichter. Körper von Frauen, namenlos durch die Vielzahl. Er erlebte wieder die Orgasmen, die Schmerzen, den Triumph, die Einsamkeit. Er erlebte sich selbst noch einmal.
‚Mann, die Geschichte vom Leben als Zeitraffer war also auch nicht nur Schwachsinn.’, schoss es ihm kurz durch den Kopf.
Ereignisse von riesiger Anzahl, doch jetzt völlig unbedeutend. Es zählte nur mehr dieser Fall durch die Ewigkeit.

Mark fiel.

Knallhart schlug er auf. Die Knochen brachen. Er fühlte, wie seine Liquide aus seinem Körper entwichen. Blut, Plasma, Wasser. Alles ging von seinem Körper. Mark lag benommen am Boden, gelähmt vom qualvollen Schmerz und sah zu, wie sein Leben nochmals entrann.

‚Schnell. Wir verlieren ihn !’

Die Stimulationen erreichten ihn kaum mehr. Nur das Herz raste, wurde progressiv schneller und schneller, lauter und lauter. Mark sah sich selbst zerfliessen, spürte den nahenden Tod.
Krankenhaus. Er war im Krankenhaus. Und dort oben , jenseits der Decke des Zimmers, starrte ihn jemand an. Er sah so aus wie – Mark. Das war er selbst.

Flatline

Mark war nicht mehr.

[ 17.05.2002, 19:39: Beitrag editiert von: Enay ]

 

Interessant, zuerst beschreibst du den Prozess des Übergangs vom Leben in den Tod, dann wandert aufgrund der Wiederbelebung dein Protagonist wieder ins Leben zurück und stirbt erneut, weswegen er diesen Prozess wahrscheinlich erneut durchschreiten muss.

Allerdings hätte ich schon gespannt darauf gewartet, wie du den endgültigen Übergang ins Jenseits beschreibst. Ich weiß nicht, irgendwie ist dein Ende zuwenig konsequent, der Leser muss beinahe die gesamte Geschichte für sich interpretieren um zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen (und das sage ich, obwohl ich prinzipiell ein Freund des offenen Endes bin).

Ja, alles in allem, so glaube ich, läuft es darauf hinaus, dass mir ein prägnanter Schlussteil fehlt, der den Leser nicht "alleine im Regen stehen lässt".

Ansonsten: Guter Schreibstil, hat mir gefallen!

 

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