Mitglied
- Beitritt
- 14.03.2005
- Beiträge
- 215
Konopka, Du Arsch!
Die Turmuhr von Borby schlug zwölf Uhr nachts. Eine dunkle Gestalt kletterte unter Keuchen und Stöhnen über die Mauer der LPG "Frieden" Borby. Eigentlich sollte jetzt der Wachhund anfangen zu bellen. Aber aus irgend einem Grund blieb er still. Trotzdem versetzte der Eindringling dem Tier prophylaktisch erst mal kräftig eins zwischen die Hinterbeine, so dass sich dieses unter noch lauterem Winseln in seine Hütte verzog.
"Das ist jetzt schon der zehnte Einbruch!", monierte Werner Meisenbrink. Er war der LPG-Vorsitzende und somit für alles verantwortlich, was in der LPG vor sich ging.
"Ich werde es der Bezirksleitung melden müssen.", erwiderte Heinz Meißner, der von allen wegen seines Ranges als Unterleutnant der Staatssicherheit nur Stasi-Heinz genannt wurde.
"Neiiin, bist du verrückt! Bisher hamse doch nur Kleinkram geklaut!"
"Werner", sagte Stasi-Heinz entschlossen, " es geht nicht um die paar Kleinteile sondern ums Prinzip. Jemand versucht den sozialistischen Staat zu schwächen, und wir können das nicht dulden." Mit diesem Satz machte Stasi-Heinz den LPG-Vorsitzenden mundtot. Wut packte den Stasimann beim Anblick völliger Ignoranz gegenüber der derzeitigen Versorgungslage und er fing sofort an, sich den Verhören zu widmen.
Meisenbrink versuchte, ihn davon abzuhalten, seine Wut über den, von kapitalistischer Gier getriebenen Missetäter an den Facharbeitern auszulassen. Ohne Erfolg. Der Stasimann war dazu bestimmt, den Sozialismus aufrechtzuerhalten und hinterließ auf dem Hof eine Spur von verstörten Mitarbeitern.
"Stiiiiiift, herkomm!"
Der da brüllte war Kalle Holm. Er war das, was zu jener Zeit als Jungfacharbeiter bezeichnet wurde. Jungfacharbeiter waren ein Horde von Halbgeweihten bis fünfundzwanzig, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, das Leben eines jeden Lehrlings zur Hölle zu machen. Dabei gab es eine Art Hierarchie: Der Saustift, ein Lehrling im ersten Lehrjahr, konnte davon ausgehen, dass sein Leben auf dem LPG-Hof nichts wehrt war. Die Zwischenpisser, Lehrlinge im zweiten Lehrjahr, waren weder Fisch noch Fleisch und hatten erst recht nichts zu melden. Die EK, Entlassungskandidaten im dritten Lehrjahr, hatten das alles schon hinter sich und wurden meistens in Ruhe gelassen oder mutierten zum Ende ihrer Lehrzeit zu der Spezies der Jungfacharbeiter.
Pech für den, welchen Holm gerade am Wickel hatte. Er war einer dieser Saustifte, die in der Rangfolge ganz unten standen.
Der Lehrling gehorchte artig und machte sich auf den Weg. Als er bei Holms Traktor ankam, schnappte dieser ihn am Kragen und drückte das Gesicht des Lehrling in dass innere des Führerhauses.
"Ja, und was jetzt?", fragte der Lehrling
"Kein Lenkrad und einen Haufen Hundescheiße auf dem Sitz."
"Und was hat das mit mir zu tun?"
"Wegmachen!", forderte Holm.
"Aber ich bin zur Bodenbearbeitung eingeteilt und mu....!“
Bangggg! Man konnte über den ganzen LPG-Hof hören, wie der Kopf des Lehrlings auf dem Schutzblech des linken Vorderrades des mächtigen ZT 303 aufschlug. Jemand hatte es gewagt, Holms Traktor derart schändlich zu entweihen, dass Holms übliche Schikanen dem Lehrling gegenüber jetzt in schiere Gewalt umschlugen. Unser Einbrecher vom Anfang der Geschichte hatte wohl persönlich etwas mit Holm abzumachen, und legte Holm zusätzlich zum entwendetem Lenkrad noch einen Haufen Wachhundexkremente direkt auf den Sitz.
„Hi, hi, hi!“ feixte Frieder Konopka, der in der Hierarchie der LPG sogar noch unter den Lehrlingen stand. Konopka war ein abgesägter speckiger Kerl, dessen Verstand sich wohl schon lange in seinem Schädel erhängt hatte.
„Konopka, Du Arsch, ich hau...“ Da hatte Holm den kleinen Konopka schon am Kragen, Aber der Lehrling drohte zu entfliehen. Geschwind ließ Holm von Konopka ab und wandte sich wieder dem Lehrling zu.
Bangggg! Ein zweites Mal begegneten sich Lehrlingskopf und Traktorschutzblech.
Holm dachte erst, es sei die Rache des Lehrlings für die ständigen Schikanen. Dieser schob aber jedwede Schuld weit von sich, was Holm dennoch nicht davon abhielt, sein gewohnheitsmäßiges Züchtigungsrecht am Lehrling auszuüben. Doch Holm hatte die Rechnung ohne die Wut des Lehrlings gemacht, die jetzt endgültig am überlaufen war. Nachdem der Lehrling sich von der Begegnung mit dem Schutzblech erholt hatte, fiel ihm zufällig ein Stück abgerissenes Kabel ins Auge, schnappte es und drosch auf Holm ein. Holm, der eigentlich einen Kopf größer und doppelt so breit war als der Lehrling, bezog die Tracht Prügel seines Lebens. Mit aufgerissenen Mäulern und Augen stand die Belegschaft der LPG um die beiden sich balgenden herum. Der Lehrling prügelte auf den flehenden Holm ein wie ein Berserker. Stasi-Heinz ließ von seinen Verhören ab und versuchte zu intervenieren. Meisenbrink, welcher wiederum Stasi-Heinz davon abhalten wollte, die Facharbeiter auf dem Hof in Angst und Schrecken zu versetzen, stand ihm bei. Sie hatten ihre Mühe den Lehrling davon abzuhalten, an Holm die Bastonade zu vollziehen.
„AUF-HÖ-REN!“ , schrie Meisenbrink.
Als sie den Lehrling unter Kontrolle hatten, fühlte sich Stasi-Heinz dazu berufen, die Situation mit einer flammenden Rede endgültig zu bereinigen:
„Ihr seid doch wohl nicht ganz dicht! Und warum geht der Hund eigentlich so breitbeinig?“
Den letzten Satz nahm die Belegschaft nur noch in Trance auf
Ein paar Minuten später hatte sich die Lage alles andere als beruhigt. Der Lehrling wurde ins Büro des LPG-Vorsitzenden geschleift und Holm, wütend über den Angriff des Lehrlings, musste den Spott der gesamten Belegschaft über sich ergehen lassen. Stasi-Heinz war immer noch am Verhören, und auch sonst war alles irgendwie hektisch heute.
Wegen der Prügelorgie mit Holm hatte sich der Lehrling eine Strafversetzung an die „Klapper“ eingehandelt. Die Klapper war eine riesige Kartoffelsortieranlage und hatte sich im Laufe der Jahre als Strafkolonie für unbeugsame Mitarbeiter entpuppt. Man war also in guter Gesellschaft. Was hier an geistigem und kriminellem Niederstand herumrannte, würde selbst einem eingefleischten Zuchthauswärter den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Einzig und allein die Anwesenheit zweier blutjunger Offiziersehefrauen aus der heißgeliebten Sowjetunion brachten die Kollegen dazu, sich nicht wie Primaten zu benehmen.
Chef und Oberaufseher der Klapper war ein übler Schurke namens Manfred Stiller. Er war bei allen wegen seiner Wutausbrüche gefürchtet. Aber selbst er wurde lammfromm, wenn sich eine der sowjetischen Damen näherte. Von Zeit zu Zeit verschwand eine von ihnen in Stillers Büro.
Mittagspause. Mit einem infernalischen Krach wurde das Personal aus dem Schlaf gerissen. Sie trauten ihren Augen nicht, als plötzlich die Vorderfront eines Traktors und die Klapper eins zu sein schienen. Stiller kam aus seinem Kabäuschen gerannt, erkannte den Traktor von Frieder Konopka und fing an zu fluchen wie ein Rohrspatz.
„Konopka, Du Arsch! Hass’ was am Sender?“ Stiller war nicht zu bändigen. Er schnappte sich ein paar vergammelte rumliegende Kartoffeln und schmiss sie nach Konopka. Dieser prügelte den Rückwärtsgang rein und entfloh. Stiller ging wieder in sein Büro und die Belegschaft rückte die Schlafkissen zurecht.
Einige Zeit verging. Die Kartoffelernte pausierte, Stiller pimperte sich in seinem Büro die Seele aus dem Leib und das Personal schlief und träumte süß. Alles war wie immer.
„Wo s’n Konopka?“ fragte Stiller und ruckelte den Lehrling aus dem Schlaf.
Stiller wurde etwas unruhig, weil er Konopkas nächste Kartoffelfuhre erwartete. Konopka war aber vom Acker bisher nicht zurückgekehrt. Eine weitere Stunde verging und von Konopka keine Spur. Stiller wurden dann aber doch ungeduldig. Er ging hastig in sein Büro. Einen kurzen Moment später stolpert die beiden Russinnen mit je einem Kleidungsstück in jeder Hand heraus. Stiller folgte sogleich, zog sich die Jacke an, stieg in seinen Wartburg und sauste davon.
Von draußen hörte Konopka ein paar Reifen quietschen. Er horchte kurz auf und schraubte dann wieder an seinem Gefährt rum. So, fertig, mal probiern, dachte Konopka. Er drehte den Zündschlüssel um, und ein höllischer Lärm setzte ein. Er setzte sich auf das Gefährt, trat ehrwürdig die Kupplung und legte den ersten Gang ein.
Plötzlich sah er den erstaunten Stiller im Scheunentor stehen. Stiller traute seinen Augen nicht: Konopka hatte sich aus zusammen getragenem Volkseigentum einen kleinen, aber robusten Traktor gebaut. Alles war vorhanden, die Räder, Rahmenteile, Batterie. Konopka hatte es sogar geschafft einen kompletten Motor eines sowjetischen Traktors Marke MTS50 aus der LPG heraus zu schmuggeln. Am vorderen Teil dieses Monsters hatte Konopka Teile von Pflugscharen so angebracht, als wolle er damit sämtliche Mauern dieser Welt einreißen.
Konopka und Stiller sahen sich eine Weile stumm an. Wie hätten sie auch reden können, der unbeschreibliche Lärm des Gefährts hätte jede Konversation schon im Keim erstickt. Gerade als Stiller seinen Arm hob, um die Gesprächsinitiative zu ergreifen, erschrak Konopka und ließ die Kupplung los. Das Vehikel setzte sich ruckartig in Bewegung und raste auf Stiller zu. Stiller war völlig paralysiert. Das Vehikel setzte seine Fahrt in Richtung Stiller fort. Als die Spitzen der Pflugschare Stillers Körper erreichten, bemerkten Stiller und Konopka erst, das etwas Arges im Kommen war. Konopka trat Kupplung und Bremse, aber das Vehikel wollte nicht anhalten, und so rissen die Spitzen der Pflugschare Stiller die Beine weg. Er fiel ruckartig nach vorn über, knallte mit der Stirn auf die Kühlerhaube und blieb ohnmächtig bäuchlings auf dem Trecker liegen. Kurz vor der Jauchegrube brachte Konopka das Vehikel zum Stehen. Die physikalischen Gesetze der Trägheit führten dazu, dass Stillers Körper seinen Weg fortsetzte und mit einem dumpfen “Blob!“ in die Jauchegrube plumpste. Konopka stand hinter dem Lenkrad und starrte mit weit aufgerissenem Mund in die Jauchegrube, wo Stillers Körper in Sekundenschnelle in der stinkenden Brühe verschwand.
Als Konopka wieder zu sich kam, rannte er ins Haus. Wenige Minuten später kam er mit einem Bündel Sachen, Lebensmitteln und einer Flasche vom schlechtesten Fusel wieder aus dem Haus gerannt, startete sein Gefährt und machte sich in Höchstgeschwindigkeit vom Hof gen Westen.
Das Letzte, was man von Konopka hörte war, dass er ein paar Meter vor dem Grenzzaun stehen blieb, weil er durch seine überhastete Abreise vergessen hatte, genug Diesel in den Tank zu füllen. In einem Anfall von Tobsucht fing er an auf sein Vehikel einzutreten und die unflätigsten Wörter dem wehrlosen Gefährt an den Tank zu werfen. Die Grenzer hatten alle Mühe, Konopka davon abzuhalten, sich den Fuß blutig zu treten. Ein Bauer, der auf dem Feld gerade sein Geschäft verrichtete erzählte, dass vier Grenzer nötig waren, um Konopka zu bändigen. Er wurde in einen NVA-LKW verfrachtet und abtransportiert.