Konstantin
1. Beschnitzte Eingangstür und Stuck an der Fassade
Ich zog direkt nach meinem Abi in die WG. Zivildienst brauchte ich zum Glück nicht machen, da ich einige Probleme mit meinen Knien hatte – und einen guten Arzt. Ich glaube, heute ist's eh viel einfacher, ausgemustert zu werden als früher. Und so hatte ich ein Jahr Vorsprung gegenüber meinen Klassenkameraden, die nun im Schlamm robben durften. Durchaus kein Nachteil, zumal ich mich dann nicht so mit dem Studium abhetzen musste.
Die WG, in der ich schließlich einzog, war die siebte oder achte, die ich anschaute. Sie befand sich im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses aus der Jahrhundertwende, mit einer schönen beschnitzten Eingangstür und Stuck an der Fassade. Maria öffnete die Tür.
„Hi, ich bin Tom. Ich hab vorhin wegen des WG-Zimmers angerufen.“
„Ah, ja. Konstantin hat's mir erzählt. Komm rein.“.
Ich ging durch den schmalen Hausflur, an dessen Ende die hölzerne Treppe ins Obergeschoss lag, und betrat die Wohnung. Maria folgte mir. Der Wohnungsflur sah aus wie die meisten WG-Flure, die ich bisher gesehen hatte. Chaotisch, aber irgendwie gemütlich. Jedenfalls sah man, dass hier gelebt und nicht nur gewohnt wurde.
„He, Leute! Der Interessent für Lisas Zimmer ist da!“ rief Maria. Ich betrat die Küche, die ebenfalls nicht gerade wirkte wie im Möbelhaus. An den Wänden waren Fettspritzer, der Herd sah aus wie seit Monaten nicht mehr gesäubert und in der Ecke brummte ein altersschwacher Kühlschrank vor sich hin, der vermutlich mehr Strom verbrauchte als der gesamte restliche Haushalt. Einer meiner potenziellen Mitbewohner betrachtete gebannt die Kaffeemaschine, drehte sich aber zu mir um, als ich näher kam. Ich streckte ihm meine rechte Hand hin. Er sah lächelnd auf und nahm meine Hand entgegen.
„Hi, ich bin Konstantin. Wir haben vorhin tele ...“ Das Lächeln erstarb. „... telefoniert“, beendete er seinen Satz.
„Alles okay?“, fragte ich stirnrunzelnd.
„J-ja, klar. Ich dachte nur einen Moment, ich kenne dich von irgendwoher. Hab mich wohl geirrt.“
„Vermutlich. Du kommst mir jedenfalls nicht bekannt vor.“
„Wie gesagt, ich hab mich geirrt“, antwortete er in etwas schärferem Tonfall. Ich runzelte die Stirn.
„Ah, du hast Konstantin schon kennen gelernt. Ich bin Miriam.“ Ein etwa 20-jähriges, nicht unattraktives Mädel mit hellbraunen, schulterlangen Haaren kam auf mich zu und schüttelte meine Hand. Ziemlich kräftig für eine Frau, dachte ich und zog meine leicht schmerzende Hand zurück.
„Hi, ich bin Tom und wollte mir eure WG anschauen.“
Miriam musterte mich von oben bis unten.
„Also, so wie du aussiehst, würde ich dir sofort eine Zusage geben“, meinte sie grinsend.
„Charmant wie immer.“ Maria war hinter ihrer Mitbewohnerin aufgetaucht und kniff sie in die Seite.
„Komm, ich zeig dir das Zimmer.“ Ich folgte Maria durch die Küchentür auf die andere Seite des Flurs. Der Raum war fast quadratisch und hatte zwei relativ große Fenster mit Blick auf den Innenhof. Ich ging sofort hin und schaute nach draußen.
„Nicht schlecht“, murmelte ich. „Ist das eure Terrasse?“
„Jepp“, sagte Maria. „Ist echt cool für Grillpartys – oder auch zum draußen lernen.“
Ich nickte. „Wie groß war das Zimmer noch mal?“
„18 m². 295 Euro Warmmiete. Ist nicht gerade das billigste, ich weiß, aber dafür nur ein Katzensprung zur Innenstadt-Uni. Wenn du allerdings zur Feki raus musst, ist's etwas weiter.“
„Nein, ich muss zum Markusplatz. Ich studiere Psychologie – beziehungsweise ich fang jetzt an.“
„Ah, ein Ersti. Wird dir sicher hier gefallen. Kommst du aus Bamberg?“
„Jepp. Hab erst überlegt, nach München zu gehen, aber irgendwie hat's daheim auch seine Vorteile. Außerdem kann mir meine Mutter so weiterhin die Wäsche waschen.“
Maria lachte. „Wir haben in der Küche auch 'ne Waschmaschine. Kann nicht schaden, das Wäsche waschen irgendwann mal zu lernen.“
„Och, gemacht hab ich das schon öfters. Ist ja nicht so, dass ich daheim nicht mit anpacken muss.“
„Hast du gerade erst Abi gemacht?“, wollte Maria wissen.
„Ja. Abi 2009. 2010 hätte besser geklungen, doch dazu hätte ich sitzenbleiben müssen.“
„Oh Mann, da fühl ich mich gleich alt. Ich bin schon seit 2006 an der Uni. Aber ich hoffe, ich werde nächstes Jahr fertig. Ist allerdings nichts gegen Konstantin. Der ist schon seit fünf Jahren dabei.“
„Geht ja auch noch. Mein großer Bruder hat 14 Semester studiert – und das Studium dann abgebrochen. Wär für mich verschwendete Lebenszeit. Ist nicht so, dass ich unbedingt so schnell wie möglich fertig werden will und ich war in der Schule auch nie so der Superstreber, aber ewig will ich auch nicht an der Uni hocken.“
„Uni ist ein gutes Stichwort. Ich muss gleich noch in die Bib. Kannst dich aber gerne noch umschauen oder fragen, wenn du was wissen willst.“
„Ich denke, ich hab alles gesehen. Gefällt mir von denen, die ich bisher angeschaut habe, am besten. Also ich würd sofort zusagen.“
„Wir haben noch zwei weitere Interessenten. Einer kommt nachher und einer morgen. Machen wir's so, wir rufen dich morgen Abend an und sagen Bescheid.“
2. Ein richtiger Kindskopf
„Hi, Tom. Soll ich dir helfen?“ Miriam begrüßte mich grinsend. Ich grinste zurück.
„Nicht nötig. Mein Packesel ... äh, mein Vater hilft mir.“ Miriam machte Platz und sah zu, wie mein Erzeuger schnaubend einen Umzugskarton durch den Flur schleppte.
„Hallo“, brummelte er in seinem tiefen Bass, „ich würd Ihnen ja gern die Hand geben, aber ich habe gerade leider keine frei.“
„Kein Problem“, meinte Miriam, „aber Sie dürfen mich ruhig duzen. Sooo alt bin ich auch noch nicht.“
Ich hatte inzwischen die Seitenteile meines Bettes in meinem Zimmer abgeladen.
„Wohin soll der Karton, junger Mann?“, wollte mein Vater wissen.
„Stell ihn einfach in die Ecke neben dem Fenster. Da können wir erstmal alles stapeln, bis ich den Schreibtisch aufbaue.“
„Du willst den Tisch ans Fenster stellen? Da schaust du doch bloß den ganzen Tag raus, statt zu lernen.“
„Das fördert das Denken, Papa. Jedenfalls mehr, als gegen eine Raufasertapete zu starren.“
Mein Vater zuckte die Schultern. „Wie du meinst. Das ist dein Zimmer. Ich will dir da nicht reinreden. Aber wenn deine Mutter das sieht ...“
Ich seufzte. „Ja, die möchte mir da bestimmt reinquatschen. Soll sie doch. Drauf hören werd ich nicht, schließlich ist das jetzt mein eigenes Reich.“
Wir schleppten noch eine ganze Weile Kartons und Möbelteile. Miriam schaute zuerst gespannt zu, entschloss sich dann aber, doch mitzuhelfen.
„Sag mal, räumst du eure ganze Wohnung aus?“, wollte sie wissen, als wir beim sechsten Umzugskarton angekommen waren.
„Nicht ganz. Aber ich hab 'nen Haufen DVDs und Bücher. Und Klamotten. Aber ich glaub, das waren jetzt alle.“
„Dann geht’s ja noch. Du solltest mal Konstantins Zimmer sehen. Der muss 'ne ganze Kartonfabrik plündern, bevor der irgendwann mal wieder ausziehen kann. Na, du wirst seine Comicsammlung noch früh genug bestaunen dürfen.“
„Comics? Der sah mir eigentlich reif genug aus, um aus dem Alter raus zu sein.“
„Könnte man meinen. Immerhin ist er der Älteste von uns. 25 ist er, wenn ich mich nicht irre. Aber er ist ein richtiger Kindskopf. Darum mögen wir ihn auch. Leider muss man ihn immer dazu zwingen, mal mit uns irgendwohin mitzukommen. Ist ziemlich einzelgängerisch, der Knabe, aber sonst echt okay. Zumindest kümmert er sich immer um seinen Putzdienst.“
„Den krieg ich schon mitgezerrt, wenn wir weggehen wollen. Meinen Überredungskünsten ist noch keiner entkommen.“
Miriam lachte. Nein, genauer gesagt lächelte sie mich an.
„So, so. Na, das kann ja lustig werden.“
Und damit hatte sie verdammt recht. Wenn auch anders, als sie es sich jemals hätte ausmalen können.
3. Milch aus dem Kühlschrank
Schlaftrunken stapfte ich in die Küche, geradewegs auf die Kaffeemaschine zu. Konstantin saß am Küchentisch und las den Fränkischen Tag. Die Kanne war noch halbvoll.
„Kann ich was davon nehmen?“, fragte ich meinen Mitbewohner und zeigte auf das zischende Gerät vor mir.
„Hmm-Hmmm“, meinte er, ohne aufzusehen.
Ich füllte meine Tasse, holte die Milch aus dem Kühlschrank, schaute aufs Haltbarkeitsdatum und goss ein paar Tropfen in den Kaffee. Dann setzte ich mich gegenüber von Konstantin an den Tisch. Er schaute mich kurz über den Rand der Zeitung hinweg an und vertiefte sich dann wieder in die neuesten Meldungen aus Bamberg und Umgebung.
„Und, was steht heute an?“, versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Nichts groß“, murmelte er, ohne aufzublicken.
„Ich werde mir mal die Uni-Bibliothek ansehen. Ist sicher nicht schlecht, wenn ich mich da schon etwas zurechtfinde, bevor die Vorlesungen beginnen.“
„Hmmhmm“, war die Antwort.
„Ich bin schon ziemlich gespannt auf die Uni. Geht aber vermutlich jedem Erstsemester so.“
Konstantin seufzte, legte die Zeitung weg und erhob sich. Mit seiner Kaffeetasse in der Hand verließ er den Raum, ohne mich noch einmal anzusehen. Ja er schien sogar bewusst meinen Blick zu meiden. Ich kratzte mich am Kinn und dachte, ich müsste mich mal wieder rasieren, sodass ich den Vorfall vorerst vergaß und mich ins Bad begab.
4. Konstantin zögerte
„Komm schon, eins noch. Du hattest doch erst zwei.“
„Nee, echt nicht. Das reicht. Ich hab da wenig Übung drin. Von den zwei Bier spüre ich schon genug.“ Konstantin hob abwehrend die Hände.
„Na los. Ich geb's dir auch aus.“
Konstantin starrte kurz in den sternklaren Himmel (der aufgrund der Fackeln um die Tische herum allerdings nicht allzu viele davon erkennen ließ) und schien zu überlegen. Dann seufzte er. „Na gut, überredet.“
„Ha! Hab ich's nicht gesagt, Miriam? Ich bin Tom, der Überredungskünstler.“ Ich ging zum Ausschank. Als ich mit den zwei Bier zurückkam, war Konstantin verschwunden.
„He, wo ist er denn hin?“, fragte ich meine neuen Mitbewohnerinnen.
„Er ist gegangen. Meinte, er wolle doch nichts mehr.“ Maria zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„Na toll, und was mach ich jetzt mit dem Bier?“
„Gib's mir. Ich werd's vernichten, bevor's schlecht wird“, sagte Roman und streckte gierig seine Hände aus. Maria knuffte ihn in die Seite.
„Du hattest schon fünf. Reicht's dir noch nicht?“
„Nö.“ Er legte einen Arm um seine Freundin. Ich schob Roman das Bier rüber. Er nahm sofort einen großen Schluck.
„Oh, weh mir, ich bin mit einem Alkoholiker zusammen.“ Maria schluchzte theatralisch.
Als ich mich wieder gesetzt und ein paar Schlucke von meinem eigenen Bier getrunken hatte, fragte ich in die Runde: „Sagt mal, ist Konstantin immer so drauf?“
„Was meinst du?“, wollte Maria wissen.
„Na ja, viel gesagt hat er heute Abend nicht. Außerdem schien er meinen Blicken immer auszuweichen. Und dann noch die Sache mit dem Bier eben. Hat der was gegen mich?“
Maria und Miriam wechselten ihre Blicke, ich konnte ihren Ausdruck jedoch nicht deuten.
„Was?“, fragte ich ungehalten.
„Das sollte er dir besser selber sagen. Ich weiß nicht, ob's so gut wäre, das hinter seinem Rücken auszuplaudern“, meinte Maria und kratzte sich am Hinterkopf.
„Na, jetzt musst du's ja eigentlich“, sagte ich. „Denn nun hast du mich echt neugierig gemacht. Was ist denn mit dem? Ist der schwul oder was?“
Die Mädels schwiegen. Roland trank. Ich seufzte.
„Ich nehme an, das heißt ja. Und zu meinem Glück steht der wahrscheinlich auch noch auf mich.“
Immer noch Schweigen.
„Oh, Mann! Das war's also!“, rief Maria. Einige Leute vom Nachbartisch schauten in unsere Richtung.
„Was denn? Sag schon!“ Ich wurde langsam ungeduldig.
„Okay! Also, als wir letzte Woche überlegt haben, welchen Kandidaten für das Zimmer wir nehmen wollen, waren Miriam und ich uns eigentlich schnell einig, dass wir dich haben wollen. Ich hatte den Eindruck, die Chemie könnte da am besten stimmen. Das ist wichtig, wenn man sich ständig auf der Pelle hockt. Nur Konstantin zögerte erst. Den mussten wir regelrecht dazu zwingen. Eigentlich dachte ich, das wäre bloß seine übliche Entscheidungsschwäche, aber ...“
„... aber jetzt vermutest du, er steht auf mich und hatte Angst, er könnte sich in mich vergucken“, beendete ich den Satz.
„Jepp. Genau das.“
„Na toll! Und was soll ich jetzt tun?“
„Mit ihm reden, denke ich. Wenn du ihm klar machst, dass du absolut nicht auf Kerle stehst, wird er sicher kein Problem mehr mit dir haben.“
Und genau das tat ich – obwohl ich mich im Nachhinein frage, ob's vielleicht nicht besser gewesen wäre, wenn ich geschwiegen hätte und ihm künftig genauso aus dem Weg gegangen wäre wie er mir.
5. Du kanntest mich nicht. Aber ich dich schon.
Normalerweise habe ich echt kein Problem damit, Dinge direkt anzusprechen, aber diesmal kostete mich das echt Überwindung. So was war mir noch nie passiert. Ich meine, ich kannte zwar ein, zwei Schwule. Einer war bei mir in der Jahrgangsstufe gewesen und einer war im Schachverein, wo ich mal kurz gespielt hatte. Ich hatte mit beiden aber nicht viel am Hut, weshalb das für mich jetzt völliges Neuland war. Doch ich wollte das Thema vom Tisch haben, weshalb ich all meinen Mut zusammen nahm und das Gespräch anging.
Ich erwischte Konstantin am nächsten Abend im Wohnzimmer. Die Mädels waren unterwegs, also waren wir ungestört. Genau das, was ich brauchte.
„Hi. Was läuft da?“, fragte ich, als ich den Raum betrat.
„Wer wird Millionär“, antwortete er, ohne hochzuschauen.
Ich setzte mich neben ihn aufs Sofa. Er rückte sofort von mir weg. Ich seufzte, schnappte mir die Fernbedienung und brachte Günther Jauch zum Schweigen.
„He!“, rief Konstantin und wollte nach der Fernbedieung greifen. Ich legte sie auf die andere Seite des Sofas, wo er nicht so ohne weiteres rankam.
„Kon, ich muss mit dir reden.“
„Kon?“, fragte er verwundert.
„Ja. Hab keinen Bock, deinen Namen immer ganz auszusprechen. Sag bloß, für Konstantin gibt’s keinen Spitznamen?“
„Nee. Hatte ich nie nötig“, brummelte er. „Also, was ist?“
Ich seufzte. „Okay, das wird nicht einfach, also sag ich's gerade heraus. Ich weiß, was los ist.“
Er zuckte zusammen und schaute mich erschrocken an. „Was? Woher?“
„Von Maria. Sie hat mir verraten, dass du schwul bist.“
Er entspannte sich ein wenig. „Und?“
„Na ja, ich hab gemerkt, dass du mir aus dem Weg gehst, seit ich vorletzte Woche eingezogen bin, und … Also, ich will dir nicht zu nahe treten, aber die Mädels vermuten, dass du auf mich stehen könntest und darum so auf Distanz gehst.“
Konstantin schüttelte fast unmerklich den Kopf und schwieg.
„Du willst also nix von mir?“
Er schüttelte wieder den Kopf.
„Mann, Alter, da bin ich echt froh“, sagte ich erleichtert und klopfte ihm auf die Schulter. Er zuckte zusammen, sodass ich meine Hand schnell wieder wegnahm.
„Hätte echt kompliziert werden können. Ich mein, ich hab nix gegen Schwule, weißt du, aber ich steh nicht so auf Kerle. Mädels sind mir lieber. Miriam zum Beispiel.“ Ich grinste. Konstantin nicht. Dafür sah ich, wie sich seine Augen mit Tränen füllten.
„Was?“, fragte ich.
Konstantin schüttelte wieder nur den Kopf. Das machte mich rasend.
„Kannst du nicht sprechen, verdammt? Was ist los?“, herrschte ich ihn an. Er zuckte erneut zusammen.
„Sorry, aber das nervt mich total, wenn jemand nicht sagt, was Sache ist. Okay, du stehst also nicht auf mich, meidest mich aber trotzdem wie einen Pestfloh und fängst fast an zu heulen, wenn ich dich drauf anspreche. Was ist los, Mann?“
Er schluckte. Dann sagte er zitternd: „Ach verdammt! Stimmt schon, ich stehe nicht auf dich. Aber aus dem Weg gegangen bin ich dir trotzdem. Scheiße, ich wollte ja nicht mal, dass du hier einziehst.“
„Aber warum? Was hast du gegen mich? Ich hab dir nie was getan. Wir kannten uns doch gar nicht, bevor ich in die WG gezogen bin.“
„Du kanntest mich nicht. Aber ich dich schon“, meinte Konstantin tonlos.
„Echt? Woher?“
„Aus der Schule. Du warst doch auch am E.T.A.!“
„Jepp. Und? Auf unserer Schule waren Hunderte von Schülern, da sind wir uns sicher mal über den Weg gelaufen. Ist das ein Grund, mich zu hassen?“
„Ich hasse dich ja nicht, aber … Scheiße, es geht nicht!“ Er heulte jetzt wirklich fast.
„Was geht nicht, verdammt?“, schrie ich ihn an. Nun wimmerte er auch noch.
„I-Ich kann's dir nicht sagen! Echt nicht“, schluchzte Konstantin. „Das kann ich niemandem erzählen.“
„Doch, du kannst! Und du wirst es. Wir müssen jetzt mindestens ein Semester unter einem Dach leben, und ich will wissen, was du gegen mich hast, Scheiße noch mal! Also, du sagst, du stehst nicht auf mich. Was dann?“
„Richtig, ich steh nicht auf dich. Aber ich tat es. Damals, in der Schule. Als du zehn oder elf warst.“
„Was? Da musst du doch schon in der zehnten Klasse oder so gewesen sein.“
Er seufzte. Und nickte fast unmerklich.
„Ja, aber du bist doch fünf oder sechs Jahre älter als ich!“, rief ich.
Er nickte wieder. „Stimmt. Doch damals warst du für mich perfekt. Du warst … mein Traumjunge.“ Konstantin flüsterte fast.
„Was?“, schrie ich ihn an.
„J-ja. Ich ...“ Seine Stimme brach. Er schluchzte auf und fuhr fort: „Ich steh auf Kinder.“
Ich verpasste ihm einen Kinnhaken. Konstantin fiel seitwärts vom Sofa.
6. Das macht es nicht unbedingt einfacher
Ich zog ihn am Kragen wieder hoch und zerrte ihn zurück auf die Couch. Er ließ es bereitwillig geschehen und starrte nur seine Füße an.
„Scheiße, Mann, was redest du da?“, schrie ich ihn an.
„Es ist wahr. Ich bin … Ich bin pädophil.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Sag, dass das nicht wahr ist“, entgegnete ich kraftlos.
„Ist es aber. Ich hatte mich damals total in dich verliebt“, antwortete er leise.
„Sag, dass das nicht wahr ist. Sag, dass das nicht wahr ist!“, brüllte ich und sprang auf. Von oben hörte ich ein Klopfen. Die Nachbarn beschwerten sich über den Lärm. Gut, dass keine unserer Mitbewohnerinnen zuhause war. Die wären sicher sofort ins Wohnzimmer gestürmt, um zu erfahren, warum wir uns gegenseitig die Köpfe einschlugen.
Konstantin wimmerte wieder. Ich ließ mich zurück aufs Sofa fallen, allerdings in gebührendem Abstand zu ihm.
„Wie kann das sein? Sag's mir!“ Er zuckte mit den Schultern und starrte immer noch auf seine Füße, als seien die das Faszinierendste, was er je gesehen hatte. Wenigstens wimmerte er nicht mehr.
„Keine Ahnung. Das frag ich mich auch schon ewig. Du warst auch nicht der einzige, in den ich mich damals verguckt hatte. Die Schule wimmelte schließlich nur so von tollen Jungs. Das war echt die Hölle. Aber meine Eltern zwangen mich fast dazu, Abi zu machen, also kämpfte ich mich durch. Sonst wär ich sicher nach der Zehnten abgegangen. In einer Ausbildung hätte ich mich bestimmt in keinen verliebt, die wären da ja mindestens so alt gewesen wie ich. Wie gesagt, du warst nicht der einzige, aber in dich hatte ich mich am heftigsten verguckt.“
Jetzt war ich derjenige, der schwieg.
„Ich war froh, dass ich dich nach dem Abi nicht mehr jeden Tag sehen musste“, fuhr Konstantin fort. „Klar, irgendwie war's auch schade, aber vor allem war's eine Erleichterung. Ich hatte das Gefühl, du liefst mir ständig über den Weg, fast, wie um mich zu ärgern und mir zu zeigen, dass du immer irgendwie in der Nähe bist, aber trotzdem unerreichbar für mich. Ich hab dich dann nur noch ein paar Mal in der Stadt gesehen. Aber irgendwann, so mit 14, 15, warst du mir dann eh zu alt. Da kamst du in den Stimmbruch und hattest auf einmal Haare an den Beinen, was ich im Sommer sehen konnte, als du mal kurze Hosen anhattest, und irgendwie war der Zauber, der von dir ausging, schließlich verschwunden.“
Ich schüttelte fassungslos den Kopf.
„Und dann standest du neulich plötzlich bei uns in der Küche. Ich dachte, mich trifft der Schlag.“
„Hast dir aber nicht viel anmerken lassen“, sagte ich.
„Ja“, seufzte er. „Im Gefühle verstecken bin ich Profi. Muss ich ja sein. Mein ganzes Leben ist ein einziges Versteckspiel. Wenn man so eine Neigung so viele Jahre mit sich rumschleppt, wird man zwangsläufig gut darin, sich ständig zu verstellen.“
„Weiß irgendein Mensch von der Sache?“
„Nein, keiner. Wem hätte ich das denn erzählen sollen?“
„Keine Ahnung. Deinen Eltern, einem Kumpel … Einem Therapeuten.“
„Meine Eltern hätten mich doch glatt vor die Tür gesetzt. Und denen waren meine Probleme eh scheißegal. Wahrscheinlich hätten sie sich noch gefreut. Ein weiterer Beweis dafür, wie missraten ihr Sohn doch ist. Und Kumpels hatte ich damals nicht. Genau genommen hab ich auch jetzt keine richtigen. Und selbst wenn, würdest du 'nem guten Freund davon erzählen können? So nach dem Motto: He, ich muss mal mit dir reden, stell dir vor, ich wichs mir auf Bilder von kleinen Jungs einen ab. Ich wüsste da gar nicht, wo ich bei einem Outing anfangen sollte.“
„Warst du mal bei 'nem Psychologen?“
„Wozu? Das bringt doch nix.“
„Der hätte dir das wegtherapieren können.“
„Du meinst, so 'ne Art Teufelsaustreibung? Würdest du dir deine Heterosexualität wegzaubern lassen?“
„Quatsch! Natürlich nicht.“
„Siehst du? Genauso ist's bei mir. Außerdem meinen die Fachleute, dass das genauso wenig geht, wie Homosexualität wegzutherapieren.“
„Das kann man doch überhaupt nicht vergleichen.“
„Und warum nicht? Schwule stehen halt auf Männer, ich steh auf Jungs. Wo ist der Unterschied?“
„Meinst du das ernst? Sex mit Männern ist okay, Sex mit Jungs ist … krank.“
„Das dachte man früher von Schwulen auch. Da hat man ebenfalls versucht, denen das auszutreiben. Oder sie gleich eingebuchtet.“
„Was man mit Pädophilen auch macht. Zu Recht.“
„Nur, wenn sie was tun. Wenn sie Sex mit einem Kind haben.“
„Aber ist das früher oder später nicht immer der Fall? Du bist doch 'ne tickende Zeitbombe.“
Konstantin seufzte. „Siehst du, genau deshalb hab ich das noch keinem Menschen erzählt. Da kommen dann nichts als Vorurteile.“
„Ja, was erwartest du denn, Mann? Dass ich sage: Oh, toll, du stehst auf kleine Jungs, Herzlichen Glückwunsch? Außerdem stimmt's doch. Pädophile haben schließlich auch einen Sexualtrieb. Und der muss irgendwann mal raus, alleine durch Selbstbefriedigung wird niemand glücklich. Und was dann? Was, wenn du irgendwann ein Kind missbrauchst, weil du nichts dagegen unternimmst und sich der Druck bei dir so anstaut, dass du dich nicht mehr unter Kontrolle hast?“ Ich wurde unwillkürlich wieder lauter.
„Was, wenn du dich damals an mich rangemacht hättest?“, fügte ich hinzu und erschauderte. Das mochte ich mir lieber gar nicht erst vorstellen.
„Ich hab mich aber nicht an dich rangemacht. Das hätte ich auch nie. Es ist verdammt schwer, damit zu leben, aber ich hab mich unter Kontrolle. Und ich komme irgendwie damit klar. So, wie ich's die letzten zehn Jahre gemacht habe. Irgendwie werd ich's schon überleben, auch wenn das ein Scheißleben ist. Und wenn ich mich umbringe, wen interessiert's? Meine Eltern bestimmt nicht. Und die Leute würden sich freuen, dass wieder einer von diesen Perversen eingesehen hat, dass er auf dieser Welt nichts verloren hat. Ich hatte es schon oft genug vor, aber irgendwie war ich selbst dazu zu feige. Echt, wen kümmert's, ob ich lebe oder nicht?“ Konstantin seufzte. Dann schwieg er wieder.
7. Diese verdammte Wehmut
„Dich selbst sollte es kümmern“, sagte ich nach einem Moment der Stille, der mir viel zu lang erschien. „Bist du dir das denn nicht wert?“
„Nein, wieso? Du hast ja Recht, das ist krank. Geradezu pervers. Das sagen ja alle. Nicht zu mir, aber man hört's ja immer, was für Psychos das wären. Die ganzen letzten zehn Jahre hab ich das ständig gehört, wie krank wir Kinderschänder doch sind.“
„Bist du denn einer?“, fragte ich.
Erschrocken schaute er auf. „Nein! Will ich auch nicht. Aber ich hab immer Angst, dass ich's doch mal werden könnte. Ich meine, ich bin mir nahezu hundertprozentig sicher, dass ich einem Jungen nie was tun würde. Aber … Ach, ich weiß auch nicht.“
„Hundertprozentig sicher ist nichts. Und darum solltest du dringend was machen. Mag ja sein, dass die Fachwelt sagt, dass man so eine Neigung nicht wegtherapieren kann. Aber irgendwas tun musst du. Um deiner Selbst willen. Und die Fachwelt kann sich auch irren.“
„Warum denn? Das bringt doch eh alles nix.“
„Das sagst du jetzt. Ich bin kein Psychologe – jedenfalls noch nicht -, aber ich finde, dass du nicht gerade glücklich wirkst. Ist ja auch kein Wunder.“ Ich lachte humorlos. „Wenn ich so eine Neigung hätte, ich wüsste nicht, was ich tun würde. Ist für mich auch so … Irgendwie ist das so abgedreht. Da denkt man ja normalerweise gar nicht drüber nach.“
„Sei froh. Mir wird das tagtäglich reingedrückt. Jedes Mal, wenn ich einen hübschen Jungen in der Stadt sehe. Oder beim Einkaufen. Und immer ist da diese verdammte Wehmut, dass ich so gern für diesen Jungen da wäre, dass ich mit ihm kuscheln möchte, dass ich ihn streicheln möchte, dass ich … Na ja, in der Fantasie geht’s schon ziemlich weit. Aber nie so, dass ich dem Jungen wehtue. Der macht das alles freiwillig mit.“
Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten, aber das hätte wohl ziemlich albern gewirkt. Hätte ich Konstantin vielleicht anschreien sollen? Ich weiß es nicht. Ich hatte das Gefühl, dass er sich eine Menge von der Seele reden musste. Nur warum musste gerade ich die Tonne sein, in die er seinen Seelenmüll entlud? Wahrscheinlich Schicksal. Oder Pech. Oder was auch immer.
„Ich weiß auch, dass im wahren Leben kein normaler Junge mit 'nem erwachsenen Mann Sex haben wollen würde. Jedenfalls nicht freiwillig“, fuhr er fort. „Ist ja nicht so, dass ich völlig meinen Realitätssinn verloren hätte. Aber diese Sehnsucht ist halt immer da, und diese Wehmut, dass der Junge für mich unerreichbar ist, den ich da gerade vor mir habe. Und ehrlich gesagt … Na ja, dass du jetzt hier wohnst, macht es mir nicht unbedingt einfacher.“
„Kann ich mir denken.“ Ging mir ja genauso. Wir schwiegen einen Moment.
„Was tun wir jetzt?“, wollte Konstantin wissen. „Wirst du den Mädels was sagen?“
„Nein, wieso sollte ich? Das geht die nix an. Ich wünschte, mich würde es auch nichts angehen. Aber irgendwie tut es das jetzt ja doch. Und ich finde, du solltest dich auf jeden Fall mal nach Adressen von Therapeuten umschauen. Vielleicht sogar in eine Klinik gehen.“
„Dann dauert mein Studium ja noch länger.“
„Mag sein, aber dafür kannst du hinterher wieder richtig leben.“ Er schien darüber nachzudenken.
„Vielleicht. Ich weiß allerdings gar nicht, ob ich das überhaupt will.“
„Zu verlieren hast du doch nichts.“
Er nickte kraftlos.
Ich stand vom Sofa auf. Er ebenfalls. Dann umarmte ich ihn kurz und klopfte ihm auf den Rücken. Er zitterte.
„Kopf hoch, Mann!“
„Ich versuch's.“ Nachdem ich ihn wieder losgelassen hatte, meinte er: „Für so eine Umarmung von dir hätte ich früher alles gegeben. Schon verrückt.“
„Aber total.“
Ich war schon halb aus dem Wohnzimmer raus, als Konstantin fragte: „Tom?“
„Ja?“
Ich drehte mich noch einmal zu ihm um. Er schaute mir direkt in die Augen. Seine Augen waren grün. Ob ihm wohl meine Augenfarbe früher auch aufgefallen war, so oft, wie er mich beobachtet hatte? Ich senkte meinen Blick.
„Und, weißt du, ob du jetzt hier wohnen bleiben willst?“, wollte er wissen.
„Das Wintersemester muss ich's ja. Aber danach … Ich weiß nicht, ob ich länger mit dir in einem Haus leben könnte. Nicht, nachdem du mir das alles erzählt hast. Ich … Ich weiß es wirklich nicht.“
Er nickte. Dann ging ich in mein Zimmer und schloss die Tür ab.