Was ist neu

Kontrollverlust

Mitglied
Beitritt
03.02.2009
Beiträge
14
Zuletzt bearbeitet:

Kontrollverlust

Ich schaue mich um, und alles kommt mir ganz unwirklich vor. So nüchtern und kalt. Im Krankenhaus ist es so furchtbar steril, dass man unmittelbar an Tod erinnert wird. Aber sollte es nicht eigentlich anders herum sein, um einem Mut zu machen?
Ich betrachte den langen, hellen Lichtschein, wie er durch den Spalt unter der Tür ins Zimmer fließt. Das Licht ist weiß und künstlich. Erst jetzt bemerke ich, dass ich im Dunkeln sitze, die Dämmerung einfach an mir vorübergegangen ist. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so intensiv mit mir selbst beschäftigt und nachgedacht habe.
Bis auf die im Schlaf schmatzende Patientin im Bett gegenüber ist es still geworden. Als wäre das ganze Krankenhaus zur Ruhe gekommen. Nur alle zwei Stunden schaut eine Schwester nach dem Rechten und fragt auch mich, ob ich etwas bräuchte. Schon als sie mich das erste Mal ansprach, fiel mir auf, wie sehr sie Miri ähnelte. Vielleicht einfach weil sie die gleiche hübsche Zahnlücke aber auch dasselbe, irgendwie mitleidige Lächeln hat, wenn sie mich anschaut.

Und mir fallen wieder die Abende mit Miri ein, als sie noch meine beste Freundin war. Wir konnten über alles reden, die üblichen pubertären Themen eben. Über Jungs und den Wunsch endlich einen Freund zu haben, was für mich so unerreichbar schien. Denn Reden fiel mir schwer, wenn Miri nicht bei mir war. Sie war da ganz anders. Auch in der Schule unterschieden wir uns. Ich war immer sehr ehrgeizig und sie viel zu schlau, um sich viel vornehmen zu müssen. So über alles nachzudenken wie ich es tat, um nach Anerkennung zu ringen, die mir so wichtig war, dass sie mein Leben bestimmte.
Besonders viele Freunde hatte ich eigentlich nicht und so haben wir zu zweit jede Menge unternommen. Wir sind auf Konzerte gegangen, haben Instrumente gelernt, und als in den Herbstferien das Wetter zu schlecht wurde, um draußen die Zeit zu verbringen, haben wir uns ein Computerspiel gekauft, bei dem wir auch online zusammen sein konnten, selbst wenn jeder bei sich zuhause saß. Als Miri dann aber mit Ben zusammenkam, hat sie damit aufgehört und mich genauso im Stich gelassen. Alleine ausgehen kam für mich nicht wirklich in Frage. Ich habe mir andere Beschäftigungen gesucht und nach einiger Zeit kam es mir gar nicht mehr so vor, als würde etwas fehlen.
Ich fing an mir in anderen Kreisen neue Freunde zu suchen, die Miri zwar nicht ersetzen konnten, aber mir das Gefühl gaben, gebraucht zu werden und mein Leben voll ausfüllten. Manchmal bekam ich sogar den Eindruck meine Schüchternheit überwunden zu haben, was ganz wunderbar war. Meine Mutter schien das alles nicht zu akzeptieren. Immer wieder gab es Ärger, weil sie wollte, dass ich mehr Zeit mit der Familie verbringe, regelmäßiger zum Essen kommen sollte und angeblich zu wenig Zeit in die Schule investierte. Aber wenn ich nichts zu tun hatte, wurde ich schnell unruhig und besonders reizbar. Ihr gegenüber beim Essen zu sitzen und mir ihre Sorgen anhören zu müssen machte mich krank!
Mein Leistungsabfall wurde ein halbes Jahr später auf dem Zeugnis deutlich. Aber eigentlich interessierte mich das wenig, und dass meine Mutter nur in mein Zimmer kam, um mir alles Mögliche vorzuwerfen, machte mich wirklich wütend, weil ich der Meinung war, dass es viel Schlimmeres gab. Von ihr fühlte ich mich einfach nicht mehr verstanden, nicht einmal mehr gewollt. Immerhin nahm ich keine Drogen oder trank Alkohol, sondern verbrachte meine Zeit einfach mit Dingen, die mir Spaß machten. Ich suchte mir andere Wege stolz auf mich zu sein und das Gefühl zu haben, etwas erreichen zu können. Und ich konnte nicht verstehen, warum sie es nicht einfach hinnahm, und mir immer ein schlechtes Gewissen einreden wollte. Wenige Zeit später wechselte ich kein Wort mehr mit meiner Mutter, begegnete ihr höchstens auf dem Weg zum Kühlschrank, auch wenn ich den nicht mehr oft antrat. An vielen Tagen vergaß ich einfach zu essen.

Kränkend war der Anruf von Miri an meinem Geburtstag, am Ende des Jahres. Sie hatte sich schon längst von ihrem Freund getrennt und bedauerte sehr, dass ich mich so von ihr entfernt hätte und ihrer Meinung nach ein anderer Mensch geworden sei. Das klang für mich nach einer wirklich unechten Entschuldigung, und mir wurde auch nicht klar, was sie damit erreichen wollte. Ich war es nicht, die sich verändert hatte, ich hatte den Abbruch unserer Freundschaft nicht veranlasst und jetzt war es zu spät, denn sie passte nicht mehr hinein in mein Leben. Einen Freund hatte ich immer noch nicht. Und ich wurde sauer auf Miri und auf mich selbst, ganz besonders aber auf jeden, der versuchte, mir irgendwelche Ratschläge zu geben, denen ich zuhören musste und gedanklich nicht folgen konnte. Es gab andere Dinge, die mich mehr interessierten, auch wenn mich keiner verstehen wollte. Ich kam auch alleine klar und brauchte dafür weder alte Freunde noch meine Mutter, die manchmal nachts in mein Zimmer kam und mich kopfschüttelnd ansah.

Ich starre in das matte Schwarz des Raumes, unterbrochen von roten, blinkenden Lämpchen und tropfenden Schläuchen, deren Inhalt das ins Zimmer fallende Mondlicht fast glitzernd reflektiert. Hinter mir das regelmäßige Surren einer Maschine, neben mir geräuschvolles Atmen, auf dem Gang eilige Schritte und Gespräche im Flüsterton. Ich, sitze einfach nur da.

Wenn ich an das letzte Jahr denke, daran, was ich erlebt habe, fühle ich mich schlecht, denn da ist nicht viel. Ich mache die Augen zu und sehe meinen Bildschirm, die vertrauten Lichter und Figuren, die virtuellen Wälder und Seen. Es macht mich so unruhig, meine Finger nicht über die Tastatur bewegen zu können und in meinem Kopf ist dieses unsagbare Verlangen nach der Beschäftigung, der Fixierung auf das Spiel, auf eine Welt, die mich die Jetzige so einfach vergessen lassen würde.
Ich verstehe nicht, warum es mir gerade jetzt bewusst wird, dass das nicht genug sein kann, denn eigentlich möchte ich hier raus, nach Hause, in mein Zimmer, an meinen PC. Dort wo eine Welt wartet, in der ich mich beweisen kann, in die Miri und all die Anderen keinen Einblick mehr haben, doch das ist mir egal. Dort bekomme ich die Anerkennung, die mich beruhigt und die ich brauche. Schon allein dann, wenn Mitspieler erfahren, dass ich ein Mädchen bin, sind sie beeindruckt, vor allem aber im Hinblick auf das was ich erreicht habe. Denn ich gehöre zu den besten Spielern Deutschlands. Ich habe meine eigene Gilde, in der ich gebraucht und um Rat gefragt werde. Anerkannt und beliebt bei all den Spielern stelle ich mir gerne vor, was wohl die Jungs aus meiner Schule sagen würden wenn sie es nur wüssten. Und ich bin stolz, denn ich kann alles erreichen. Das Einzige, was ich dafür brauche, ist Zeit, und die kann ich mir nehmen. All die Nächte, die Wochenenden, tagelange Missionen, an denen ich die Geburtstage der Menschen vergaß, die mir wichtig sind und an denen ich der Meinung war, soziale Kontakte auf andere Weise zu pflegen.

Ich schaue mich um. Wieso kommt mir alles so trostlos vor, so unreal? Wo sind diese Menschen, mit denen ich all meine Zeit verbringe? Ich sitze im Dunkeln neben dem Krankenbett und frage mich, was ich hier mache. Mich stört die Stille genauso wie das Nichtstun und ich bin erschrocken über mich selbst, aber noch mehr darüber, dass ich nicht glaube, dass es jemals aufhören kann. Ich frage mich, ob mich eine Veränderung überhaupt noch glücklich machen könnte. Ich weiß, dass ich mal glücklich war, ohne meine virtuelle Welt. Ja, ich erinnere mich wirklich daran, aber ich kann es nicht fühlen. Ich frage mich was ich tun kann, was ich bereit wäre zu tun und ob es schon zu spät ist. Weil Hilfe kann ich nicht mehr erwarten von den Menschen, die bemerkten, wie ich die Kontrolle verlor, mir helfen wollten, von denen ich mir aber nicht helfen ließ. Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe und warum ich mich auf einmal, seit so langer Zeit, so furchtbar alleine fühle.

Die Konzentration darauf, dass gar nichts passiert und das Wissen, dass es noch die ganze Nacht anhalten wird, lässt mich den Moment als immer klarer empfinden. Die Ruhe und die Empfindung, einfach nur da zu sein, lassen mich alles so genau wahrnehmen, was still und unverändert um mich liegt. Auf das Einfachste reduziert ergeben sich viel mehr Umschreibungen und Wahrnehmungen für die Dinge die mich umgeben, viel mehr, als das Durcheinander, das sonst in meinem Kopf herrscht und für das mir die Worte fehlen. Und zum ersten Mal habe ich kein Gefühl dieser unruhigen Langeweile und den Drang, sie auszufüllen, sondern kann erahnen, wie es ist, endlich zur Ruhe zu kommen. Fast so als würde mein Körper endlich den Schlaf bekommen, der ihm immer gefehlt hat.

Mondlicht scheint noch immer durch die Vorhänge und erhellt auch das Gesicht meiner Mutter, wie sie nun seit Stunden schon einfach nur da liegt. Und ich schaue sie an – ich meine wirklich an. Sie sieht alt und erschöpft aus. Obwohl sie schläft, macht sie den Eindruck, als wäre sie unsagbar müde. Ich frage mich, ob ihre Schmerzen der Grund dafür sind, dass mir ihr Gesichtsausdruck so fremd vorkommt und versuche mich zu erinnern, wie sie früher ausgesehen hat. Aber alles was mir einfällt, sind die Nächte, in denen sie kopfschüttelnd und wortlos in meiner Tür stand und ich mir nicht die Mühe gemacht habe, sie überhaupt anzusehen. Und vielleicht hätte mir auffallen müssen, dass ich nicht nur mir schlaflose Nächte bereitet habe, und dass ich nicht die Einzige war, der damit die Kontrolle über einen Teil ihres Lebens immer mehr entglitten ist.

 

Hallo ladylay,

die Geschichte hat mich positiv überrascht, weil Du der Leserschaft die naheliegende Pointe erspart hast. Den zu Grunde liegenden Gedanken, dass aufgrund der Ausnahmesituation die Protagonistin in die Welt zurückfinden könnte, finde ich interessant. Ich hoffe im Laufe des Abends Zeit zu einer ausführlicheren Behandlung zu finden.


LG,

AE

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom