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Konzert mit Wildschwein
Konzert mit Wildschwein
Sie kamen nacheinander, und ließen das Gewitter auf uns niederfallen. Otis Rush und der blinde Sleepy John Estes, Yank Rachell, der ihn als Blindenführer über die Straßen des Südens geführt hatte, ... Big Joe Turner aus Kansas City, der Bluesshowter Jack Myles, Und schließlich Pete Wiliams. ...Er trieb mich mit wilden Schlägen über die Baumwollfelder bis ins Angola State Prison ... Und jetzt stand er hier mitten in diesem kleinen, geteilten, erschöpften Deutschland
Thomas Brasch**** über das American Folk Blues Festival 1966 in der DDR im Friedrichstadtpalast, das eine Welle der Bluesbegeisterung lostrat
Vergessene Musik - Neues Leben – Kleinstadt – Schwarze Messe - Osterblues I - Teenie Mucke - Osterblues II - Mann und Frau - Ostrock
Am Montag in der Teeküche einer Firma: „Stellt euch mal vor, was ich am Wochenende gesehen haben. Da hat doch tatsächlich eine Verrückte das Straßenpflaster geküsst. „Was es für Leute gibt.“, pflichteten ihre Kollegen ihr bei.
So könnte es sich abgespielt haben, aber so weit bin ich natürlich nicht gegangen, auch wenn mir danach zumute war, als ich endlich aus dem verhexten Wald raus war, und die Stadt vor mir lag. Jetzt wusste ich, was ich an der Zivilisation hatte. Die Natur konnte mir gestohlen bleiben. Meinetwegen konnten die Wälder ruhig abfackeln. Hier, in der Steinwüste, fühlte ich mich wieder sicher.
Warum hatte ich so eine feindselige Einstellung zu der herrlichen grünen Umgebung meiner Stadt, für die sie berühmt ist?
Ich war auf dem Rückweg von einem Konzert auf einer Freilichtbühne in einem Ort unweit von Berlin. Neben der Straße gab es einen guten Fahrradweg, das Problem war nur, dass sich mein batteriebetriebenes Vorderlicht selbstständig machte, und im Gebüsch auf Nimmerwiedersehen verschwand. Nun sah ich im stockdunklen Wald nichts mehr. Nur wenn mir Autos entgegenkamen, beleuchteten sie für einen kurzen Moment meinen Weg. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass um diese Zeit hier sowieso niemand mehr unterwegs war. Das sollte sich als Irrtum erweisen.
Ich fuhr auf etwas, fiel hin, und griff, beim Versuch mich abzufangen, in borstiges Haar. Es war ein Wildschwein, das quer über dem Fahrradweg stand. Es rührte sich nicht von der Stelle, so dass ich mir schon einbildete, es wäre ausgestopft. Ich war allein im Wald, und lag auf der Nase. Wie hatte es so weit kommen können?
Vergessene Musik
Auf der Hinfahrt zum Konzert fuhr ich über Adlergestell. Am S- Bahnhof Schöneweide schnorrte ein langhaariger Mann um die dreißig, der intelligent wirkte, und bei dem ich auf Wessi tippte. Ich warf 2 Euro in seinen leeren Kaffeebecher. Er hatte Knöpfchen in den Ohren. Welche Musik er wohl gerade hörte? „Vielleicht kennt er die alte englische Band*, die ich kürzlich für mich entdeckt habe?“, denke ich. „Und besonders ihre Platte von Einundsiebzig, in deren Titel auch noch das Wort „Mushroom“ enthalten ist, was bestimmt sein Interesse erweckte.
Aber er steckte das Geld ein, und sah an mir vorbei. Nicht, dass ich von ihm erwartete, dass er aus Dankbarkeit ein Gespräch mit mir anfing, aber irgendwie war mir das doch zu blöd. Was dachte er über die Leute, die ihm was gaben? Ob ihm klar war, dass das meist welche waren, denen auch schon mal das Wasser bis zum Hals stand.
Er wollte von ihnen Geld, aber er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Ich versuchte mir sein Leben vorzustellen, in dem sich alles darum drehte, Stoff zu beschaffen. Ob er sich überhaupt noch für irgendwas anderes interessierte? Oder ging es nur noch um Methadon, Entzüge und Rückfälle.
Ich war gerade in einer Phase drin, wo ich alles von den bekannten Bands der Sechziger und Siebziger durchgehört hatte, und deshalb nach unbekannten Bands aus dieser Zeit suchte, die nur Eingeweihten bekannt waren, dachte ich zu mindestens.
Deshalb war ich verblüfft, als ich auf einer Parkbank in der Wuhlheide mit einer Frau aus der Pfalz ins Gespräch kam, die früher sehr viel Musik gehört hatte, und sie mir gegenüber „Mahagony Rush“ und die “Edgar Broughton Band“ erwähnte.
"Woher kennst du diese Musik?", verlieh ich ihr gegenüber meinem Erstaunen darüber Ausdruck, dass sie so ausgefallenes Zeug kannte. „Wir hatten ja alles.“ erwiderte sie mir. und „Du holst jetzt wohl alles nach, seitdem du Internet hast?“ Für mich, die aus dem Osten kam, waren das obskure Bands, obwohl sie in eingeweihten Kreisen sehr bekannt waren. Die Pfälzerin, die so viel Ahnung von Musik hatte, und ich wurden Freundinnen.
Leider hatte sie mit ihrer Musikphase abgeschlossen. Sie, die vom Blues viel mehr wusste als ich, hatte längst den Deckel über ihre Jugend gemacht, und ließ sich auch von mir nicht dazu bewegen, ihn wieder hochzuklappen, was ich sehr bedauerte.
Neues Leben
In dem Vorort, wo das Konzert stattfand, hatte unsere Nachbarin, Frau Fischer, eine Gartenlaube geerbt. Sie ließ sofort alles stehen und liegen, und war aus unserm Dorf in Mecklenburg, hierher, in die Nähe von Berlin, gezogen. Warum auch nicht. Sie war verwitwet, und ihre drei Töchter erwachsen.
Die Vorstellung, dass unsere Nachbarin jetzt allein in einer Gartenlaube wohnte, inspirierte meine Fantasie. Ich sah sie vor mir, umgeben von einer Art verwildertem botanischen Garten, inmitten meterhoher Blumenstauden, Weinranken und auch von Kartoffel- und Gemüsepflanzen, so was ähnliches wie das Le Paradou, ein verlassener Garten, in dem das Mädchen Albine lebt, aus dem Roman von Zola „La Faute de l’Abbé Mouret“.
Ich stellte mir auch eine wurmstichige Holzhütte vor, wo es im Gebälk überall unheimlich knackte und Waschbären auf dem Boden hin- und herliefen. In Rummelsburg gab es mal einen Serienmörder, Paul Ogorzow, der nachts über Frauen in den Gartenkolonien herfiel.
Dafür wachte sie morgens durch das Gezwitscher der Vögel auf.
Sie verschwand einfach, und fing ein neues Leben an, zwar nicht richtig in Berlin, aber doch in der Nähe davon. Vielleicht fand sie die Liebe.
Ich habe mal in einer Rezension über einen Film aus Lateinamerika folgenden Satz gelesen, der mir nicht mehr aus dem Sinn ging: „Sie ging von ihrem Dorf in die Stadt, eröffnete einen Stand auf dem Markt, und alle ihre Versuche, zwischenmenschliche Beziehungen anzuknüpfen, scheiterten.“ Hoffentlich ging es der Nachbarin nicht genauso.
Alle Leute fingen in Berlin ein neues Leben an. Auch die junge Frau, die bei uns in der Bäckerei Ofenfahrerin war. Sie kam aus einer Stadt im Speckgürtel, wo sie wegmusste, nachdem sie den Gashahn aufgedreht hatte. Das erinnert an Sylvia Plath.
Es war das Übliche. Ihr Freund hatte sie verlassen. „Wenn ich noch länger dageblieben wäre, hätte ich mich vor die Bahn geworfen.“ In dieser Kleinstadt lief sie ihm ständig über den Weg.
Kleinstadt
Sie erzählte mir viel über ihn.: „Wir kamen von einem Konzert, und fuhren mit dem überfüllten Auto nachts auf der Landstraße. Plötzlich stoppte uns die Polizei. Er nahm mich an die Hand, und wir liefen zusammen durch den Wald nach Hause. Seit dieser Nacht waren wir ein Paar.“ und „Du musst ihn dir nicht als superattraktiven Typen vorstellen. Er war klein, hatte einen Bauchansatz und ein Doppelkinn, aber wenn er was getrunken hatte, war er der Lustigste von allen.“
Er war im reinen mit sich, und passte gut in ihre Kleinstadt. Er schien ein netter Kerl zu sein, und würde hier alt und grau werden, und die Söhne von ihm, die nicht ihre waren, würden auch in einer Band spielen.
Eigentlich wollte sie nie weg aus ihrer Heimatstadt, und die Schaukel ihrer Kinder sollte an demselben Apfelbaum hängen, an dem auch schon ihre gehangen hatte. Das Scheitern einer Liebe bedeutet wohl auch, dass man sich von einem Lebensentwurf verabschieden muss.
Sie kam aus derselben Stadt, aus der auch ein großer Studentenführer entsprungen ist.
Nachdem, was mir seine Landsmännin erzählt hatte, taufte ich sie „Die Stadt der unterdrückten Frauen“. Er hätte lieber erstmal zu Hause bleiben sollen, um die Frauenbefreiung in seinem Heimatort voranzutreiben, ehe er in Westberlin die Studenten aufstachelte, oder wenigstens dafür sorgen können, dass an einer Tankstelle an der Interzonenstrecke ein Stapel feministischer Schriften von einem Kofferraum in den anderen wechselte, und die Frauen seiner Stadt erreicht.
Die Stadt, aus der sie kam, war eine kleine Industriestadt nahe Berlin, in der es eine starke Blues- und Hippieszene gab, zu der auch sie und ihre Freunde gehörten. Es war schwierig für Mädchen sich dort zu halten. Um als Frau dort anerkannt zu werden, musste man sich extrem den Interessen der Männer unterordnen.
Sie versuchte die Balance zu finden, zwischen den verschiedenen Ansprüchen, die an sie gestellt wurden, die da waren: Tochter, Geliebte, Arbeitskollegin, Kumpel, und sich an die ungeschriebenen Gesetze zu halten, die die Männer gemacht hatten.
Diese, die alles anders machen wollten, machten es im wichtigsten Punkt, dem Umgang der Geschlechter miteinander, genauso wie die, von ihnen verachteten, Spießbürger. Die Frauen sollten sich ausgeflippt geben, aber in Wirklichkeit ganz brav sein. Ein bisschen an der Freiheit geschnuppert zu haben, sollte ihnen genügen.
Sie steckte in dem Zwiespalt zwischen Aufbegehren und Anpassung, und ihr Zusammenbruch war auch irgendwie Ausdruck ihres Scheiterns an dieser unlösbaren Aufgabe. Ich hatte das Gefühl, sie hatte sich zerrieben, in dem Bemühen, in einer Umgebung ihren Platz zu finden, in der bloß die Männer eine Bedeutung hatten.
Widerständigkeit wurde bei den Frauen mit Ausgrenzung bestraft. Dann wäre sie noch eher verlassen worden. Aufmucken war nicht ihr Ding. Stattdessen hatte sie sich bemüht, dem Bild zu entsprechen, was der Mann, den sie liebte, von ihr haben wollte, und spielte die Starke, die sie gar nicht war, was schiefging.
Ich glaube, Frauen kriegen einen Haufen Stress, wenn sie aufmucken, aber noch mehr, wenn sie es nicht tun.
Aber wenn ich ehrlich mir gegenüber bin, muss ich eingestehen: vieles habe ich auch nicht besser hingekriegt als sie.
Mir ist klar, dass das, was sie mir erzählt hat, mich heute so stark beschäftigt, weil ich später ähnliches erlebt habe, als ich selbst Freunde und Ersatzfamilie unter den Leuten der Bluesbewegung fand, die bei uns die größte und langlebigste Jugendszene war, und wo es mir oft so vorkam, als wenn nur die Männer ein Leben hatten, und die Frauen irgendwie Beiwerk waren. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ja, aber nicht für alle. Damit versuchte man sich zu arrangieren, und blendete es aus, wenn man dazugehören wollte.
Sie erzählte mir, die ungläubig lauschte, auch dass es unter ihren Freunden, von denen die meisten, wie schon erwähnt, aus der Blues- und Hippiebewegung kamen, die bei uns eine große Anhängerschaft hatte, nicht unüblich war, dass die Frauen von den Männern finanziell ausgenutzt, und oft auch geschlagen wurden. Das wurde als normal empfunden.
Was hatte das noch mit Woodstock zu tun?
Simone de Beauvoir, von der ich das erste Mal was in einem Song von Nina Hagen hörte hatte, hat mal geschrieben: „Die Frau muss, um zu überleben, lernen, sich als das Unwesentliche zu betrachten.“ Das hatten die Landsmänninnen meiner Kollegin wohl verinnerlicht.
Für viele Mädels, die sich in der Kleinstadt strengen Verhaltensregeln unterwerfen mussten, war es ihr Ausbruchversuch, sich in jemand zu verlieben, der stellvertretend für sie rebellierte. Und der entpuppte sich oft als der absolute Macho, und ließ seine Frustrationen an seiner Freundin aus.
Die Männer dort wurden auf einen so hohen Sockel gestellt, dass die Frauen sich gar nicht trauten, sich zu beschweren, wenn sie mies behandelt und im Stich gelassen wurden.
Emma Goldmann hätte sich im Grabe umgedreht.
Aber auch Simone de Beauvoir, die große Frauenrechtlerin, tolerierte ja , dass Jean Paul Sartre ständig fremdging. Wahrscheinlich blieb ihr nichts anderes übrig, denn in den intellektuellen Männerkreisen, in denen sie verkehrte, war sie trotz ihrer Schlauheit wohl nur geduldet, weil sie seine Freundin war, wenigstens am Anfang. „Wer ist denn die, die da `ne dicke Lippe riskiert?“ „Das ist doch die Frau von…“ und schon gehörte man mit dazu. Das kannte ich auch.
Viele hassten sie, ich glaube, am meisten nahmen sie Simone de Beauvoir übel, dass sie an der Existenz der Liebe zweifelte. Sie hielt sie für ein Phantasieprodukt der Frauen. Damit hätte ich meiner Kollegin, mit der zusammen ich in der Bäckerei arbeitete, auch nicht kommen dürfen, dann wäre sie mir ins Gesicht gesprungen.
Der ehemalige Freund von ihr arbeitete als Schlosser, und spielte auch noch Mundharmonika in einer Band, um die sich sein Leben drehte.
Schwarze Messe
In den Augen seiner Freundin war Musik reine Männersache. Sie hielt sich da raus. Da entging ihr eine Welt. Von den Rockpalastfeten, die Ende der Siebziger bis Anfang der Achtziger sehr angesagt waren, bei denen ich aber nie dabei war, war ihr nur noch der Geruch der verschwitzten Socken ihrer Kumpels im Gedächtnis hängen geblieben, während andere davon schwärmten, wie sie den Größten unter den lebenden Musikern gelauscht hatten, darunter auch den Tönen eines genialen Iren, den leider der Whiskey zu früh umgebracht hat.
Heute denke ich manchmal, dass es daran lag, dass sie einfach weiblicher fühlte als ich, und spürte, dass die Musiker oftmals nur ihr eigenes Geschlecht ansprachen.
Dafür ist besonders Metal berüchtigt. Ich erinnere mich noch gut, wie ich das erste Mal diese Musik live hörte. Ein Freund von mir und ich hatten am S- Bahnhof in KW eine Konzertankündigung gesehen. Er kannte die Band. Wir landeten auf einem Acker, auf dem schon ein paar hundert junge Männer warteten.
Die einzigen Frauen waren eine Powerlesbe und ihre Freundin, die beide, ganz in Leder, auf dem Motorrad angebraust kamen. Der Sänger hatte eine Mönchskutte an und war weißgeschminkt.
Mit einem Mal wurde es stockdunkel, und begann sintflutartig zu regnen. Aber keiner rührte sich von der Stelle. Die Band hatte nicht das allerkleinste Stückchen Dach über sich, aber spielte unverdrossen weiter. Nach einer Weile standen wir alle bis zu den Knien im Wasser.
Es wurde so eine Art schwarze Messe zelebriert. Die Musik zog mich immer mehr in ihren Bann. So musste es bei unseren Vorfahren, den Germanen, gewesen sein, wenn sie alle unter Ausstoßung gutturaler Laute ekstatisch um das Feuer rumgetanzt waren. Vielleicht erinnerte sich das Unterbewusstsein an uralte heidnische Zeremonien. Seitdem hatte ich Blut geleckt, und war noch oft auf Konzerten wie diesem.
Diese Musikrichtung galt von jeher als nicht besonders weiblich, der Blues dagegen als salonfähig und frauenfreundlich. Das dachte ich auch bis zu dieser Osternacht, kurz nach der Wende, am Neustädter Bahnhof in Dresden. Obwohl die Mauer gerade erst vor ein paar Monaten gefallen war, gab es dort schon besetzte Kneipen.
Osterblues I
Ich kam gerade von einem Konzert, das Freitag vor Ostern stattgefunden hatte, und wollte am nächsten Morgen nach Berlin weitertrampen, und die Nacht hier verbringen. Bei diesem Konzert traf ich meinen Freund wieder, von dem ich mich vor einer Weile in aller Freundschaft getrennt hatte, dachte ich jedenfalls.
Ich hatte ihn, einen schwierigen Typ, dessen Persönlichkeit man nur schwer erfassen konnte, und der wohl der Intelligenteste war, mit dem ich je zusammen war, seit zwei Jahren nicht gesehen. Er freute sich sehr. „Vielleicht wird es ja wieder was mit uns.“, hoffte ich. So ließ ich meine Kumpels allein nach Hause fahren, und blieb bei ihm und seinen Leuten.
Wir saßen nachts zusammen auf dem Platz vor dem Clubhaus des Stahlarbeiters, dass an diesem Osterwochenende stockdunkel war, obwohl die Wende erst fünf Monate zurücklag. Zu normalen Zeiten wäre es da hoch hergegangen. In dieser Stadt war er geboren worden, wohnte aber schon seit langem nicht mehr dort.
Die wirtschaftlichen Umwälzungen, die der Region bevorstanden, lagen schon in der Luft. Bald würde das Stahlwerk abgewickelt werden. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass das Blueskonzert, von dem wir kamen, in eine Massenschlägerei ausgeartet war. So mancher würde auch bald in Stasiakten lesen, dass sein bester Freund ihn denunziert hatte.
Während ich dort zusammen mit ihm und seinen Freunden saß, wurde mir klar, dass ich hier nicht hingehörte. Er, der sich aus dem sensiblen, introvertierten Siebzehnjährigen, den ich kennengelernt hatte, jetzt mit Anfang Zwanzig in einen witzigen, gutaussehenden, selbstbewussten Mann verwandelt hatte, liebte mich nicht mehr, und hatte mir wohl nicht verziehen, dass ich damals den anderen vorgezogen hatte.
Es musste ihn schwer getroffen haben. „Kannst du dich noch an den Kumpel erinnern, mit dem ich letztens bei dir war?“ Meinst du den Dicken?“ „Ne, den anderen, der sich deine Bücher angekuckt hat.“ Ich konnte mich an einen verträumt wirkenden Hippietypen mit blondem Pferdeschwanz erinnern, der mir mit leuchtenden Augen von seiner kleinen Tochter erzählte. „Was ist mit ihm?“, frage ich. „Der hat sich aufgehängt. Seine Freundin ist immer fremdgegangen.“
Seine Tochter tut mir, die auch ohne Vater aufgewachsen ist, leid. Jetzt hat sie anstatt eines Vaters einen kalten Grabstein. Dort kann sie sitzen, und darüber nachdenken, wer ihr Vater war.
Im Haus von seinem Kumpel, wo alles schon mit Übernachtungsgästen belegt war, die auch von dem Konzert kamen, schoben wir ein paar Stühle zusammen. Ich setzte mich hin, und er legte sich lang und bettete den Kopf in meinen Schoß. So hatten wir merkwürdigerweise den innigsten Augenblick in unserer Beziehung, und waren uns so nah wie noch nie. Vielleicht hätte ich ihn heiraten sollen, und zu ihm und seiner Familie ziehen sollen, wie er es wollte, als wir noch zusammen waren. Aber ich hing viel zu sehr an Berlin.
Ich organisierte ihm noch eine Decke, und er schlief ein. Ich rollte mich auf einem Schreibtisch zusammen. Am Morgen stellte ich mich an die Straße. Dadurch ersparte ich uns die Peinlichkeit des Abschiednehmens.
Teenie Mucke
Als ich zwölf war, war ich mal in den Sänger einer englischen Softrockband verknallt. Natürlich habe ich ihn nie in auf einem Konzert, sondern bloß vier- oder fünfmal im Fernsehen gesehen, und irgendwie war ich sogar durch Tauschgeschäfte an ein Bild von der Band, das auf der Rückseite der Fernsehzeitschrift war, gekommen. Nun hing es genau gegenüber von meinem Bett. Ich sah ihn morgens als ersten und abends als letzten. Eine Platte von ihnen hatte ich nie besessen.
Später begeisterte ich mich für andere Musik, und vergaß ihn. Einen Song von ihnen, das Original ist von einem Bluessänger aus dem Mississippidelta, was ich erst später erfuhr, und der mir schon als Teenager am besten gefiel, finde ich immer noch gut. Ihre Musik war wohl der Einstieg für mich in die Welt der Musik.
Was wohl aus ihnen geworden ist? Er, der damals achtundzwanzig war, als ich für ihn schwärmte, ist schon vor einiger Zeit verstorben. Aber es gab viele Videos mit Interviews von ihm. Er hatte sich durch eine Krankheit halbiert, aber trat trotzdem auf. Er brauchte wohl das Geld. Er gefiel mir immer noch. Man merkte ihm an, dass er den Schalk im Nacken trug. Ich glaube auch, er war sich im Klaren darüber, dass er Unterhaltungsmusik macht, und mit den anderen englischen Überbands nicht konkurrieren kann. Da war er realistisch.
Auf einer Fotostrecke, die ein Fan der Band ins Netz gestellt hatte, sah man ihn, im Alter von Einundzwanzig mit schulterlangen Haaren, zusammen mit zwei jungen Frauen, die ihm sehr ähnlich waren. Ich tippte auf Schwestern. Es waren aber Cousinen. Auf diesem Bild fiel mir die frappierende Ähnlichkeit auf, die er mit meinem Freund aus Sachsen hatte. War da nicht etwas mit Freud und seiner Theorie des Unterbewusstseins?
Osterblues II
So strandete ich am Ostersonntag, fünf Monate nach der Wende, abends in einer der besetzten Kneipen am Neustädter Bahnhof. Ich lernte einen ehemaligen Musiklehrer kennen, einen Althippie, der nach seiner Scheidung seinen Job an den Nagel gehängt hatte. Er sah ein bisschen traurig aus. Vielleicht spielte da auch ein Alkoholproblem eine Rolle. In dieser improvisierten Kneipe befand sich auch ein Klavier. Er setzte sich ran und spielte Blues, übrigens sehr gekonnt.
Ein paar junge Männer, die ich für Studenten hielt, tanzten ausgelassen miteinander. Frauen hätten bloß gestört. Sie zelebrierten die Männerfreundschaft. Auf ihren Gesichtern stand echte Musikbegeisterung geschrieben. In Sachsen, wo ein aufmüpfiges Völkchen mit starken musikalischen Genen lebte, befand sich die Quelle der Bluesbewegung in unserm Land.
Da spürte ich mit einmal, wie sie mich ansahen und sich Blicke zuwarfen. Sie hielten mich, so zerzaust und übernächtigt, wie ich war, bestimmt für eine Schlampe, was auch immer sie sich darunter vorstellten. Trotz ihrer Intelligenz und Musikbegeisterung waren sie im Innersten biedere Burschen, mit netten Freundinnen, die sich nicht nachts allein in Kneipen rumtrieben.
In diesem Moment schwante mir, dass auch die Bluesmusik nur ein Ausdruck eines männlichen Lebensgefühls ist. Frustrierte Männer schreien ihren Kummer darüber, dass sie nicht so richtig in sie reinpassen, in die Welt hinaus. Frauen war nur die Rolle zugeteilt, ihnen dabei zu helfen, sich zu befreien, sie zu bemitleiden, ihre Wunden zu lecken, ihre Tränen zu trocknen, und sie zu unterstützen, ihren Weg zu finden.
Umgekehrt war das aber ganz und gar nicht der Fall. Im Grunde waren sie Frauenhasser. Ich fiel durch dieses Raster, denn dass ich dafür nicht der Typ war, sahen sie. Mir wurde klar, dass der Blues einseitig auf die Interessen der Männer orientiert war.
Mann und Frau
Bianca, die hübscheste der drei Töchter von Frau Fischer war mit einem Muttermal im Gesicht geboren worden. Alle Frauen im Dorf und auch ihre Mutter waren sich schon immer einig, dass sie nie einen Mann kriegen würde. Ich, die viel jünger als Bianca war, wunderte sich darüber. Scheinbar musste man perfekt sein, um einen Mann zu bekommen. Weshalb musste man unbedingt einen Mann kriegen?
Eines Tages erzählten sich die Leute im Dorf, dass Bianca ein „Glücksfall“ widerfahren war. In dem Ort, wo sie das Praktikum für ihr Studium machte, wohnte sie bei einer Familie, die sich immer stritt. Eines Tages war die Frau weg, und ließ das Kind da. Bianca half dem Mann im Haushalt, und sie wurden ein Paar.
Ich radelte weiter die Landstraße lang. Zwar hatte ich kein Muttermal und auch keine Hasenscharte, aber hier war weit und breit kein Mann zu sehen, und verheiratet war ich auch nicht.
Aber ich beruhigte mich. Hatte ich nicht auf meine Chancen? Hatte mich nicht während dem Konzert die ganze Zeit ein Punk, besser gesagt ein Ex Punk, angegraben? Er hatte wohl seine alte Lederjacke wieder aus dem Keller geholt und sich Zuckerwasser in die Haare geschüttet. Vielleicht erinnerte ich ihn an die Frauen, mit denen er früher durch die Gegend gezogen war.
Na, ja, er steckte in Scheidung und brauchte jemand zum Ausweinen. Dann hätte ich zwar wieder jemanden gehabt, der eine andere Frau liebt, aber daran war ich schon gewohnt. Vielleicht hätte ich ja sagen sollen, denn er sah sehr gut aus, war ein netter Kerl und immerhin etliche Jahre jünger als ich, was mir schmeicheln sollte.
Ich besaß eine extreme Anziehungskraft auf Männer, die von ihren Frauen verlassen worden waren, und die bei mir Trost suchten. Vielleicht hätte ich das zum Beruf machen sollen, und auf den Strich gehen sollen, mit der besonderen Ausrichtung auf verlassene Männer. Vielleicht hätten sich meine besonderen Fähigkeiten über Mundpropaganda rumgesprochen, und die Kundenakquise wäre ein Selbstläufer gewesen. Während sie an meiner Schulter weinen, denke ich an meine festverzinslichen Anlagen. Letzens hatte ich eine junge Frau im Fernsehen gesehen, die ihre Eigentumswohnung schon fast abbezahlt hat.
Männer wollen doch immer unbedingt jüngere Frauen. „Ob sie denken, dass sie dadurch selbst wieder jung werden?“, geht es mir durch den Kopf. Wenn ich mit ihm losgezogen wäre, hätte ich das Gute mit dem Angenehmen verbinden können, und gleichzeitig ein kulturelles und ein sexuelles Erlebnis haben können, und mit der Radelei hätte ich noch etwas für meine Gesundheit getan, und meine Beinmuskeln gestärkt, vom Beckenbodentraining gar nicht zu reden. Also ein Gewinn auf der ganzen Linie.
Als er erfuhr, dass ich älter bin, als er dachte, verlor er zwar vorrübergehend das Interesse an mir, trudelte aber nach einer Weile wieder ein, und bot mir lauwarmen Rotwein im Plastebecher an. Die Bands hatten ihre jeweiligen Fans mitgebracht. Wir beobachteten sie dabei, wie sie die Bühne enterten, und sich rückwärts vom Bühnenrand in die Arme ihrer Freunde fallen ließen. Ich beneidete sie. Kumpels, denen ich blind vertrauen konnte, hatte ich nie gehabt.
Ich sah mir die anderen Frauen auf dem Konzert an. Viele waren so alt wie ich. Sie waren bestimmt nicht gekommen, um mich kennenzulernen. Als ich mal eine ansprach, reagierte sie, wie ich vermutet hatte, sehr feindselig. Dabei verbanden uns Gemeinsamkeiten. Wir mussten uns damit abfinden älter geworden zu sein, und dass in einer Welt, in der es besonders für Frauen angeraten ist, immer jung zu bleiben. Es mir schon mit Mitte Zwanzig passiert, dass jemand mich als alte Frau bezeichnet hatte.
Viele waren bestimmt als junge Mädchen aus der Provinz nach Berlin gekommen, so wie ich, vielleicht nach einer Trennung, um hier ein neues Leben anzufangen, auf sich allein gestellt, hatten sich mehr recht als schlecht durchgeschlagen, waren alleinerziehende Mütter geworden.
Irgendwie spürte man ihre Enttäuschung, die auch kenne. Was wir erlebt haben, wird sich nicht so großartig unterschieden haben. Dann müsste uns noch das Interesse für Musik vereinen, in der wir ein Ventil gesucht haben, sonst wären wir ja nicht hier. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie früher mal waren. „Ob einem das als Frau weiterhilft, wenn man keine andere Frau leiden kann?“, frage ich mich.
Ich habe mich mal mit einer Freundin darüber unterhalten, was man machen soll, wenn einen ein Musiker anmacht, und einem seine Musik nicht gefällt. „Darf man ihm das sagen“? fragte sie mich. „Das darfst du ihm auf keinen Fall sagen. Dann ist es sofort aus.“
Das Problem hätte ich mit ihm, den ich mal in einem kleinen Club in Friedrichshain kennengelernt hatte, nicht gehabt. Sie spielten genial. Ich glaube, die Band war aus Holland. Der Gitarrist, der schon auf der Bühne Blickkontakt gesucht hatte, sprach mich an der Bar an. Er war viel jünger als ich, und ich fühlte mich geehrt. Ihm stand aber auch wenig Auswahl zur Verfügung, da diese Musik fast ausschließlich von Männern gehört wird. Die paar Mädels, die noch dabei waren, waren wohl zu jung für ihn, oder mit ihrem Freund zusammen hier.
Aber ich ging nicht auf seine Avancen ein, auch wenn er mir gefiel, sogar besonders gut gefiel. Wenn ich mir seine zerzausten Haare und sein durchgeschwitzten T- Shirt ansah, kam ich schon ins Grübeln. Und wie gut er roch. Da konnte man sich alles vorstellen. Aber man hörte ja immer, dass die Bands ihre Groupies an der nächsten Tankstelle aus dem Bandbus schmeißen. Dann würde ich mich vielleicht nachts in Michendorf wiederfinden. Und dann hatte ich noch die Befürchtung, dass er die Texte der harten Mucke, die er spielte, wörtlich nahm, und auf komische Praktiken stand. Na ja, ich habe es nie erfahren. In Wirklichkeit war ich wohl feige.
Außerdem machte ich mir keine Illusionen darüber, dass er mir abnehmen würde, dass ich Ahnung von seiner Musik habe. Das ist aber ein Vorurteil, das viele Männer Frauen gegenüber haben. Mit Musik kenne ich mich eigentlich aus. Das kommt daher, dass ich meist immer mit musikbegeisterten Männern befreundet war. Frauen mochten mich nie so besonders. Ich wurde auf Konzerte mitgeschleppt und lernte dadurch auch mit schwieriger Mucke umzugehen.
Bei meinen Kumpels war der Kühlschrank leer, bzw. sie hatten gar keinen, aber eine Anlage mit glasklarem Sound, die sie meist selbst zusammengebastelt hatten, war immer da. Wenn mein bester Kumpel zur Arbeit gegangen war, konnte ich in seiner Wohnung bleiben, und seine Platten hören.
Ostrock
Durch meinen neuen Bekannten, den Punk, lernte ich auf diesem Konzert in der Nähe von Berlin auch den Schlagzeuger einer bekannten Band aus dem Osten kennen. Diese Band hatte ich als Teenager oft gehört, im Jugendradio. Nach der Wende war die Gruppe in Schwierigkeiten geraten und den Radiosender gab es schon lange nicht mehr.
Wir beide unterhalten uns freundschaftlich, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich was falsches sage. „Nach der Wende habe ich mir bergeweise Platten gekauft, und gestaunt, wie sehr unsere einheimischen Bands von den englischen und amerikanischen geklaut haben.“ Sofort schlägt die Stimmung zwischen uns um. Ich habe wohl einen wunden Punkt getroffen. Er geht weg, und lässt mich einfach stehen.
Aber was ich sagte, ist wahr. Viele Sachen von englischen Bands wie: … konnte ich auswendig mitsingen, bloß mit deutschem Text. Die Songs, die mir am besten gefielen, waren alle geklaut, natürlich meist nicht eins zu eins, aber hier ein Intro und da ein Riff, das läppert sich. So wurde fleißig geplündert.
Aber ich war den Musikern dankbar dafür. So konnte ich, die an die Originalplatten nicht rankam, weil es die nicht zu kaufen gab, trotzdem diese Musik hören, wenn auch aus zweiter Hand. Ich hätte mir aber nie träumen lassen, dass so viel von den verrückten Klängen der Band eines gewissen rappelköpfigen Sängers aus Amerika, der von sich behauptete „and my name is bobby brown“, obwohl er in Wirklichkeit ganz anders hieß, in die Ost-Mucke eingeflossen war, die ich als Teenie gehört habe. Unsere Musiker müssen alle Platten von ihm auswendig gekannt haben.
Eigentlich waren die offiziellen Bands bei uns nicht sehr beliebt, und ihre Konzerte waren besonders gegen Ende der Achtziger schlecht besucht. Es gab auch Ausnahmen. Sie wurden vielleicht oft nur noch künstlich aufrechterhalten und hatten schon kein Publikum mehr.
Anders war es in Ungarn, wo ich Anfang der Achtziger war. Wenn ich an diese Reise zurückdenke, fällt mir immer das Mädchen ein, das in Budapest vor einer Jukebox stand, wieder und wieder auf das eine Lied drückte und mitsang. Ihr „Egyszer a nap úgy elfáradt Elaludt mély, zöld tó“, habe ich heute noch im Ohr. Eigentlich ist dieser Song ein gesungener Orgasmus. An die Hauswände hatten die Fans dieser Band, deren bekanntestes Lied, das war, überall große Schriftzüge gesprüht. Aber auch andere einheimische Bands fand man da verewigt. Dort wurden sie verehrt.
So was wäre bei unseren Bands undenkbar gewesen. Am Kollwitzplatz prangte dafür in Riesenbuchstaben auf einer Mauer jahrelang der Schriftzug „Grand Master Flash“. „Wer ist das eigentlich, und wer ist so ein Riesenfan von ihm?“ fragte ich mich immer, wenn ich da vorbeikam.
Meine Kumpels und ich gingen nur zu Konzerten von Independent Bands, die oft verboten wurden, und deren Musiker, die man meist persönlich kannte, von der Hand in den Mund lebten, und wenn sie überhaupt eins besaßen, nur mit einem klapprigen Auto unterwegs waren.
Die offiziellen Bands galten als staatstreu, und existierten für uns nicht. In den letzten Jahren war ich mal wieder ab und zu auf Konzerten der Bands, die mich an meine Kindheit und Jugend erinnerten, und sehe das alles viel entspannter. Viele der Musiker sind gesundheitsbedingt durch ihre Kinder ersetzt worden, oder stehen mit diesen zusammen auf der Bühne, oder kucken schon vom Himmel auf alles runter.
Wenn ich von den altvertrauten Songs, die mich, die mit ihrer Mutter allein aufgewachsen war, mit der Liebe bekanntmachten, aufgefordert werde: „Tritt ein in den Dom“, „Nach Süden“ zu fliegen oder mir jemand „Dicke Bohnen“ anpreist, bin ich wieder sechzehn oder vielleicht sogar erst zwölf Jahre alt. **
Letzens habe ich mal nachts eine Musiksendung eines sogenannten Freien Radios gehört. Der Moderator hat zu Wendezeiten gerade mal laufen gelernt, kennt also den Arbeiter- und Bauernstaat gar nicht. Jetzt hat er sich merkwürdigerweise in die frühe Musik dieses untergegangenen Landes reingekniet und spielte lauter Musikstücke, die so alt waren, dass noch nicht einmal ich sie kannte. Eine Zeitreise. Vielleicht versucht er so etwas über das Feeling in dem Land zu erfahren, das kennenzulernen ihm nicht mehr vergönnt war.
Ihm, als Nachgeborenen, war aufgefallen, dass die Ostbands in ihren Texten immer die ganz großen Themen in Angriff genommen haben. Wenn so darüber nachdenke, hat er recht. Früher fand ich das normal. Immer ging es um alles, und man war ständig auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.
Wenn ich an dem stillgelegten Rundfunkgelände in der Nalepastraße in Treptow verbeigehe, von wo aus auch das Jugendradio sendete, versuche ich mir vorzustellen, wie hier vor fünfzig Jahren morgens ein paar übernächtigte, zerzauste Männer langliefen, so sah die Band jedenfalls immer auf Fotos aus, mit Gitarrenkoffern in der Hand, auf dem Weg ins Aufnahmestudio.
Mit der Band*** meinte ich sie, die alle kannten, und deren Mitglieder sich bald wegen ihrer politischen Texte im Knast wiederfanden. O-Ton: “Weil die Texte mit unserer sozialistischen Wirklichkeit nicht das geringst zu tun haben.“, bekamen sie zu hören. Die, die nicht bereit waren, sich zu arrangieren, wurden in den Westen abgeschoben, wo sie beraubt, ihrer Fanbase, ihrer Heimat, ihrer Wurzeln, ihrer Identität verloren herumirrten und wie mattgesetzt wirkten, so kam es mir jedenfalls in einem Westberliner Dokumentarfilm aus den Siebzigern vor.
Eigentlich ist mir jetzt erst richtig klargeworden, was man den Musikern und uns, ihren Fans, angetan hat, indem man eine Band, die ein großes Potential hatte und von der noch viel gekommen wäre, mitten aus ihrem lebendigen Schaffensprozess herausriss, und ins Nichts stieß. Da sind Lebenswege abgeknickt worden.
In der Traktorenwerkstatt, in der ich als Lehrling oft war, hing an der Wand von ihnen ein Poster, obwohl sie zu der Zeit schon lange verboten waren. Damals, als das Bild entstand, waren Schlaghosen noch in Mode. Ich summte oft einen von ihren Songs. Die Worte: “Führte sie an mein Feuer, mitten in der Nacht.“, hatten mir sehr zu denken gegeben und meine Sinnlichkeit aufgeweckt, und die heisere Stimme vom Sänger hörte sich so sexy an, dass mir ganz anders wurde.
Übrigens, seit ein bekannter englischer Sänger, er war in den Siebzigern sehr berühmt, so heilig geworden ist, dass er sogar seinen Namen geändert hat, finde ich seine Stimme eigentlich noch sexiger. Das hört er bestimmt nicht gern. Er fabrizierte auch den Soundtrack zu dem Film von 1971, in dem sich ein Zwanzigjähriger in eine sechzig Jahre ältere Frau verliebt, und ist außerdem noch der Doppelgänger von einer großen Liebe von mir, so dass ich jedes Mal, wenn ich Videos von ihm sah, eine Krise bekam.
Und außerdem sah der Sänger des Songs, der auch vom Osten in den Westen abgeschoben wurde, dem Typ im Rollstuhl in „Coming Home“ ähnlich, dem der gerade aus dem Vietnamkrieg gekommen ist. Die Liebesszene mit Jane Fonda kennen, glaube ich, alle. Der Schauspieler ist der Vater von Angelina Jolie, soll sich aber kaum um sie gekümmert haben.
Jahre später habe ich rausgekriegt, dass die Lyrics von den „Romancero Gitano“ von Frederico Garcia Lorca inspiriert wurden. Und die Härte ist, dass der Textdichter, er war aber kein Mitglied der Band, und verfasste gefühlt die Hälfte aller Texte von DDR-Gruppen, besonders war er für seine innigen Liebeslieder berühmt, über die Jahre hinweg hunderte von Kindern missbraucht hatte.
Ich trat weiter in die Pedale. Nach einer schier endlosen Zeit konnte ich den Ausgang des Waldes und damit Berlin sehen, aber erst nachdem ich ein paarmal rechts in die Büsche gefahren war. Irgendwie war mir danach, auf die Knie zu fallen, und das Straßenpflaster zu küssen. Aber wie schon gesagt, so weit ging ich nun doch nicht.
So schön waren mir eine Straßenlaterne und eine Bushaltestelle, vor der an einer praktischen Mehrzwecksäule, die gleichzeitig als Haltestellenschild diente, der Fahrplan hinter Glas hing, noch nie erschienen.
* Leaf Hound
** nacheinander Electra, Lift, Reform
***Renft
****"Vor den Vätern sterben die Söhne"