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Kopf gefickt
Emran fährt mit der Hand über die glatte Steinplatte, auf der er sitzt. Wundschorf bedeckt seine Knöchel. Sein Finger wandert über Hunderte verblichener Tags. Die wenigsten kann er lesen. Er blickt sich um. Betrachtet die Wohnblocks. Sieht viel grauen Beton, ein paar verdorrte Sträucher, einen einzelnen, gebeugten Baum in der Mitte des Innenhofs. Wenige Autos stehen am Straßenrand. Menschen sieht er keine. Es ist heiß, nicht eine Wolke am Himmel. Emran hat Kopfschmerzen. Er nimmt den letzten Zug seiner Zigarette. Zieht so lange, bis es an den Fingern brennt. Mit der rechten Hand schnippt er die Kippe weg. Ihm wird schwindelig. Irgendwo in einer der Wohnungen hört er eine Frau schreien. Von wo genau die Stimme kommt, ist schwer auszumachen. Eine zweite Stimme mischt sich ein. Beide klingen schrill, wütend. Emran steht auf. Er wankt. Braucht einen Moment, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Langsam macht er ein paar Schritte. Neben einem Auto bleibt er stehen. Sein Gesicht spiegelt sich in der Fensterscheibe. Lange steht er so da. Dann tritt er mit Wucht gegen die Tür. Es knallt. Das Geräusch hallt laut im Hof zwischen den Gebäuden. Emran tritt noch mal zu. Schweiß läuft ihm über Rücken und Stirn. Schwer atmend betrachtet er das eingedellte Blech.
Die Leute fragen, wo er herkommt. Normalerweise sagt er: „Aus Kabul.“ Manchmal auch: „Aus dem Iran.“ Eigentlich weiß er nicht genau, was er sagen soll. An Kabul kann er sich nicht erinnern. Er kennt dort niemanden, war erst zwei, als sie weggingen. Aus dem Iran musste er abhauen, als die Übergriffe heftiger wurden. Da war er dreizehn. Er kann ein wenig Fārsī. Paschto kann er besser. Wobei er auch schon einiges davon vergessen hat.
„Hurensohn, ich ficke deine Mutter! Renn um dein Leben, du Missgeburt!“
Und Emran rennt. Biegt um eine Ecke. Rennt weiter. Seine Lunge brennt. Er muss an seine Mutter denken. Die ist noch immer im Iran.
Später kommt er wieder zurück. Nicht alleine. Sie sind zu fünft. Die anderen wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. Zwei sitzen auf einer Parkbank, ein Dritter kniet davor. Aus ihren Handys ertönt Musik. Auf dem Boden neben der Bank stehen Flaschen. Der erste sieht den Tritt nicht kommen. Es klingt dumpf, wenn ein Fuß einen Kopf trifft. Und es sieht im ersten Moment auch nicht so spektakulär aus, wie man vielleicht meint. Der Typ kippt zur Seite und kriegt noch einen Tritt ab. Und noch einen. Die anderen beiden springen auf, bekommen aber schon Schläge ins Gesicht und gegen den Körper. Irgendwie schaffen sie es, wegzurennen. Der am Boden liegt, versucht mit seinen Armen irgendwie den Kopf zu schützen.
„Wichser!“
„Hurensohn!“
Noch mehr Tritte.
Das Ganze dauert vielleicht fünfzehn Sekunden. Dann hauen sie ab.
Zunächst kam er in eine große Sammelunterkunft. Da blieb er aber nur für ein paar Tage. Dann wurde er umverteilt. Zusammen mit vier anderen Jugendlichen fuhren sie ihn durch das ganze Land. Emran bekam davon fast nichts mit. Die meiste Zeit schlief er und kämpfte mit seinen unruhigen Träumen. Nur einmal stiegen sie aus, um auf einer kleinen Raststätte aufs Klo zu gehen. Neben dem Toilettenraum stand ein großer Mann, der ihn laut anfuhr, weil Emran keine Münzen auf den Teller legte.
Als sie ankamen, zeigte ihnen ein Mann mit langem Bart und einer schwarzen Adidas-Jacke ihre Unterkunft. Emran sah sich um. Ein viereckiger, grauer Kasten direkt an einer holprigen Straße. Daneben ein paar wenige graue Häuser. Dann noch eine Straße, ein paar vereinzelte Bäume und viele gelbe Felder.
Drinnen selbst war alles merkwürdig bunt. Rote Plastikstühle, grüne Regale, hellblaue Wände. Selbst das Geschirr. Sie setzten sich an einen Tisch. Der Mann mit dem Bart brachte ein paar Becher und eine Kanne und fragte, ob sie Durst hätten. Emran blickte ihn aus müden Augen an. „Wodka?“, flüsterte er.
Später erklärte ihnen eine Frau die Regeln. Sie redete viel. Über Tagesstruktur, über Essenszeiten, über die Schule. Emran verstand fast nichts. Er war müde, hatte Kopfschmerzen und keine Lust, sich zu unterhalten. „Stadt?“, unterbrach er sie.
Die Frau zeigte aus dem Fenster. „Bus“, sagte sie. „Dreiviertel Stunde.“ Dann zuckte sie mit den Schultern und grinste entschuldigend.
Emran sah hinaus. Zwei Tage später war er weg.
Manchmal zeigen sie sich gegenseitig ihre Tätowierungen. Schriftzüge, Symbole. Auf Emrans Arm ist so etwas wie ein Kamel. Wenn er den Arm beugt, erkennt man ihn besser. Mit Zigaretten haben sie das gemacht. Damals in Griechenland. Zusammen saßen sie am Hafen und inhalierten aus einer Plastiktüte. Ein widerlicher Geschmack war das gewesen. Süßlich, chemisch. Aber es half gegen die Schmerzen. Und für ein paar Minuten hatte man ein Gefühl wie kurz vorm Schweben.
Wenn die Leute auf seinen Arm schauen, im Zug oder im Bus, dann schiebt Emran den Ärmel ein Stück hoch. Das Kamel zeigt er gerne. Die Narben auf Rücken und Oberschenkeln, versteckt er.
An den Weg ins Krankenhaus oder die Fahrt im Krankenwagen kann Emran sich bis heute nicht erinnern. Er wusste zunächst gar nicht, was passiert war. Er wusste nur, dass er Schmerzen hatte. Vorsichtig zog er die Bettdecke zur Seite. Drehte sich mit verzerrtem Gesicht ein wenig herum. Weiße Verbände bedeckten seinen Oberkörper und den Bauch. Später erklärte man ihm, dass es knapp gewesen war. Dass er viel Glück gehabt habe. Man fragte ihn, ob er sich an etwas erinnern konnte? Ob er wusste, wer das mit dem Messer gewesen war? Emran überlegte. Er konnte sich nicht erinnern. Er wusste, dass sie im Park gewesen, Musik gehört und viel Alkohol getrunken hatten. Und er erinnerte sich, dass es Streit gegeben hatte. Mit Leuten, die er nicht kannte. Worum es ging, wusste er nicht mehr. Und von einem Messer hörte er das erste Mal.
Sein Zimmergenosse war ein älterer Mann, der ihm tagsüber verstohlene Blicke zuwarf. In den zwei Wochen, die Emran im Krankenhaus blieb, wechselten sie vielleicht zehn Worte miteinander. Sein Handy hatte er an jenem Abend verloren, dem Fernsehprogramm konnte er nicht folgen. Also saß er die meiste Zeit auf dem Balkon, trank Tee und sah den Menschen zu, die auf Fahrrädern oder zu Fuß über das Gelände wuselten. Nachts konnte er nicht schlafen. Lange Stunden lag er da. Beobachtete das blaue Licht, das durch das Fenster hereinschien und Schatten an die Wand warf. Sein Kopf tat ihm weh und er dachte an den Iran. Dachte an seine Mutter. Dachte an Griechenland.
„Hey!“, sagt jemand. Emran zuckt zusammen. Er dreht den Kopf. Hinter ihm steht ein Mann. Er ist schmächtig, etwas kleiner als Emran. Im Gesicht hat er Lachfalten. Um die Nase ein paar rote Äderchen. Er sieht freundlich aus. Obwohl er ein sehr ernstes Gesicht macht. Mit der Hand zeigt er auf das Auto.
„Warum machst du das?“, fragt er. Er sieht Emran an. Er sieht den müden Blick. Sieht die blutunterlaufenen Augen, die ungesunde Haut, das bleiche, verschwitzte Gesicht. Emran macht einen Schritt auf den Mann zu.
„Kopf“, sagt er dann und hebt die Hand. Mit dem Finger deutet er auf seine Schläfe.
„Gefickt, verstehst du? Gefickt.“
Einen Augenblick sehen die beiden sich an. Dann dreht Emran sich um und geht.