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Kopf gefickt

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05.07.2020
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Kopf gefickt

Emran fährt mit der Hand über die glatte Steinplatte, auf der er sitzt. Wundschorf bedeckt seine Knöchel. Sein Finger wandert über Hunderte verblichener Tags. Die wenigsten kann er lesen. Er blickt sich um. Betrachtet die Wohnblocks. Sieht viel grauen Beton, ein paar verdorrte Sträucher, einen einzelnen, gebeugten Baum in der Mitte des Innenhofs. Wenige Autos stehen am Straßenrand. Menschen sieht er keine. Es ist heiß, nicht eine Wolke am Himmel. Emran hat Kopfschmerzen. Er nimmt den letzten Zug seiner Zigarette. Zieht so lange, bis es an den Fingern brennt. Mit der rechten Hand schnippt er die Kippe weg. Ihm wird schwindelig. Irgendwo in einer der Wohnungen hört er eine Frau schreien. Von wo genau die Stimme kommt, ist schwer auszumachen. Eine zweite Stimme mischt sich ein. Beide klingen schrill, wütend. Emran steht auf. Er wankt. Braucht einen Moment, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Langsam macht er ein paar Schritte. Neben einem Auto bleibt er stehen. Sein Gesicht spiegelt sich in der Fensterscheibe. Lange steht er so da. Dann tritt er mit Wucht gegen die Tür. Es knallt. Das Geräusch hallt laut im Hof zwischen den Gebäuden. Emran tritt noch mal zu. Schweiß läuft ihm über Rücken und Stirn. Schwer atmend betrachtet er das eingedellte Blech.

Die Leute fragen, wo er herkommt. Normalerweise sagt er: „Aus Kabul.“ Manchmal auch: „Aus dem Iran.“ Eigentlich weiß er nicht genau, was er sagen soll. An Kabul kann er sich nicht erinnern. Er kennt dort niemanden, war erst zwei, als sie weggingen. Aus dem Iran musste er abhauen, als die Übergriffe heftiger wurden. Da war er dreizehn. Er kann ein wenig Fārsī. Paschto kann er besser. Wobei er auch schon einiges davon vergessen hat.

„Hurensohn, ich ficke deine Mutter! Renn um dein Leben, du Missgeburt!“
Und Emran rennt. Biegt um eine Ecke. Rennt weiter. Seine Lunge brennt. Er muss an seine Mutter denken. Die ist noch immer im Iran.
Später kommt er wieder zurück. Nicht alleine. Sie sind zu fünft. Die anderen wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. Zwei sitzen auf einer Parkbank, ein Dritter kniet davor. Aus ihren Handys ertönt Musik. Auf dem Boden neben der Bank stehen Flaschen. Der erste sieht den Tritt nicht kommen. Es klingt dumpf, wenn ein Fuß einen Kopf trifft. Und es sieht im ersten Moment auch nicht so spektakulär aus, wie man vielleicht meint. Der Typ kippt zur Seite und kriegt noch einen Tritt ab. Und noch einen. Die anderen beiden springen auf, bekommen aber schon Schläge ins Gesicht und gegen den Körper. Irgendwie schaffen sie es, wegzurennen. Der am Boden liegt, versucht mit seinen Armen irgendwie den Kopf zu schützen.
„Wichser!“
„Hurensohn!“
Noch mehr Tritte.
Das Ganze dauert vielleicht fünfzehn Sekunden. Dann hauen sie ab.

Zunächst kam er in eine große Sammelunterkunft. Da blieb er aber nur für ein paar Tage. Dann wurde er umverteilt. Zusammen mit vier anderen Jugendlichen fuhren sie ihn durch das ganze Land. Emran bekam davon fast nichts mit. Die meiste Zeit schlief er und kämpfte mit seinen unruhigen Träumen. Nur einmal stiegen sie aus, um auf einer kleinen Raststätte aufs Klo zu gehen. Neben dem Toilettenraum stand ein großer Mann, der ihn laut anfuhr, weil Emran keine Münzen auf den Teller legte.
Als sie ankamen, zeigte ihnen ein Mann mit langem Bart und einer schwarzen Adidas-Jacke ihre Unterkunft. Emran sah sich um. Ein viereckiger, grauer Kasten direkt an einer holprigen Straße. Daneben ein paar wenige graue Häuser. Dann noch eine Straße, ein paar vereinzelte Bäume und viele gelbe Felder.
Drinnen selbst war alles merkwürdig bunt. Rote Plastikstühle, grüne Regale, hellblaue Wände. Selbst das Geschirr. Sie setzten sich an einen Tisch. Der Mann mit dem Bart brachte ein paar Becher und eine Kanne und fragte, ob sie Durst hätten. Emran blickte ihn aus müden Augen an. „Wodka?“, flüsterte er.
Später erklärte ihnen eine Frau die Regeln. Sie redete viel. Über Tagesstruktur, über Essenszeiten, über die Schule. Emran verstand fast nichts. Er war müde, hatte Kopfschmerzen und keine Lust, sich zu unterhalten. „Stadt?“, unterbrach er sie.
Die Frau zeigte aus dem Fenster. „Bus“, sagte sie. „Dreiviertel Stunde.“ Dann zuckte sie mit den Schultern und grinste entschuldigend.
Emran sah hinaus. Zwei Tage später war er weg.

Manchmal zeigen sie sich gegenseitig ihre Tätowierungen. Schriftzüge, Symbole. Auf Emrans Arm ist so etwas wie ein Kamel. Wenn er den Arm beugt, erkennt man ihn besser. Mit Zigaretten haben sie das gemacht. Damals in Griechenland. Zusammen saßen sie am Hafen und inhalierten aus einer Plastiktüte. Ein widerlicher Geschmack war das gewesen. Süßlich, chemisch. Aber es half gegen die Schmerzen. Und für ein paar Minuten hatte man ein Gefühl wie kurz vorm Schweben.
Wenn die Leute auf seinen Arm schauen, im Zug oder im Bus, dann schiebt Emran den Ärmel ein Stück hoch. Das Kamel zeigt er gerne. Die Narben auf Rücken und Oberschenkeln, versteckt er.

An den Weg ins Krankenhaus oder die Fahrt im Krankenwagen kann Emran sich bis heute nicht erinnern. Er wusste zunächst gar nicht, was passiert war. Er wusste nur, dass er Schmerzen hatte. Vorsichtig zog er die Bettdecke zur Seite. Drehte sich mit verzerrtem Gesicht ein wenig herum. Weiße Verbände bedeckten seinen Oberkörper und den Bauch. Später erklärte man ihm, dass es knapp gewesen war. Dass er viel Glück gehabt habe. Man fragte ihn, ob er sich an etwas erinnern konnte? Ob er wusste, wer das mit dem Messer gewesen war? Emran überlegte. Er konnte sich nicht erinnern. Er wusste, dass sie im Park gewesen, Musik gehört und viel Alkohol getrunken hatten. Und er erinnerte sich, dass es Streit gegeben hatte. Mit Leuten, die er nicht kannte. Worum es ging, wusste er nicht mehr. Und von einem Messer hörte er das erste Mal.
Sein Zimmergenosse war ein älterer Mann, der ihm tagsüber verstohlene Blicke zuwarf. In den zwei Wochen, die Emran im Krankenhaus blieb, wechselten sie vielleicht zehn Worte miteinander. Sein Handy hatte er an jenem Abend verloren, dem Fernsehprogramm konnte er nicht folgen. Also saß er die meiste Zeit auf dem Balkon, trank Tee und sah den Menschen zu, die auf Fahrrädern oder zu Fuß über das Gelände wuselten. Nachts konnte er nicht schlafen. Lange Stunden lag er da. Beobachtete das blaue Licht, das durch das Fenster hereinschien und Schatten an die Wand warf. Sein Kopf tat ihm weh und er dachte an den Iran. Dachte an seine Mutter. Dachte an Griechenland.

„Hey!“, sagt jemand. Emran zuckt zusammen. Er dreht den Kopf. Hinter ihm steht ein Mann. Er ist schmächtig, etwas kleiner als Emran. Im Gesicht hat er Lachfalten. Um die Nase ein paar rote Äderchen. Er sieht freundlich aus. Obwohl er ein sehr ernstes Gesicht macht. Mit der Hand zeigt er auf das Auto.
„Warum machst du das?“, fragt er. Er sieht Emran an. Er sieht den müden Blick. Sieht die blutunterlaufenen Augen, die ungesunde Haut, das bleiche, verschwitzte Gesicht. Emran macht einen Schritt auf den Mann zu.
„Kopf“, sagt er dann und hebt die Hand. Mit dem Finger deutet er auf seine Schläfe.
„Gefickt, verstehst du? Gefickt.“
Einen Augenblick sehen die beiden sich an. Dann dreht Emran sich um und geht.

 

Servus @Habentus,

erst mal habe ich zwei Kaffee getrunken und über deinen Text nachgedacht. Was möchte ich dazu schreiben? Noch bin ich unentschlossen, deshalb erst mal ein paar Stellen, die aus meiner Sicht gestrafft oder bisschen verändert werden könnten.

Manche sind bereits verblichen, andere sind hingegen neu
... weil 2 x sind

Er blickt sich um. Betrachtet die Wohnblocks. Er sieht viel grauen Beton. Er sieht ein paar verdorrte Sträucher
Kann ja auch ein Stilmittel sein. Mit ner kleinen Pause bei einer Vorlesung hebt das die Eindrücke hervor. Aber Leser:innen sind ja oft schnell und rattern die "Er" ruckzuck runter. Kann man mit Kommas gut einen Satz draus machen.

einen einzelnen, gebeugten Baum in der Mitte des Innenhofs. Vereinzelte parken Autos
Hier und da parken Autos ... oder alleinstehenden Baum

Kein Wind, der geht
Wohin geht er denn, der Wind? :D Absolute Windstille, völlige Windstille, es geht kein Wind ...

er ist nervös. Er nimmt den letzten Zug
er ist nervös, nimmt einen letzten Zug ... oder so

Von wo genau die Stimme kommt, kann er nicht ausmachen
vielleicht ... ist schwer auszumachen ...

Eine zweite Stimme mischt sich ein. Sie klingen schrill, wütend
Weil du erst die Frau nennst und dann die zweite Stimme, fände ich "Eine zweite Stimme mischt sich ein. Beide klingen ..." flüssiger.

Er kann ein wenig Fārsī. Paschto kann er besser
Paschtu kann ihm ja nur seine Mutter beigebracht haben, da er mit 2 schon in den Iran flüchtete mit ihr. Würde ich glatt hier mit reinbringen, da er ja nicht weiß, was er als Heimat angeben soll, Sprache aber auch Heimat sein kann. "Paschtu beherrscht Emran besser, darauf hat seine Mutter geachtet ... oder so.

Der, der am Boden liegt, versucht mit seinen Armen den Kopf zu schützen.
zweite der kannste weglassen

fuhren Sie sie ihn durch das

dann schiebt Emran den seinen Ärmel ein Stück wenig hoch nach oben. Das Seinen Kamel zeigt er gerne. Die anderen Narben auf die an seinem Rücken und auf den Oberschenkeln, versteckt er.

Er wusste, dass sie im Park gewesen und Musik gehört hatten. Er wusste, dass sie viel Alkohol getrunken hatten. Er erinnerte sich, dass es Streit gegeben hatte.
Ist auch gut kombinierbar.

Gut, lass dich nicht von meinen Anmerkungen ablenken. Hat mir wirklich gut gefallen, der Text. Was mich aber - am Küchentisch überlegend - zu der Frage führte, WARUM mir das gut gefallen hat. Meine Antwort war, dass ich Menschen wie Emran ein paar Mal die Woche in meiner Küche sitzen habe, Probleme wälzen, Formulare ausfüllen, irgendwie versuchen, die Dinge auf die Reihe zu bekommen. Das bedingt die Frage von außerhalb, ob das immer so ist und bei allen? Nein. Jedes Schicksal ist immer individuell. Das von dir geschilderte ist aber für viele der Afghanen hier Standard. Vertreibung/Flucht aus Afghanistan, im Iran landen, möglichst unauffällig (sic!) leben, weil ebenfalls nicht geduldet (gut wenn man Dari spricht, also die persische Sprache in Afghanistan), um dann irgendwie über Anatolien nach Europa zu kommen (meist gedrängt von den Eltern).

Das Wort ist: Entwurzelung. Nicht nur aus Afghanistan entwurzelt (Emran hört als Heranwachsender Dialoge, Geschichten aus der nicht erlebten Heimat, ist ebenfalls NICHT im Iran daheim und muss nun wieder woanders hin, in einen absolut konträren Kulturkreis).

Habe ich als Leser:in jetzt gar nichts mit geflüchteten Menschen zu tun, fehlt ab und zu ein wenig die Vorstellungskraft der Tragödie dahinter (was a) nicht verwundert und b) kein Vorwurf sein soll). Bis ich mich in all diese komplexen Fäden reingearbeitet hatte, um Situationen, Gemütslagen, Menschen und Konflikte einschätzen und bewerten zu können, hat es gedauert.

Aber egal, ich hoffe jetzt erst mal, dass es interessante Kommentare dazu gibt, denn es ist ein Text, der eine lange Diskussion initiieren kann. Auch das kann Literatur.

Danke für die Geschichte.

Morphin

 

Hallo @Morphin und vielen Dank für deinen Kommentar, der mir weiterhilft! Freut mich sehr, dass der Text dir gefallen hat. Und noch mehr freut es mich, dass er dich zum Nachdenken angeregt hat!

deshalb erst mal ein paar Stellen, die aus meiner Sicht gestrafft oder bisschen verändert werden könnten.
Werde ich alle so übernehmen. Danke für die Anmerkungen. Sind ja noch ein paar unstimmige Formulierungen drin gewesen, die mir beim Lesen aus dem Blick geraten sind.
Paschtu kann ihm ja nur seine Mutter beigebracht haben,
Stimmt. Ich wollte aber nicht zu sehr ins Detail gehen, wollte den Hintergrund nur Anreißen und es bei wenigen Worten belassen. Aber es stimmt, vielleicht hilft es, das hier noch zu erwähnen.
Hat mir wirklich gut gefallen, der Text.
Das freut mich wirklich! Vor allem auch deshalb, weil ich mir sehr unsicher war (und auch noch bin), ob der Text als Geschichte (bzw. als Flashfiction) überhaupt funktionieren kann, ohne an Aussagekraft zu verlieren. Das scheint ja zumindest bei dir einigermaßen geklappt zu haben.
Jedes Schicksal ist immer individuell. Das von dir geschilderte ist aber für viele der Afghanen hier Standard.
Sicher. Es wäre auch unmöglich zu versuchen, einen allgemeingültigen Text über eine bestimmte Gruppe (in diesem Fall junge, unbegleitete Afghanen) zu schreiben. Aber manche Dinge, bestimmte Erlebnisse, Traumata, Erfahrungen ähneln sich. Das hier war der Versuch, das in einen Text zu verpacken.
Habe ich als Leser:in jetzt gar nichts mit geflüchteten Menschen zu tun, fehlt ab und zu ein wenig die Vorstellungskraft der Tragödie dahinter (was a) nicht verwundert und b) kein Vorwurf sein soll). Bis ich mich in all diese komplexen Fäden reingearbeitet hatte, um Situationen, Gemütslagen, Menschen und Konflikte einschätzen und bewerten zu können, hat es gedauert.
Hmm. Das stimmt. Ich kann mir vorstellen, dass der Text auch bei einigen inhaltlich überhaupt nicht funktioniert. Ich bin mir ja selbst noch unsicher, wie ich ihn finde. Umso mehr freut es mich dann, wenn du manches aus dem Text (aus deiner Arbeit?) wiederzuerkennen scheinst. Es also teilweise gelungen ist, eine bestimmte Erfahrungs- und Stimmungswelt einzufangen.
Ich werde vermutlich noch einige Dinge an dem Text überarbeiten. Aber deine Rückmeldung hilft mir nun, ihn für mich selbst besser einschätzen zu können.
Danke dafür und dir noch einen schönen Abend!

 
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Moin @Habentus,

danke für Deinen Text.

Ich hab ihn bislang zweimal gelesen, bin ich doch nach dem ersten Durchgang ein wenig „drumherum geschlichen“, wusste nicht so richtig, wie ich ihn greifen sollte.

Er gefällt mir. Obwohl die Art von Thema mit seiner Schwere und irgendwie auch Traurigkeit sonst eher nicht zu meinen Lesegewohnheiten zählt.
Ich selbst habe noch keine Erfahrung mit geflüchteten Mitmenschen sammeln dürfen, trotzdem erscheint mir Dein Text auf seine eigene Art realitätsnah.

Was mir so beim Lesen durch den Kopf ging:

Die gegenseitige Struktur der einzelnen Absätze wirkt auf mich noch nicht zu 100 % rund, Du springst an wenigen Stellen hin und her, wirfst Deine Leserschaft unvermittelt in neue Situationen. Manchmal funktioniert das:

„Hurensohn, ich ficke deine Mutter! Renn um dein Leben, du Missgeburt!“
Und Emran rennt. Biegt um eine Ecke. Rennt weiter. Seine Lunge brennt. Er muss an seine Mutter denken. Die ist noch immer im Iran.

manchmal aber mMn auch nicht:

Manchmal zeigen sie sich gegenseitig ihre Tätowierungen.
Wen meinst Du mit sie? Den anderen Jungen in der Unterkunft? Später erwähnst Du "Leute im Zug", doch der plötzliche Einstieg in diesen Absatz hat mich straucheln lassen.

Insgesamt hätte ich mir mehr "roten Faden" gewünscht. Also gerne einzelne Absätze, die im gegenseitigen Wechsel Emrans Vergangenheit und seine Gegenwart miteinander verbinden. Dabei merkte ich, dass mir die Geschichte als zu kurz erschien. Gerne hätte ich noch mehr über diesen Charakter erfahren. Das ist doch ein gutes Zeichen.

Später kommt er wieder zurück. Nicht alleine. Sie sind zu fünft. Die anderen wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. Zwei sitzen auf einer Parkbank, ein Dritter kniet davor. Aus ihren Handys ertönt Musik. Auf dem Boden neben der Bank stehen Flaschen. Der erste sieht den Tritt gar nicht kommen. Es klingt dumpf, wenn ein Fuß einen Kopf trifft. Und es sieht im ersten Moment auch nicht so spektakulär aus, wie man vielleicht meint. Der Typ kippt zur Seite und kriegt noch einen Tritt ab. Und noch einen. Die anderen beiden springen auf, bekommen aber schon Schläge ins Gesicht und gegen den Körper. Irgendwie schaffen sie es, wegzurennen. Der am Boden liegt, versucht mit seinen Armen den Kopf zu schützen.
„Wichser!“
„Hurensohn!“
Noch mehr Tritte.
Das Ganze dauert vielleicht fünfzehn Sekunden. Dann hauen sie ab.
Eine intensive Szene, bei der ich mich allerdings fragte: Was macht Emran hierbei? Ist er es, der zutritt? Oder beobachtet er, wie die anderen vier (und wer sind die eigentlich? Andere Flüchtlinge?) den Jungen malträtieren? Wir folgten bislang ja ihm, doch hier driftet die Erzählstimme ein Stück höher, entfernt sich von ihm. Ich könnte mir vorstellen, dass wenn Du hier dicht am Prota bleibst, das Ganze noch an Intensität gewinnt. Hat er Erfahrungen mit körperlicher Gewalt? Ich befürchte es, er hat wahrscheinlich schon ganz andere Dinge gesehen / erfahren als eine Schlägerei im Park. Wie reagiert er darauf? Ist er der Rädelsführer der fünf oder triggert eine solche Szenerie vergangene Erlebnisse, sodass er eher auf Abstand geht/vielleicht sogar erstarrt?

Auf Emrans Arm ist so etwas wie ein Kamel. Wenn er den Arm beugt, erkennt man ihn besser. Mit Zigaretten haben sie das gemacht.
Der Satz hat mich kalt erwischt. Du hast mehrere solch kleiner Nuancen, die den Text in seiner realistischen Härte mMn aufwerten. z.B auch:
Er nimmt den letzten Zug seiner Zigarette. Zieht so lange, bis es an den Fingern brennt.
Gut gemacht, finde ich.

„Warum machst du das?“, fragt er. Er sieht Emran an. Er sieht den müden Blick. Sieht die blutunterlaufenen Augen, die ungesunde Haut, das bleiche, verschwitzte Gesicht. Emran macht einen Schritt auf den Mann zu. Einen kurzen Augenblick zögert er.
„Kopf“, sagt er dann. Hebt die Hand und deutet mit dem Finger auf seine Schläfe.
„Gefickt, verstehst du? Gefickt.“
Sie sehen sich an. Dann dreht Emran sich um und geht.
Tja, und damit ist der Text auch schon am Ende. Und lässt mich irgendwie traurig - weil ich weiß, dass es ein Stück aus dem echten Leben sein kann - und doch leicht hungrig nach mehr - weil ich es für gut geschrieben halte - zurück.

Gerne gelesen,
beste Grüße
Seth

 
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Hi @Seth Gecko

danke auch dir für deinen Kommentar!

Ich selbst habe noch keine Erfahrung mit geflüchteten Mitmenschen sammeln dürfen, trotzdem erscheint mir Dein Text auf seine eigene Art realitätsnah.
Das freut mich, denn darum ging es mir. Zumindest ein stückweit die Lebensrealität junger, entwurzelter Geflüchteter darzustellen, ohne dabei in die schlimmsten Klischees zu fallen oder allzu rührselig zu werden. Wenn das bei dir funktioniert und dich irgendwie erreicht hat, freut es mich wirklich!
Die gegenseitige Struktur der einzelnen Absätze wirkt auf mich noch nicht zu 100 % rund, Du springst an wenigen Stellen hin und her, wirfst Deine Leserschaft unvermittelt in neue Situationen.
Da hast du einen Punkt. Denn auch ich habe mit dem Aufbau noch gehadert. Grundsätzlich wollte ich diese Sprünge einbauen, weil ich nicht wollte, dass das alles so nach und nach aufeinander aufbaut, sondern eben Brüche aufweist. Brüche, die eben auch bei Emran vorhanden sind. Und die es dem Leser zumindest ein bisschen schwierig machen, sich wohlzufühlen. Ich wollte eben keinen roten Faden. Ob das jetzt funktioniert oder mir noch die Raffinesse fehlt, das gekonnter umzusetzen, weiß ich selbst nicht. Ich werde mir in einigen Tagen dazu noch mal Gedanken machen und ggf. ein wenig umbauen. Danke dir auf jeden Fall für deinen Eindruck!

Eine intensive Szene, bei der ich mich allerdings fragte: Was macht Emran hierbei? Ist er es, der zutritt?
Das wollte ich schon so andeuten, ja.
Hat er Erfahrungen mit körperlicher Gewalt? Ich befürchte es, er hat wahrscheinlich schon ganz andere Dinge gesehen / erfahren als eine Schlägerei im Park. Wie reagiert er darauf?
Ich wollte Emran nicht nur also Opfer, sondern eben auch als Täter darstellen. Es gibt nie nur das eine oder das andere. Es gibt immer Umstände und Erfahrungen, die uns prägen und unser Handeln bestimmen. Klar übt er also Gewalt aus. Weil Gewalt zu seinem Handlungskatalog gehört, den er als junger Mensch (Im Iran, auf der Flucht, in Dt.) durch Erfahrungen ausgebildet hat.
Ich wollte mich aber jetzt nicht an dieser einen Szene aufhängen und detailreich beschreiben, was das mit ihm macht, wie er sich konkret verhält usw. Ich wollte eher andeuten, dass das eben auch zu seinem Alltag gehört. Ihn als Person insgesamt prägt. Ich werde mir aber Gedanken machen und vielleicht deinen Gedanken berücksichtigen und ein wenig näher an seiner Person bleiben bei dieser Szene.

Danke dir für deinen guten Kommentar!
Viele Grüße
Habentus

 
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Hallo @Habentus

Ich bin zwiegespalten, was deine Geschichte betrifft. Einerseits gefällt sie mir, weil mich das Thema interessiert, und ich dir abkaufe, dass du dich damit auskennst; andererseits finde ich du verschenkst hier viel Potential.
Der Emran wirkt ein bisschen blass und austauschbar; ich finde, mehr Details wie das Kamel-Tattoo, auf das er stolz ist, würden nicht schaden, um die Konturen dieses Charakters schärfer zu umreißen. Du zeigst hier auch vorallem die Auswirkungen seiner gescheiterten Integration, die Gewaltexzesse, aber fast gar nicht, wie es dazu gekommen ist, warum er so geworden ist; ich finde, der Text würde gewinnen, wenn du seine Motive besser unterfütterst, also das Aufeinanderprallen der Kulturen zeigst, die alltäglichen Missverständnisse, Enttäuschungen, Sprachbarrieren etc. Für mich sind das auch die stärksten Passagen im Text, wo ihn an der Raststätte der Toilettenmann anmacht, oder er im Flüchtlingsheim ankommt, und das Mobiliar merkwürdig bunt findet. Das gibt ihm Charakter, und lässt mich als Leser spüren, wie fremd er sich hier fühlen muss.

Emran tritt noch mal zu. Auf der Seite prangen jetzt zwei ordentliche Dellen.
Ordentlich würd ich streichen, klingt unfreiwillig komisch.
Und Emran rennt. Biegt um eine Ecke. Rennt weiter. Seine Lunge brennt. Er muss an seine Mutter denken. Die ist noch immer im Iran.
Denkt er wirklich an seine Mutter, während er sprintet, bis seine Lungen brennen? Ich würd ihn da eine Verschnaufpause einlegen lassen, und erst dann seine Gedanken in Schwung bringen.
Sein Zimmergenosse war ein älterer Mann, der ihm tagsüber verstohlene Blicke zuwarf. In den zwei Wochen, die Emran im Krankenhaus blieb, wechselten sie vielleicht zehn Worte miteinander.
Das ist so eine Stelle, wo ich finde, du verschenkst Potential. Da würde ich gerne erfahren, was sie reden, und wie sie miteinander reden; hier könnte man gut das Aufeinandertreffen des Bio-Deutschen mit dem Geflüchteten zeigen. Das kommt mir in deiner Geschichte einfach zu kurz.
Er sieht freundlich aus. Obwohl er ein sehr ernstes Gesicht macht. Mit der Hand zeigt er auf das Auto.
„Warum machst du das?“, fragt er.
Wirkt auf mich unrealistisch; es mag zwar vielleicht solche Menschen geben, die freundlich auf einen Randalierer zugehen, und nachfragen, warum er gegen das Auto tritt; aber die meisten Menschen würden doch eher gleich die Polizei rufen, einen Streit anfangen, oder wegschauen und abhauen.
„Kopf“, sagt er dann und hebt die Hand. Mit dem Finger deutet er auf seine Schläfe.
„Gefickt, verstehst du? Gefickt.“
Ich verstehe es nicht ganz; ich kanns mir vorstellen, es mir aus dem Text auch ein Stück weit erschliessen, aber für mich bleibt da vieles zu sehr im Vagen.

Ich hoffe, du kannst mir der Kritik was anfangen.

Grüße
Mand

 
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Hallo @Mand

freut mich, dass du meine Geschichte gelesen hast und ich kann dir auch in vielen Punkten, die du aufzeigst, zustimmen. Im Grunde ist das Kernproblem Folgendes: Ich fürchte, dass das Format (Flash Fiction) und wo ich mit der Geschichte hinwollte, vermutlich nicht so gut zusammen passen, wie ich beim Schreiben dachte. Ich habe im Vorfeld jetzt auch gar nicht so lange drüber nachgedacht und mir ganz konkret überlegt, wie ich das aufbauen möchte. Mir war der grobe Rahmen klar und ich habe einfach mal drauflosgeschrieben und dann war ich am Ende und dachte, ich lade es mal hoch, um zu sehen, wie die Geschichte ankommt und was die Rückmeldungen sind. War ich zu Beginn noch einigermaßen zufrieden, sehe ich mittlerweile schon recht deutlich, an welcher Stellen die Geschichte krankt.

Ich kann zum Beispiel damit mitgehen wenn du schreibst, dass

die alltäglichen Missverständnisse, Enttäuschungen, Sprachbarrieren
nicht ausreichend aufgezeigt werden. Das stimmt. Ich will es nicht entschuldigen, aber es ist natürlich ein wenig dem (vielleicht unpassenden) Rahmen Flash Fiction geschuldet. Vermutlich bräuchte die Geschichte eben einfach noch ein bisschen Luft, damit ich solche Dinge unterbringen könnte.

Bei Folgendem musste ich allerdings überlegen und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich dir da voll zustimmen kann. Inhaltlich hast du absolut recht wenn du sagst:

Der Emran wirkt ein bisschen blass und austauschbar
Das ist so. Jetzt ist es aber so, dass die Dinge, die in der Geschichte passieren, natürlich insgesamt ein wenig austauschbar ist. Meine: Emran könnte auch ein Isik sein oder ein Sulaiman oder ein Ahmad. Die Geschichte von Entwurzelung und den Problemen sehr junger unbegleiteter Migranten, die mit den Folgen ihrer (oft traumatischen) Fluchterlebnisse kämpfen, ist vielfältig.
Aber ich will es mir nicht zu einfach machen. Im Grunde hast du recht. Als Geschichte funktioniert es nicht gut, weil dem Charakter einfach noch Fleisch fehlt.

aber die meisten Menschen würden doch eher gleich die Polizei rufen, einen Streit anfangen, oder wegschauen und abhauen.
Sicher, die meisten würden vermutlich nicht so reagieren. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es eben eine solche Reaktion geben könnte. Kann natürlich schief gehen, aber komplett ausgeschlossen ist das meiner Meinung nach nicht.

Da würde ich gerne erfahren, was sie reden, und wie sie miteinander reden
Ja, sehe ich. Werde da mal versuchen, noch was zu ergänzen.

Ich verstehe es nicht ganz; ich kanns mir vorstellen, es mir aus dem Text auch ein Stück weit erschliessen, aber für mich bleibt da vieles zu sehr im Vagen.
Tja, das ist vermutlich die einzige Stelle, bei der ich dir grundlegend widerspreche :) Denn ich finde genau diesen Schluss passend und gelungen. Denn genau das, was du beschreibst (vage, bleibt im Unklaren, was meint er damit?) ist ja der Punkt an dieser Stelle. Emran kann sich nicht vollständig klar (vermutlich nicht nur aufgrund der sprachlichen Barriere) mitteilen. Er kann das, was die Erlebnisse mit ihm gemacht haben, nicht in einfach verständliche Worte packen (wenn er es denn überhaupt selbst weiß, woher auch?). Er hat halt dieses vage Gefühl, nicht rund zu laufen (Stress, Überforderung, Unruhe, Aggression, Panik usw.) und äußert das eben dadurch: Mein Kopf ist gefickt.
Der Mann hingegen wird sicherlich erst mal nicht viel damit anfangen können. Wie auch? Er kennt den Hintergrund nicht, sondern sieht nur das, was unmittelbar vorgefallen ist. In meinen Augen ist das stimmig. Aber Geschmäcker sind ja verschieden ;)

Ich komme trotzdem zum Schluss, dass der Text (nicht nur aber auch) aufgrund des Rahmens nicht gut als Geschichte funktioniert. Ich werde mir überlegen, ob ich den Text als gescheitert betrachte. Vermutlich werde ich da mit ein wenig Abstand aber noch mal dran rumschrauben und versuchen, den Text als Ganzes auszubauen.

Danke dir für deine Zeit und deinen guten Kommentar! Hat mir was gebracht.
Viele Grüße
Habentus

 

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