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Kopf oder Zahl
Gefahr ist ein wahnsinniges Gefühl. Niemand kann wissen, wie es ist, wenn er es noch nicht selbst erlebt hat. Einen kurzen Augenblick siehst du noch nach unten. Schaust dir die tosenden Wellen an und die nicht weit entfernten Felsbrocken, die hoch aus dem Meer hinausragen. Du siehst den Vögeln zu, wie sie im Sturzflug hinunter ins tiefe Schwarz schießen, um die kleinen, winzigen Fischen aufzuspießen. Auch die haben keine Wahl. Genau wie wir. Entweder sie schaffen es und können sich unter einem kleinen Fels verstecken oder sie werden gnadenlos gefressen. Wir können entweder springen und mit etwas Glück an den steilen Klippen vorbeifliegen, oder wir springen nicht, aber verpassen eines der besten Gefühle, die es für Adrenalinjunkies wie uns gibt. Die Gefahr. Du kannst eine Münze werfen und sehen, was dir das Glück bringt. Bei Kopf, springst du. Hast du Zahl, was tust du nun....?
Schon letzten Sommer fingen wir mit diesen wahnwitzigen Aktionen an. Es begann langsam mit den Dächern unserer Garagen. Einen Haufen Pappkartons unten aufgebaut und hineinfallen lassen. Das war nicht weiter atemberaubend, außer an dem Tag, an dem die Nachbarskatze unter den Kartons schlief und wir sie nicht sahen. Die Nachbarn erklärten uns für „schwer erziehbare Kinder“ und geistig krank, da wir sonst nichts mit unserer Freizeit anzufangen wussten, wie normale Kinder. Aber was bitte ist denn heute noch normal?!
Später irgendwann verging uns die Lust an Kartons und Saltos rückwärts von den Bäumen. Wir beschlossen bessere Dinge zu suchen. Zuerst wollten wir Angsthase spielen. Ein Spiel, bei dem eigentlich niemand so ganz ohne Beule oder Quetschungen davonkommen konnte. Zwei Autos fahren mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zu. Das erste Auto, das ausweicht, ist der Angsthase. Der andere Autofahrer hat entweder Glück und springt später aus dem Auto und wird als Held gefeiert, oder er stirbt bei diesem Wahnsinn und kann bei den Geistern feiern.
Für uns kam das alles ohnehin nicht in Frage, da wir kein Auto hatten. Nein. Wir hatten etwas viel besseres und abgefahreneres zu bieten. Die Freiheitsklippen. Warum wir die so nannten? Weil es einfach ein einzigartiges Gefühl war diese zehn Meter hinunter zu springen und man sich frei wie ein Vogel dabei fühlte.
Anfangs waren wir skeptisch. Man hatte schon öfter von Kindern gehört, die diese Klippe im Sommer hinunter gesprungen waren und bei den Felsen landeten. Schließlich war von ihren Köpfen nicht mehr viel übrig. Doch das war eine einmalige Chance die Könige und Königinnen unter den Kids zu werden.
Ich als Mädchen wurde ohnehin schon immer verspottet wegen meiner Größe und meiner zierlichen Figur.
„Lucie, lass es einfach. Du schaffst das doch eh nie! Du bist viel zu schwach und traust es dich doch nicht!“ ,lärmte einmal mein Bruder Jacob, der sich gerade seiner Schuhe entledigte. Ich jedoch belehrte ihn eines besseren und sprang vor allen anderen die Klippe hinunter. Noch nie zuvor empfand ich eine solche Freude, die meinen ganzen Körper durchzuckte. Man kann es gar nicht wirklich beschreiben. Zuschauer mussten es selbst erlebt haben.
Es vergingen Jahre und wir sprangen noch immer die gleiche Klippe hinunter. Die einzige große Verletzung war bisher eine Schramme an Edwins Fuß, da er beim Absprung umknickte und die Felswand hinunterrutschte.
Jetzt noch muss ich lachen über den damaligen Anblick von seinem Gesicht, das gar nicht begreifen konnte, was gerade geschehen war.
Doch leider war es jetzt nicht mehr wie damals. Jetzt stehe ich ohne meinen Bruder hier. Und ohne meine Freunde. Die Königinnen und Könige von früher waren nur noch Vergangenheit. Schon seit fünf Wochen habe ich niemanden mehr von der alten Bande gesehen. Alle sind sie feige in ihre Häuser geflüchtet. Und ich stehe hier am Abgrund und frage mich warum wir jemals diese Felsen gefunden haben. Hätten wir diese Felsen nicht gefunden, wären wir vor fünf Wochen bloß zu Hause geblieben, als unsere Eltern uns warnten.
Ich schaffe es nicht mehr. Meine Hände krallen sich feste in die Taschen meiner Regenjacke und ich blicke verschwommen auf das dunkle Meer hinaus. Noch niemals hatte ich ein solches Gefühl der Angst. Jegliche Sprünge, die wir von hier unternahmen hätten unsere letzten sein können. Wieso ging so lange alles gut und plötzlich bricht unser kleines Abenteuer zusammen?! Immer wieder stelle ich mir diese Frage und merke, wie sich meine Fingernägel in meine Handfläche bohren. Warm fließt das Blut meine Hände hinab und in die matschige Erde. Es tut gut wie es durch meine Finger rinnt und zusammen mit meinen Äderchen pulsiert. Denn ich weiß, es ist auch sein Blut. Er ist hier bei mir.
Erinnerungen kommen hoch und für einen kurzen Moment verschwinden die Gefühle von Trauer und Kälte.
......
„Hey, Lucie! Weißt du was? Wenn ich groß bin, werde ich Pilot und nehme dich mit hoch in die Wolken. Da wolltest du doch schon immer mal hin....
„Boah! Echt?? Das wäre schön...Dann werde schnell ganz groß...
......
„Jacob, was hast du mit meinem Teddy gemacht?!“
„Ich habe ihn bloß etwas verschönert. Mit Schnurrbart sieht er doch jetzt viel cooler aus!!.....
......
„Haha, he, lass mich. Nicht kitzeln. Das ist gemein. Haha, Mama...Jacob lässt mich nicht los.“
„Jacob, lass deine Schwester in Ruhe!“
„Aber Mama. Große Brüder müssen ihre kleinen Schwestern nun mal kitzeln. Das gehört sich halt so.“.....
......
Dicke Tränen rinnen mein Gesicht entlang, bis ich den Geschmack von Salz an den Lippen spüre. Niemals hätte ich ihn an diesem Tag aufziehen sollen. Im Fernsehen meldeten sie einen großen Sturm, der vom Meer her ziehe. Noch nie sind wir bei solchem Wetter zu den Klippen gegangen. Außer vor fünf Wochen. Mein Bruder und ich stritten uns, wer der Furchtloseste in der Familie sei und stachelten uns mit blöden Kleinigkeiten immer weiter auf. Als die Sache eskalierte lief er nach draußen und rief etwas von Sprung und dass das noch keiner vor ihm gewagt hätte. Ich werde mir nie verzeihen, was vor fünf Wochen passiert ist.
Schließlich rannte ich ihm hinterher und versuchte ihn davon abzubringen, bei Sturm in die Bucht zu springen. Doch so sehr ich auch fleht und bettelte, es nützte nichts. Er war bereits bis auf die Boxershorts ausgezogen und schien fest entschlossen.
„Was sagst du jetzt? He?? Niemals hat sich jemand getraut zu tun, was ich jetzt tun werde.“
„Kein Wunder!“, rief ich und fluchte wild durch die Gegend. „Bei diesem Wetter würde sich jeder den Hals brechen oder ertrinken. Das ist Wahnsinn!! Bitte lass das bleiben!!!“
Doch er hörte nicht auf mich.
„Schon morgen früh wird hier der größte Klippenspringer aller Zeiten gefeiert werden. Und du wirst vor Begeisterung klatschen und jubeln.“
Das waren seine letzten Worte als er die wahnsinnigen zehn Meter der Felswand hinuntersprang. Mit aller Hast rannte ich zum Rand hinüber und sah ihn, wie er mit ausgebreiteten Armen in die Fluten stürzte.
Ab da ist alles schwarz. Meine Handknöchel die sich verkrampft weiß färbten, sind schwarz, die Felsbrocken, der Himmel und das Meer. Meine Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre mit meinen Freunden und Jacob, sowie Jacobs Blut, das ich nur noch in Strömen aus seinem Kopf schwimmen sah; alles tiefschwarz.
Wie viel war uns dieses Gefühl wert, frei und unabhängig zu sein. Waren wir nicht schon vorher frei, wenn wir davon träumten Pilot oder Feuerwehrmann zu werden?! Immer wenn uns unsere Freunde besuchten und wir einfach nur dasaßen und redeten, waren wir da nicht frei?! Jacob kann diese Frage nicht mehr stellen. Für ihn ist auch der Wunsch von einem Piloten ausgeträumt. Denn kein Querschnittsgelähmter mit Schädelhirntrauma wird je ein Flugzeug steuern können. So sehr man auch bittet. Für ihn sind die Sprünge zu Ende.
Und nun wirf eine Münze. Bei Kopf, springst du. Hast du Zahl, bleib auf dem Boden un sei wirklich frei.