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Kopfkino

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18.01.2010
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Kopfkino

KOPFKINO

Sie wollte die U-Bahn gegen 14.00 bekommen, um sich in der Buchhandlung die Gesetzestexte zum Beamtenrecht zu holen, bevor sie ihre Vorbereitungen für die Präsentation am Tag darauf fertig stellte. Die Hitze draußen war so erdrückend, dass ihr das Hemd schon am Bauch klebte, bevor sie überhaupt an der Haltestelle angekommen war. Noch in der Wohnung, hatte sie gar nicht gemerkt, wie schwül es war.
Sie hatte die Musik der französischen Punk Band, deren Namen sie nicht kannte, weil ihr Bruder ihr die CD nur gebrannt aber nicht beschriftet hatte, so laut gestellt, dass der Spaß an der Musik durch das schlechte Gewissen gegenüber ihren beiden Nachbarn getrübt wurde, und sich entschieden statt dem Rock die Leinenhose zu tragen.

Summend, weil sie den Text nicht konnte, ging sie ins Bad und schminkte sich die Augen, sie zog den Lidstrich ganz sanft, nicht so stark dunkel wie sonst. Sie fühlte sich nach weniger. Sie benutzte die Tagescreme und einen Hauch von Rouge, kaum merklich, nur für das Gefühl. Ihr Blick blieb für eine Sekunde an den Ohrringen hängen, die sie ordentlich paarweise neben den Spiegel gehängt hatte, dann entschied sie sich dagegen. Sie fühlte sich nach weniger.

Bevor sie das Haus verließ, blickte sie flüchtig kontrollierend in den Dielenspiegel, erinnerte sich an Sandros Lachen, der nicht verstehen konnte, dass sie sich für kurze Erledigungen so bemühte, zog die Tür hinter sich zu und eilte hinaus.

Sie war eingezogen in ihr Ausgehgefühl, hatte sich 15 Minuten Zeit genommen, um sich zu verkleiden, in eine legere, gut aussehende, selbstbewusste Person, die beschäftigt die Straße hinab eilt und schon wieder am Schreibtisch sitzt, ehe der erste Anrufer vom Anrufbeantworter entgegen genommen werden musste.
Ihre Erledigung würde nicht länger als eine Stunde dauern und dafür musste sie sich Zeit lassen. Sie freute sich, und als sie sich selbst fragte, auf was oder worüber, wusste sie es nicht und bildete sich ein, sie freue sich am Wetter. Sie freute sich aber nicht am Wetter.

Sie sah die U-Bahn kommen und beschleunigte ihren Schritt. Sie hatte es nicht eilig, aber sie wollte nicht aus der Rolle fallen und das würde passieren, wenn sie aufgehalten würde.
Sie stellte sich vor, jemanden zu treffen, fröhlich zu sein, ihr ideales Selbst. Sie würde jemanden zufällig treffen, erst gar nicht realisieren, sie war zu beschäftigt. Dann würde sie „Ach, hallo!“ sagen und „was machst du denn hier, ist ja ewig her, wie geht’s dir?“
Sie würde natürlich auf die Gegenfrage erwidern, dass es ihr super gehe, sie zwar viel zu tun habe, aber das ok sei, weil die Arbeit ihr Spaß mache.
Sie würde sehen, dass sie ihm noch gefällt.

Zack! An dieser Stelle, es war immer dasselbe, erwischte sie sich, jedes Mal. Bemerkte Marie selbst, dass es nicht irgendjemand war und nicht irgendein Zufall, und nicht irgendein Gang zur Buchhandlung, sondern das alles bis ins letzte Detail nur darauf wartete ihn zu treffen und sonst niemanden, denn jeder oder jede Andere könnte ihren Blick irritieren, sie würde abgelenkt und würde IHN dann verpassen. Er, der vielleicht gar nicht mehr hier wohnte, er der sie vielleicht gar nicht sehen wollte, dem sie vermutlich nicht mehr gefallen würde.
Er, für den sie sich schön machte, für den sie sich kleidete, den sie zum hundertsten Mal nicht zufällig traf und vielleicht, und das war viel mehr wahrscheinlich als vielleicht, überhaupt nie wieder treffen würde.

Sie stieg am Marktplatz aus der U-Bahn und überquerte die heiße Stelle, den einzigen Punkt, an dem sich ihre Wege kreuzen könnten, denn es war der Mittelpunkt auf der Strecke zwischen ihren Wohnungen, gezeichnet von einem Supermarkt. Der potenzielle, gemeinsame Supermarkt.
Sie überquerte die Straße und ihre gute Laune verflog ein bisschen, denn sie hatte ihn nicht getroffen.

Nachdem sie erkannt hatte, dass sie wieder Kino im Kopf hatte, versuchte sie sich selbst zu verlassen und in der Stadt zu sein, in der sie war. Sie betrat die Buchhandlung und stöberte herum, überlegte noch etwas Belletristisches mitzunehmen, entschied sich dagegen, da sie wusste, zuhause lag noch die Neuerwerbung des Vortages. Immer nur ein Buch!
Also kaufte sie sich nur die Pflichtlektüre und stellte sich die ehrlich gemeinte Frage, ob sie es diesmal schaffen würde, ausreichend vorher anzufangen zu lernen, oder ob sie doch wieder erst auf den letzten Drücker alles in Nachtschichten in ihren Schädel hämmern würde. Recht vermischt mit Kaffee und Schlafmangel.

Sie wollte noch nicht heim, denn sie wollte nicht arbeiten und sie wollte nicht wissen, dass es wieder nicht passiert war, dass sie sich wieder nicht getroffen hatten.
Also betrat sie einen zu teuren Modeladen, mit der Absicht sich einen Rock zu kaufen, koste er was er wolle, es war ihr egal.
Der Gedanke an Kaufsucht überraschte sie ein wenig, aber erschreckte sie nicht, denn andere lebten auf noch größerem Fuß mit noch kleineren Schuhen und da sie letztendlich durch die Patzigkeit einer bildhübschen Verkäuferin dermaßen um ihr Selbstvertrauen beraubt wurde, kaufte sie ja dann tatsächlich doch nichts, auch nicht die Sonnenbrille, die ihr irgendwie etwas Verruchtes verlieh und ihr sicherlich bei einer nie stattfindenden Begegnung mit IHM die Distanz und Kühle verlieh, die sie selbst nie aufbringen würde, wenn er vor ihr stünde.
Sie dachte stattdessen an Sandro, der tausende Kilometer weit weg ein Praktikum machte, er würde sie lächerlich finden, mit dem fliegerbrillenähnlichen Etwas auf der zu kleinen Nase.

Sie steckte die Brille zurück in die Halterung. Sie wusste, sie würde wenigstens eine Woche darüber nachdenken und sich sicher sein, dass es gerade diese Brille war, die ihr Leben entscheidend bereichern würde, die ihr eine anziehende Arroganz verlieh, sie unnahbar und sexy zugleich erscheinen lassen würde.
Doch der Preis würde ihren sozialen Aufstieg in diese Kategorie verhindern und sie wollte sie auch nicht mehr, diese blöde Kuh von Verkäuferin soll bloß ihr Fett weg bekommen.

Marie ging. Es war so schwül, dass sie kaum vorwärts kam. Am liebsten hätte sie sich irgendwo hin gesetzt, auf den Rasen oder eine Bank. Doch sie hatte gar keine Zeit. Zudem war sie noch immer in ihrer Rolle, spielte noch immer die Beschäftigte.

Wieder in der U-Bahn, diesmal in die andere Richtung, sah sie zum Fenster hinaus, wissend, dass ihre Laune sich aufgeputscht hatte, an einer Person deren Gesicht sie schon nicht mehr beschreiben konnte, wissend, dass zuhause der Anrufbeantworter nicht blinken würde, und dass es kein Fehler war, das Handy zuhause zu lassen. Sie würde keinen „Anruf in Abwesenheit“ auf dem Display haben.

Ihre eigene Lüge wurde ihr bewusst, nicht zum ersten Mal, sie stieg immer dann mit ein, wenn es zurück ging, wenn sie erkannte, dass dieser Gang in die Stadt das Highlight des Tages war, dann wenn sie merkte, dass sie wohl beschäftigt aber tatsächlich schrecklich allein war in dieser Stadt, die sie ganz langsam wieder zu lieben begann.

 

Hallo Johanne,

und herzlich Willkommen im Forum.

Deine Geschichte gefällt mir ganz gut, zu mindestens was die Thematik betrifft. Dieser kleine Selbstbetrug, den jeder irgendwie kennt.
Auch wenn hier gar nicht so viel passiert, eigentlich ja sehr wenig, gefällt mir, wie die Geschichte angelegt ist. Am besten hat mir die Stelle gefallen:

Sie würde jemanden zufällig treffen, erst gar nicht realisieren, sie war zu beschäftigt. Dann würde sie(Doppelpunkt) „Ach, hallo!“(Komma) sagen und „was machst du denn hier, ist ja ewig her, wie geht’s dir?“
Sie würde natürlich auf die Gegenfrage erwidern, dass es ihr super gehe, sie zwar viel zu tun habe, aber das ok sei, weil die Arbeit ihr Spaß mache.
Sie würde sehen, dass sie ihm noch gefällt.

Hier komme ich als Leser Deiner Protagonistin ganz nahe. Näher als in die Gedanken geht wohl auch nicht :), aber hier wirkt sie auf mich sehr echt.

An anderen Stellen dagegen, kommt mir zu viel der Erzähler durch und sagt mir, was ich über sie empfinden soll - hier beispielsweise:

Summend, weil sie den Text nicht konnte, ging sie ins Bad und schminkte sich die Augen, sie zog den Lidstrich ganz sanft, nicht so stark dunkel wie sonst. Sie fühlte sich nach weniger. Sie benutzte die Tagescreme und einen Hauch von Rouge, kaum merklich, nur für das Gefühl. Ihr Blick blieb für eine Sekunde an den Ohrringen hängen, die sie ordentlich paarweise neben den Spiegel gehängt hatte, dann entschied sie sich dagegen. Sie fühlte sich nach weniger.

Sie fühlte sich nach weniger - ist schön, doch sollte es sparsam genutzt werden - wie auch sie ihre Schminke sparsam einsetzt - damit es zur vollen Wirkung kommt. Sonst fühlt sich Leser schnell dazu verleitet - ja ich hab es doch schon kapiert :).
Dann lese den Text mal ohne das Unterstrichene und schau mal, wie er auf dich wirkt. Braucht der Leser diese Informationen wirklich?

Bevor sie das Haus verließ, blickte sie flüchtig kontrollierend in den Dielenspiegel, ...

auch dieses "kontrollierend" ist etwas, was man doch kennt - deshalb schaut man doch noch mal in den Spiegel.

Mit solch kleinen erklärenden Einschüben durchbricht man die Phantasie des Lesers, der sich ja selbst gern ein Bild von den Figuren basteln möchte, seine Erfahrungen mit einbringen will. Der Text würde aus meiner Sicht sehr gewinnen, wenn Du daraufhin noch mal rüberschauen würdest.

Ihre eigene Lüge wurde ihr bewusst, nicht zum ersten Mal, sie stieg immer dann mit ein, wenn es zurück ging, wenn sie erkannte, dass dieser Gang in die Stadt das Highlight des Tages war, dann wenn sie merkte, dass sie wohl beschäftigt aber tatsächlich schrecklich allein war in dieser Stadt, die sie ganz langsam wieder zu lieben begann.

Der ganze letzte Absatz war mir irgendwie zu viel. Das hab ich aus dem Text schon heraus gelesen. Und ich versteh nicht, warum sie anfängt - die Stadt wieder zu lieben? Hat sie sie zuvor gehasst?
Für mich braucht es diesen Absatz gar nicht, der vorletzte wäre doch ein gutes Ende.

Wie gesagt, vom Aufbau und Thema mag ich die Geschichte, in der Umsetzung, da könnte man noch ein wenig nachlegen ;).

Viel Freude Dir hier an Deinen Geschichten, am Lesen und Kommentieren.

Beste Grüße Fliege

 

Liebe Fliege,

vielen Dank für deine Kommentare und Kritiken. Ich freue mich zimlich, über das was du schreibst. Es hat mir geholfen, den Text neu zu lesen. Du hast Recht, der Erzähler gibt zu stark vor. Mir wurde es sichtbar, als ich die von dir markierten Textstellen entsprechend gelesen habe.
Ich bin gerade dabei, den Text zu überarbeiten, um eine zweite Version zu erhalten.

Ich finde deine Anmerkungen sehr konstruktiv und treffend!
Das macht mir Spaß hier, da geht was ! :)

ICh werde die zweite Version in Kürze hier einstellen, ich freue mich, wenn du sie nochmal liest!

Liebe Grüße
Johanne

 

Salü Johanne

Erstmal Kompliment, gerne gelesen!! Die feine Beschreibung der Gefühls-/Lebenslage - Lebenslüge kommt sehr gut rüber! Man erfährt genug, dass man nicht rätseln muss, und trotzdem ist auch genug Offenheit für eigene Gedanken, eigenes Finden.

Den Einstieg fand ich etwas umständlich, zu viel Beschreibung, zu Detailhaft, und dazu noch so lange Sätze, da muss man zwei Mal lesen um zu merken was nun wichtig ist.

Vor allem hier:

Sie hatte die Musik der französischen Punk Band, deren Namen sie nicht kannte, weil ihr Bruder ihr die CD nur gebrannt aber nicht beschriftet hatte, so laut gestellt, dass der Spaß an der Musik durch das schlechte Gewissen gegenüber ihren beiden Nachbarn getrübt wurde, und sich entschieden statt dem Rock die Leinenhose zu tragen.

"Sandros Lachen" hat mich auch etwas irritiert, muss man wissen wer Sandro ist? Vielleicht der Bruder? Ich nehme an es kann nicht ihr Freund sein, denn sie will ja den andern.

Liebe Grüsse,
Siiba

 

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