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Krähen können fliegen, du Idiot!
Krähen können fliegen, du Idiot!
Sie saß wieder im Wäscheschrank.
Niemand wusste, dass sie hier war, zumindest glaubte sie das.
Stella hörte die Schritte über sich und die Stimmen, die nach ihr riefen. Es war sehr dunkel im Wäscheschrank, nur durch die schmalen Ritzen in der Tür drangen einzelne Lichtstrahlen in das Innere.
Vorsichtig zog Stella den Kristall aus ihrer Hosentasche und hielt ihn in einer der Strahlen. Das Glas reflektierte das Licht und hunderte von kleinen bunten Punkten erschienen auf den Wänden des Schranks und auf ihrem Körper. Sie lächelte zufrieden und drehte den Kristall in ihrer Hand.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Ein Junge war die Treppe hinunter gelaufen und stand jetzt vor dem Wäscheschrank, bedrohlich nah, fand Stella. Sie hielt die Luft an. Doch der etwa 13-jährige drehte sich um und riss mit einem Ruck die Schranktür auf, packte sie am Arm und zog sie zu sich heran.
„Hab ich dich!“ rief er triumphierend. Stella schaute ihn erschrocken an.
„Schau mich nicht so an! Du bist doch diejenige, die seit Tagen unser Waisenhaus bestiehlt. Zuerst das Besteck, dann die Kerzenständer und jetzt auch noch die Kristalle von Kronleuchter in der Eingangshalle. Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten.“ meinte der Junge erzürnt, doch Stella betrachtete nur teilnahmslos die immer größer werdende Menge von Kindern, die sich am oberen Ende der Kellertreppe gebildet hatte. Sie flüsterten wild durcheinander. Urplötzlich jedoch wurde es still und die Kinder bildeten eine Gasse, durch die dann ein älterer Mann mit strengem Blick trat und die Treppe hinunter schritt. Er musterte sie grimmig.
Also eine von uns ist sie nicht.“ meinte er mit einem lauernden Unterton.
Stella stand stumm vor dem Wäscheschrank, den Blick auf den alten Mann gerichtet vor sich gerichtet. Der Junge hielt sie immer noch fest am Arm.
„Wer bist du und wo kommst du her?“ fragte der Alte jetzt. Stella zuckte mit den Schultern. Der Junge zog sie zu sich heran und wisperte:
„Ich würde etwas sagen. Mit dem alten Tinow ist nicht zu spaßen. Der verprügelt dich und schickt dich dann zur Polizei.“
Sie zuckte wieder mit den Schultern. Was sollte sie auch sagen? Sie konnte noch nicht einmal reden. Niemand in ihrer Familie konnte das. Seit Tagen brach sie nun in das Waisenhaus ein und stahl Dinge, die ihr gefielen, sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie jemand entdecken würde.
„Wenn du nichts sagen willst, dann zeig mir wenigstens, wie du hier rein gekommen bist.“ meinte der alte Tinow. Gerne! , dachte Stella.
Den Jungen an ihrem Ärmel ging sie aus dem Keller, gefolgt von Rest der Kinder. Sie ging durch die Eingangshalle, vorbei an der Küche und schließlich in den Schlafsaal.
Schrecklich sah es hier aus. Die Bettgestelle waren verrostet und die harten Matratzen nur mit dünnen, grauen Bezügen bedeckt.
Arme Geschöpfe, diese Kinder, dachte Stella traurig.
Dann blieb sie vor einem kleinen Kamin stehen und zeigte mit dem Finger den Schacht hinauf.
„Willst du mich für dumm verkaufen?“, fragte Tinow erzürnt, „Durch diesen Schacht passt ja noch nicht mal eine Katze. Und du, du lässt sie mal los.“ meinte er aufgeregt und zeigte auf den Jungen, der immer noch ihren Ärmel fest umklammert hielt. Widerwillig ließ er sie los.
„Wenn du mir nicht sofort sagst, wie du hier …“. Stella hob die Hand, dann drehte sie sich um und nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift von einem kleinen Schränkchen, schrieb etwas und reichte es dem inzwischen rot angelaufenen Tinow.
„Soll ich es dir zeigen?“ stand dort in krakeliger Schrift.
„Klar, zeig mir doch deinen tollen Trick.“ meinte Tinow giftig und lachte laut auf. Wie mechanisch fielen die Kinder ein.
Stella aber lächelte nur.
Ihr Gesicht veränderte sich. Die schwarzen, langen Haare wurden zu Federn und die Arme und Beine verschwanden in ihrem Körper.
Die Kinder und auch Tinow verstummten. Stellas Augen glänzten geheimnisvoll, dann breitete sie ihre Flügel aus, flog in den Kamin und ließ den alten Tinow und die Kinder zurück.
Krähen können fliegen, du Idiot, dachte sie, bevor sie mit dem Kristall im Schnabel in der Sonne verschwand und tausende von kleinen, bunten Punkten über die Stadt verteilte.