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Krach
Anfangs war es nur Teil meines Studiums, Besuche in der Psychatrie zu machen. Nach und nach entwickelte sich aber ein Verhältnis zwischen mir und Staude, das als Freundschaft zu bezeichnen sicher falsch wäre, aber dennoch von großem Vertrauen, ja, sogar Loyalität geprägt war. Er erzählte nie davon, weswegen genau er in die Klinik gekommen war. Ich weiß es bis heute nicht. Auch weiß ich nicht, ob er Angehörige besaß oder außer mir noch andere regelmäßige Besuche empfing. Er erzählte nie etwas von sich, manchmal glaube ich beinahe, er wusste gar nicht, dass er ein Mensch war, der ein eigenes Leben besaß. Wie kann ich dennoch davon sprechen, dass zwischen uns ein Vertrauen geherrscht hatte? Es waren die Spaziergänge, die uns miteinander verbanden. Die Spaziergänge, die eigentlich gar nicht hätten stattfinden dürfen, weil er offiziell die Klinik nicht verlassen durfte. Die Schwestern aber drückten ein Auge zu, sie waren sogar froh, dass Staude endlich jemanden gefunden hatte, dem gegenüber er sich öffnen konnte, und sprachen davon, dass sich sein Zustand erheblich gebessert habe, seit er die regelmäßigen Spaziergänge mit mir unternehme. Ich konnte es nicht beurteilen, ich war nur Student und verstehe noch heute nicht, weswegen er ausgerechnet mich nach diesen Spaziergängen gefragt hatte. Da die Klausuren zu Ende waren und ich die Zeit besaß, sagte ich ihm zu und holte die Zustimmung der Schwestern ein, auch wenn es mir eigentlich davor schauderte, mit einem psychisch Kranken alleine spazieren zu gehen. Die Schwestern aber versicherten mir, dass keine Gefahr für mich oder die Menschen draußen bestand, doch sollte ich die Masse meiden, da eine Masse Menschen Staude wohl nicht bekommen würde. Aus dem einen Spaziergang wurde eine Gewohnheit, die langsam nicht nur ihm, sondern auch mir zu einer willkommenen Verpflichtung wurde. Keine Verpflichtung im tatsächlichen Sinne, aber wir beide haben unsere Spaziergänge als eine Verpflichtung angesehen. Eine Verpflichtung einem Vertrauten gegenüber, ja, vielleicht auch gegenüber einem Freund. Wir gingen den alten Schotterweg am Fluss entlang, eigentlich immer, wenn dort nicht gerade das Hochwasser stand. Das war aber nur dreimal der Fall, Ende Februar bis Anfang März. Unsere Spaziergänge verliefen immer nach dem gleichen Muster: er erzählte, ich hörte zu. Gleich bei unserem ersten Spaziergang begann Staude mit einem seiner Vorträge, die ich für immer in Erinnerung behalten werde:
„Wozu ist der Mensch denn schon fähig?“, fragte er mich, kaum waren wir auf den knapp fünf Gehminuten von der Klinik entfernten Weg eingebogen. „Krach, mein Lieber. Zu nichts anderem als ohrenbetäubenden Krach!“, setzte er fort, ein sanftes Beben in seiner tiefen Stimme, die draußen an der Luft noch viel tiefer klang. Als ob die Mauern der Klinik sie darin gehindert hätten, sich in ihrer ganzen Tiefe zu entfalten.
„Hören Sie die Autos? Völlig ohne Sinn fahren sie oben an der Straße vorbei und machen Krach. Die Fahrer fahren von zu Hause weg oder wieder nach Hause, jeden Tag zur selben Zeit. Ich höre sie in meinem Zimmer in der Klinik. Ich will den Vögeln lauschen, die sich ab und an auf den Bäumen im Klinikgarten niederlassen, und dann kommen die Autos und ich höre nur noch Krach. Früher sind die Vögel aufgeschreckt und davongeflogen, doch langsam haben auch sie begriffen, dass flüchten sinnlos ist, weil der Krach der Menschen überall ist. Sie steigen aus dem Wagen, knallen die Türen zu, stapfen die Treppenstufen bis zur Haustüre hinauf und drücken auf den Klingelknopf, weil ein Klopfen nicht laut genug wäre, um die Fernseher zu übertonen, deren Krach den ganzen Tag durch die offenen Fenster nach draußen dringt. Oder die Staubsauger. Wissen Sie eigentlich, wie viel Krach so ein Staubsauger macht? Die Männer brüllen in die Gegensprechanlage, dass sie zu Hause seien, woraufhin die Frauen die Summer drücken und kaum sind sie, die Männer, in der Wohnung angekommen, brüllen sie, die Frauen, dass sie, die Männer, ruhig sein sollen, da sie, die Frauen, die Serie nicht verpassen wollen.“
Staude wollte eine Pause machen und wir setzten uns auf eine Bank, von der aus wir auf den Fluss blicken konnten, der langsam vor unseren Augen vorüberzog. Er verriet mir nie sein Alter, aber wenn ich ihn in solchen Momenten ansah, überkam mich der Gedanke, dass Staude schon unzählige Jahre auf dem Buckel hatte. Dann aber, wie er marschierte, verwarf ich diese Gedanken schnell, manchmal hatte ich regelrecht Angst, dass er mir wegrennen würde. Wenn nicht die Pausen wären, die er ständig einlegen wollte, beinahe an jeder Bank hielten wir und er schnaufte sich aus, hielt dabei die Hand fest auf seinem Bauch, als ob er jeden Atemzug nicht nur atmen, sondern auch fühlen wolle. Erst wenn sich sein Atem beruhigt hatte, setzte er seine Monologe fort, die immerzu vom menschlichen Krach handelten. Einmal kam ein Radfahrer an, Staude blickte mir erst lange in die Augen, dann wendete er seinen Kopf und schaute schnurgerade nach vorne, von wo der Mann auf dem Fahrrad immer größer und deutlicher in unser Sichtfenster hineinstrampelte. „Sehen Sie, er hat ihn zu Hause nicht mehr ertragen, den Krach, den die Menschen machen. Er glaubt, wenn er sich auf sein Rad setzt, kann er sich in die Stille der Natur flüchten. Doch was ist schon die Stille der Natur? Gibt es die noch? Und überhaupt, Kopfhörer hat er in die Ohren gesteckt!, weil oben an der Straße die Autos vorbeifahren und er den Krach nicht hören will. Er verabscheut den Krach und macht selbst nichts anderes. Die fürchterliche Musik! Dann das Klacken der Kette, die auf das nächste Zahnrad springt, wenn er genüsslich die 21 Gänge rauf- und runterschaltet. Sicher, er ist ein Mensch, er kann nichts dafür, er muss Krach machen! Es ist der einzige Sinn, den ein Mensch auf dieser Erde hat: Krach machen! Wenn man dabei von einem Sinn sprechen kann.“
„Wer den Krach nicht ertragen konnte, ist früher von der Brücke gesprungen. Doch welcher vernünftige Mensch begeht heute noch Selbstmord? Den meisten widerstrebt der Krach zutiefst, den so ein Sprung auslöst. Es dauert keine Stunde, da sperrt die Polizei die Brücke. Mindestens drei Wagen kommen. Mit Blaulicht und Sirene! Stellen Sie sich mal vor, was das für einen sinnlosen Krach macht. Dann springen die Taucher in den Fluss, um nach der Leiche zu suchen und jedes Paddeln mit den Armen macht Krach. Statt dass sie die Leichen einfach liegen lassen, unten auf dem Grund, wie früher. Wenn sie irgendwann von alleine aufgetaucht sind, hat man sie treiben lassen. Wie ruhig der Fluss war, als er die toten Körper ins Meer getragen hat, wo sie damals keinen Krach mehr machen konnten und auch keinem Krach ausgesetzt waren, weil es keine Schiffe gab, keine Ozeandampfer oder Öltanker, die den Krach der Erde auf die See hinaus bringen.“ Staude zeigte mir, wo früher die Leichen getrieben sind. Ein paar Enten schwammen im Schatten der Bäume am Ufer entlang.
„Ich will nicht sagen, dass der Mensch früher besser oder ruhiger war, keineswegs!“, erklärte er mir dann, „Er war ja von der gleichen Sorte Lebewesen wie heute. Seine Gene waren schon immer die eines Krachmachers! Aber er war damals noch zu dumm, um Krach zu machen. Er kannte keine Autos, er kannte keine Schiffe, er kannte höchstens den Krach der Steine, die er aufeinander haute, um Feuer zu machen. Die Entwicklung, die Zivilisation, die haben den Krach ausgelöst. Und deshalb gab es früher noch keinen Krach. Der Mensch war ein Krachmacher, der keinen Krach machen konnte. Das ist paradox, aber nicht widersinnig, mein Lieber! Nicht widersinnig! Erst der Fortschritt hat dem Menschen nämlich gezeigt, wie er wirklich Krach machen kann. Deshalb gab es früher auch noch schöne Geräusche. Ein Hundebellen oder ein Vogelzwitschern. Ich sitze den ganzen Tag in meinem Zimmer am Fenster und versuche, ein Vogelzwitschern zu hören, doch obwohl die Vögel manchmal vor meinem Fenster zwitschern höre ich keines. Aber wer weiß denn heute noch wie ein Vogel zwitschert oder eine Ente quakt? Sehen Sie die Enten da vorne?“, Staude wies dorthin, wo nach seiner Aussage die Leichen getrieben seien, „Sie denken, sie wissen, wie sie sich anhören. Aber Sie nicht, mein Lieber! Bitte sagen Sie mir, dass Sie es nicht denken! Nein, Sie denken es nicht! Aber die Menschen denken, es zu wissen, wie die Enten quaken, weil sie noch nie ein reines Entenquaken gehört haben. Ein reines Quaken ohne in den Ohren den Krach der Autos, der Kopfhörer, der Schiffe, der Flugzeuge, der Fernseher, der Satelliten, der Fahrräder, der Menschen zu haben. Mit ihren Düsenfliegern tragen sie den Krach ins Universum und von dort schallt er auf die Erde zurück und verfälscht jedes Geräusch und deshalb gibt es auch kein reines Entenquaken mehr. Der Mensch hat es kaputt gemacht, wie er alles kaputt macht mit seinem Krach! Er kommt auf die Welt und noch bevor er eines seiner verklebten Augen öffnet, kreischt er, wie um zu zeigen, dass er dazu gehört, um den anderen Krachmachern zu beweisen, dass auch er Krach machen kann, höllischen Krach, der lauter ist als der Krach der Maschinen, die im Geburtszimmer des Krankenhauses brummen, lauter als die ständig tickende Uhr an der Wand und lauter als die Sirenen, mit denen der Krankenwagen die vor Schmerz schreiende Mutter vor ein paar Minuten erst hergebracht hat. Gibt es überhaupt eine menschliche Erfindung, die größeren Krach macht als ein Krankenwagen? Es ist nicht nur der Krach der Sirenen und der Lärm des Motors. Schlimmer: Der Krach, den die Menschen verursachen können, weil die Sanitäter ihnen das Leben retten!“
In solchen Momenten war Staude kaum zu bremsen und wenn ich ihm sagte, dass die Schwester ihn schon in den nächsten Minuten in der Klinik erwarten, ging er nur widerwillig mit. Er ging lediglich mit, weil er fürchtete, dass sie unsere Spaziergänge verböten, und als ich ihn der Obhut der Schwestern übergab, musste ich ihm versprechen, in zwei Wochen wiederzukommen, obwohl er inzwischen wusste, dass auch ich unsere regelmäßigen Spaziergänge als Verpflichtung angesehen hatte und sie, ja, ich muss zugeben, auch genoss. Wenn ich ihn exakt 14 Tage später wieder abholte, setzte er seinen Vortrag an genau jener Stelle fort, an der er ihn unterbrochen hatte, als hätte es gar keine Unterbrechung gegeben, als hätte er 14 Tage lang nichts anderes getan als sich an das Wort zu erinnern, mit dem er geendet hatte.
„Was lassen sie sie nicht einfach ausbluten, wenn sie ohnmächtig im Wagen sitzen, den es wenige Augenblicke zuvor an den Baum geschleudert hat? Während die Sirenen noch am Unfallort lärmen, schneiden sie sie aus dem Autowrack, hieven sie auf die Bahre, beatmen sie und am Ende kommen sie mit ein paar leichten Knochenbrüchen davon. Ein paar Wochen später stehen sie wieder in der Werkstatt, holen ihre frisch reparierten Wägen, nur um nach eins, zwei Tagen wieder gegen den Baum zu krachen.“
Staude machte nach diesem Satz etwas, das er noch nie gemacht hatte. Wir waren bereits auf dem Rückweg zur Klinik, als er am Rand des Weges anhielt und eine alte Eiche streichelte, deren weites Geäst über den Weg hinüber reichte, so dass wir im Schatten standen und es mich trotz strahlenden Sonnenscheins ein wenig fröstelte. So oft ich den Weg in den nächsten Wochen abgelaufen bin und so gut ich in Erinnerung habe, wie die Eiche ausgesehen hat, finde ich sie jetzt nicht mehr wieder, als hätten die Menschen sie gefällt. Aber selbst dann hätte ich ihren Stumpf finden müssen, oder nicht?
Als wir darunter standen, erklärte Staude mit seiner eindrucksvoll tiefen Stimme: „Es gibt aber auch einen schönen Krach, mein Lieber! Sie werden es nicht glauben, Krach kann wunderbar schön sein, wenn Sie wissen, dass er endgültig ist, dass nach ihm die Stille folgt. Wie wunderschön es klingt, wenn ein Sarg ins Grab poltert. Dieser Amokläufer, Sie müssen es in der Zeitung gelesen haben, wie schön jeder seiner Schüsse geklungen haben muss, der einen Krachmacher ausgelöscht hat. Pistole, Gewehre, wie schön sie schießen. Bomben, wie schön sie explodieren. Welch herrlicher Krach! Der Krach einer kleinen Atombombe kann den Krach von einer ganzen Million Menschen auslöschen. Ist das nicht verrückt, dass wir diesen Krach brauchen, um die Stille zu erzeugen? Aber ist es nicht auch beruhigend?“
„Krach!“, brüllte er dann, „Herrlicher Krach! Krach! KRACH!“, während des gesamten Rückwegs, als wolle er mit seinem Brüllen den Endknall hervorrufen, um endlich in Ruhe dem Zwitschern der Vögel von seinem Klinikzimmer aus zuhören zu können.
Zwei Wochen später stand ich wieder in der Klinik, wollte Staude zu unserem Spaziergang abholen, doch die Schwestern erklärten mir, dass er in eine andere Stadt verlegt wurde. Sie durften mir nicht sagen, wohin, auch nicht warum. Ob ich sein Zimmer sehen dürfe? Sie führten mich hinauf, ich setzte mich auf das schmale Bett, öffnete das Fenster und hörte den Krach der Autos, den sinnlosen Krach der Menschen, der das Vogelzwitschern verzerrte. Die Schwestern gaben mir einen Brief, den Staude für mich hinterlassen hatte. Ich verließ die Klinik, lief hinunter zum Fluss und auf einer Bank öffnete ich den Umschlag. Hören Sie nur immerzu die Enten!, hatte er geschrieben, als hätte er gewusst, dass ich noch immer alle zwei Wochen unseren Spaziergang an den Fluss unternehme. Hören Sie nur immerzu die Enten! Und seien Sie beruhigt, dass nur der Krach die Stille bringt!