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Kraken

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10.02.2010
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Kraken

Ich bestelle mir keinen Nachtisch.

„Nein, heute nicht. Ich kann nichts mehr essen.“ Meine rechte Hand fährt symbolisch über meinen Bauch, ich seufze dabei.

„Ist es denn okay für dich, wenn ich noch etwas bestelle?“ Petra schaut mich fragend an. „Ich hab mich schon so auf das Eis hier gefreut“, flüstert sie mir zu.

Ich lächle sie an. „Nein, nein, das ist überhaupt kein Problem. Bestell dir nur, was du möchtest.“ Ich lehne mich zurück und fahre mir durch die Haare. „Das Eis hier ist wirklich sehr gut, es ist eine Schande, dass da nichts mehr hinein passt.“ Ich deute wieder auf meinen Bauch.

Ich winke den Kellner herbei und lasse sie sich das Eis bestellen. Mir gefällt, wie sie mit ihm spricht, wie sich ihre Lippen bewegen, wie ihr Haar auf den Schultern ruht. Ihre linke Hand liegt ganz ruhig auf dem Tisch, sie hat zarte, feingliedrige Finger. Sie bittet den Mann um einen zweiten Löffel und neigt dabei ihren Kopf in meine Richtung.

„Möchte der Herr vielleicht noch einen Kaffee zu sich nehmen?“, wendet sich der Kellner an mich. Ich lehne dankend ab. Aus Kaffee habe ich mir nie etwas gemacht. Er schmeckt mir nicht sonderlich, daher verzichte ich meist auf ihn.

Er lässt uns zurück an unserem Tisch und geht mit unserer Bestellung zur Küche. Ich lächle sie erneut an, mache ihr ein Kompliment zu ihrem Aussehen und schiebe meine Hand über den Tisch zu ihr hinüber. Getarnt. Sie ergreift sie. Sie sieht sehr glücklich aus.

Mein Name ist Erik Kraken. Ich bin zweiundvierzig, Rechtsanwalt, eigene Kanzlei, mit vier Angestellten. Ich bin unverheiratet. Ich treffe mich seit einigen Wochen mit Petra. Petra ist Bibliothekarin und sieben Jahre jünger als ich. Sie ist blond, schlank und groß, trägt gerne stilvolle Kleidung. Wir haben uns kennengelernt, als ich zur Bibliothek musste, um ein paar Bücher zurückzubringen.

Petra hat einen Sohn, Konrad, er ist sechs Jahre alt. Er ist auch blond, ich habe mehrere Fotografien von ihm gesehen. „Ich mag Kinder“, habe ich ihr gesagt. „Es hat nur nie zu eigenen gereicht.“

Heute ist ein besonderer Tag für uns. Petras Mutter passt auf den Jungen auf und Petra wird bei mir übernachten. Zum ersten mal. Bisher waren wir nicht intim miteinander. Ich habe es dabei beruhen lassen, ihr zu schmeicheln und sie zaghaft zu berühren. Ich küsse sie meist auf den Mundwinkel.

„Bitte entschuldige mich“, sagt sie. „Ich verschwinde nur für einen kleinen Augenblick.“ Auf dem Weg zur Toilette blickt sie zu mir zurück, dreht sich wieder um. Meine Beine entspannen sich, ich bewege meine Füße in kreisenden Bewegungen. Ich trinke einen Schluck Wein. Er ist ganz okay, aber maßlos überteuert.

Nach dem Eis plaudern wir noch ein bisschen über das Theaterstück. Ich habe uns Karten besorgt. Petra ist es nicht gewohnt, ins Theater zu gehen.

„Ich bin so aufgeregt, Erik.“ Sie sieht mich an und ihre Augen funkeln.

———-

Wir sitzen in meinem Mercedes, ich betätige den Blinker und schere aus. Im CD-Spieler läuft ein alter Phil Collins Song, leise summe ich die Melodie mit. Im Kofferraum befindet sich die Tasche mit Petras Wäsche und ihren Toilettenartikeln. Sie schaut zu mir hinüber.

„Es ist wundervoll.“ Sie berührt meine Schulter, streichelt meinen Oberarm. „Du bist wundervoll, Erik.“ Sie beugt sich hinüber. Ich lasse zu, dass sie ihren Kopf an mich schmiegt. „Nein, du bist wundervoll“, sage ich und berühre ihre Wange.

Sie sitzt mit glänzenden Augen neben mir, ihren Blick auf die Bühne gerichtet. Die Inszenierung ist modern, zu laut und zu bunt. Der Hauptdarsteller ist ein Stümper und die Dramaturgie mir ein Gräuel. Petra wischt sich ihre Hand an einem Taschentuch ab und ergreift dann wieder die meine, ich schaue oft zu ihr hinüber. Ich weiß, dass sie meine Blicke mitbekommt.

„Einfach nur hinreißend. Sie stirbt, er trauert um sie, sie erscheint ihm. Dann der Lichtwechsel, ach, ich sage es Dir.“ Ihr fehlen die Worte, ich ergänze sie: „Wie er da alleine auf der Wiese liegt und Gott und die Familie und jeden verdammt, wie der Regisseur da die Ambiguität seines Charakters interpretiert, mit den Streichern aus dem Nirgendwo, das Changieren des Lichtes hin zu dem warmen Sepia-Ton, wie die Bühne ihn gefangen hält, ein Körper über seiner Seele, das Bühnenbild, einem Exoskelett gleich, das hat schon ganz große Klasse.“

———-

Meine Wohnung. Ich stelle ihre Tasche an die Garderobe. „Soll ich Dir die Wohnung zeigen?“, frage ich.

„Ja, bitte.“

Ich greife nach ihrer Hand und führe sie durch den Flur in mein Wohnzimmer. Es gefällt ihr. „Sehr“, sagt sie. Ich bemerke, wie sie meine Einrichtung begutachtet. Sie ist beeindruckt. Auch von den anderen Zimmern.

„Möchtest Du noch etwas trinken?“, frage ich sie. „Etwas leichtes?“, füge ich hinzu. Wir setzen uns ins Wohnzimmer und trinken einen Digestif. Sie erwartet, dass ich mich ihr nun nähere. Ich spüre es. Wir küssen uns.

Wir sind im Schlafzimmer.

Ich bewege mich auf ihr, ich lasse mich auf ihren Rhythmus ein. Sie ist leise im Bett, ich fühle ihre Muskulatur. Ich liebe sie sanft, gebe ihr genug Zeit, um mir Zeichen zu schicken. Ihre Hand greift nach meinem Laken, klammert sich daran fest. Ich küsse ihren Hals, als sie sich unter mir aufbäumt.

Sie schläft in meinen Armen ein.

Ich betrete die Dusche und wasche mich gründlich. Wassertropfen perlen von meiner Kopfhaut. Ich werde mir noch die Zähne putzen müssen, denke ich, als mir die Bilder von Konrad durch den Kopf schießen. Ich lächle. Ich träume.

———-

Meine Mutter stellt mir die Schüssel mit Nudeln hin. Ich greife danach und gebe welche auf meinen Teller. Sie dampfen noch. Mein Vater hat die Sauciere in der Hand. Er gießt die Sauce über die Nudeln, eine braune, dicke Flüssigkeit. Grobe Zwiebelstücke schwimmen darin. Dann schlägt Vater plötzlich mit der anderen Hand nach meinem Bruder. Er trifft ihn im Gesicht.

„An meinem Tisch“, er wird lauter, „an meinem Tisch steckst du dir nicht die Finger in die Nase, oder“, und dabei dreht er sich zu meinem Bruder herum, „oder“, er wird ganz ruhig, ich sehe wie er Paul fixiert, „ich hack sie Dir ab!“

Sein Gesicht eine verborgene Grimasse.

Blut tropft meinem Bruder auf das Hemd. Er weint nicht. Er weiß, das würde es nur schlimmer machen.

Ich senke den Kopf. Vater hat etwas Sauce neben meinen Teller gegossen. Wenn er es bemerkt, wird er Paul noch einmal schlagen. Ich versuche, meine Serviette darüber zu legen. Meine Mutter schweigt dazu, ihr Blick kalt und fort.

Wir essen.

Vater bemerkt den Fleck, als ich mir die Lippen säubere.

Ich bin sieben.

———-

Eine Woche später lerne ich Konrad kennen. Ich bin aufgeregt. Wir gehen in den Zoo. Petra trägt ein Kleid, etwas zu elegant für den Zoo, vielleicht. Konrad ist etwas größer, als ich ihn mir vorgestellt habe. „Seine Haare müssen unbedingt geschnitten werden“, sagt Petra zu mir, als wir vor der Voliere der Raubvögel stehen. Dabei lächelt sie mich an. Ich kann es kaum glauben.

Konrad ist still. Er ist artig und gut erzogen. Höflich reicht er mir die Hand zur Begrüßung und bedankt sich am Abend für den schönen Tag.

„So ein lieber Junge“, sage ich zu Petra später am Telefon. Sie ruft mich an, ich rufe sie an. Sie versucht, ihre Wurzeln ausschlagen zu lassen. Ich gebe mich ihr gegenüber zuneigungsvoll und klassisch. Ich gehe nach dem Gespräch hinunter und fahre den Wagen zur Waschstraße.

Ich leihe mir in der Videothek ein, zwei Filme aus, die ich mir nicht angucken werde.

Ich kann es nicht glauben, dass sie nichts bemerkt.

———-

„Da ist ein Mann hinter den Büschen, der zeigt Dir seinen Puller!“

„Ja?“

Wir sind unterwegs, Paul und ich, und noch zwei Freunde, mit den Rädern. Ich zeige auf eine Stelle weiter vorne.

„Da drüben.“

„Ich will das nicht sehen.“

„Komm schon, du kleiner Hosenscheißer!“

Doch Paul hat Angst. Er hat gelernt, dass man das nicht darf. Den Puller zeigen.

Wir ärgern ihn. Wir fahren einfach davon. In Richtung des Mannes.

Ich drehe mich nicht zu ihm um.

Meine Mutter schlägt mir auf die Lippe, dass es blutet. Sie schließt mich in meinem Zimmer ein. Ich bekomme kein Abendessen. Dann der Besuch meines Vaters.

———-

Ich erzähle Konrad von meiner Arbeit. Wie ich Menschen helfe, denen etwas Ungerechtes widerfahren ist. Wie ich mich für sie einsetze. Warum ich an unser Rechtssystem glaube.

Petra kommt hinüber und legt ihren Arm um meine Schulter. Ich fahre innerlich zusammen.

„Jetzt ist aber gut, ihr zwei. Kommt zu Tisch, das Essen ist fertig.“

Es schmeckt nicht. Petra ist keine gute Köchin. Konrad isst brav seine Kartoffeln. Ich esse meinen Teller leer und strecke meine Arme nach Petra aus. Statt Worten gebe ich ihr einen Kuss auf die Wange. Konrad muss lächeln. Wir lachen alle darüber. Wie eine kleine Familie.

Petras Eltern sind ein Alptraum.

Ich sitze in meinem Bürostuhl und versuche mich auf mein aktuelles Mandat einzulassen. Es will mir nicht recht gelingen. Immer wieder fällt mein Blick auf das Foto, das Konrad und Petra mir zu meinem dreiundvierzigsten Geburtstag geschenkt haben. Immer wieder blende ich Petra weg, immer wieder schaue ich in die lächelnden Augen des Jungen. Immer wieder Konrad, der vor seiner Mutter steht und mir in die Augen schaut. Ich summe leise ein Lied.

———-

Paul ist tot. Er ist überfahren worden. Gestern.

Totenfeier.

Alle sind sie bei uns, alle in schwarz, alle mit ihren langen Armen und ihren langen Fingern. Sie greifen nach mir, sie ziehen mich an sich. Wie Tentakel wickeln sie sich fester um mich und schnüren mir die Luft ab. Ich sehe nur die Schwärze ihrer Kleidung. Und die nackte, kalte Haut, kaltes Fleisch.

Mutter weint. Vater weint. Die Welt sieht aus wie ein Bild der Vergangenheit, eingerahmt stehend auf Großmutters Vitrine. Die Tränen entziehen dem Bild die Farbe, sie berauben es seiner Schärfe.

———-

Wir suchen uns ein Haus. Petra formuliert es: „Wir ziehen zusammen. Wir machen Ernst!“

Ihre Eltern sind aus dem „Häuschen“. Nachdem dieser Lump ihre Tochter verlassen und mit dem Jungen alleine gelassen hatte, hatten sie die Hoffnung wohl bereits aufgegeben. Ich akzeptiere Petra. Ich gebe vor, sie zu lieben. Der Sex ekelt mich an. Wir sprechen viel über Literatur, ihr Fachgebiet. Und über Konrad. Solche Verbindungspunkte sind wichtig.

„Das überlasse ich Dir, Schatz.“ Ich werde mich nicht mit solchen Nichtigkeiten wie dem Farbton der neuen Vorhänge beschäftigen. „Du hast für so etwas doch ein Auge.“

Sie könnte schlimmer sein. Das mag ich an ihr.

Und dass sie es nicht merkt.

Im Kinderzimmer sieht es aus wie in einem Aquarium. Paul interessiert sich sehr für das Leben im Wasser. Ich habe ihm Bildbände und DVDs über die Ozeane und ihre Bewohner geschenkt. Petra stand gerührt neben mir, als die Maler mit der Unterwasserlandschaft an den Wänden fertig waren.

„Ich liebe Dich, Erik.“

Sie muss schlucken.

„Konrad wird so glücklich sein, wenn er das sieht. Und ich bin es jetzt schon!“

Ich spiele mit. Eine Träne läuft über meine Wange.

„Petra, Konrad und du, ihr habt doch mich gerettet. Ich habe doch gar nichts getan.“

Meine Stimme bricht.

„Petra, ich weiß, du hast Dir diesen Moment vielleicht anders vorgestellt, aber…“

Inmitten Konrads neuen Zimmers, zwischen Umzugskartons und Farbeimern – wir beide, mit Tränen in den Augen und zittrigen Händen – ziehe ich einen Ring aus meinem Jackett und halte um Petras Hand an.

———-

Pauls Sachen verschwinden einfach so. Seine Kleidung, seine Schuhe, sogar seine Bilder. Meine Eltern kommen nicht über den Verlust hinweg. Sie sprechen nie über ihn. Sie schweigen ihn aus. Ich träume von seinem Unfall, dem Fahrer kann ich keine Schuld geben. Eher mir. Ich hatte den Wagen gesehen.

Sogar seine Möbel verschwanden.

Einzig ein Buch. Ein Buch über die Tiefsee. Es steht in meinem neuen, viel größerem Kinderzimmer.

Vater hat seinen Job verloren.

Ich bin zwölf.

———-

Die Hochzeit ist klein gehalten. Ihre Eltern, ihre besten Freundinnen, Konrad und ein paar seiner Schulkameraden. Von meiner Seite kommen die Kollegen und ein Freund aus alten Schultagen. Ich arbeite viel, da ist nicht genug Zeit, soziale Kontakte zu pflegen.

„Außerdem“, ich lächle,“ habe ich ja nun Petra. Und Konrad.“

Ich bin am Ziel.

Es wird schlimmer.

Und schlimmer, je mehr Zeit verstreicht.

Ich rasiere mich. Mit einem Nassrasierer. Ich grinse wie verrückt in den Spiegel. Ich bin es leid mich zu verstecken. Petra, Petra, Petra.

Dies und das und, und, und.

Ich verbringe viel Zeit mit Konrad, wir sind uns sehr nahe gekommen in den letzten zwei Jahren. Morgen werden wir verreisen. Nach Florida, Sea-World.

Ihre Eltern melden sich. Sie wünschen uns eine gute Reise und viel Spaß.

Ich sitze im Flugzeug neben Petra. Ich kann ihren Geruch nicht mehr ertragen. Sie trägt dieses Parfum, es ist eine Beleidigung. Ich frage sie, ob sie noch etwas zu trinken haben möchte und stehe auf. Konrad frage ich auch. Ich bestelle bei der Stewardess und gehe zur Toilette. Ich übergebe mich hart.

Ich bin ein ODOL-Mann geworden.

Petra fragt mich, warum ich Konrad Paul genannt habe

Im Hotelzimmer, ein großes, aber keine Suite, lieben wir uns. Petra gibt sich verrucht. Sie will mich verführen, “macht ordentlich an mir rum“, ich lasse sie gewähren.

Wir liegen im Bett, ich schlafe fast. Sie sagt, sie möchte noch ein Kind. Ein Kind von mir. Hier, im Urlaub zeugen. Sie sagt, sie verhütet nicht mehr. Ich gebe vor zu schlafen.

———-

Wir blättern rasch durch das Buch. Diese eine Seite will er immer sehen. Die mit dem Pottwal. Mit dem Kraken in seinem Maul. Mit Fangarmen. Sein Auge. Eine Zeichnung. Unglaublich. Pauls Blick.

Ein Sprung.

Mutter wird neben Vater beerdigt.

Sie sind alle wieder da. Arme, überall Arme. Sie greifen nach mir, ich …

Ich bin vierundzwanzig.

Ich schreie.

Es muss bald geschehen.

———-

Wir tauchen. Sie ist fasziniert. Ich kann es an ihren Augen erkennen. Das Riff liegt wenige Meter unter uns. Ich gebe ihr ein Zeichen mir zu folgen. Ein paar schnelle Flossenschläge. Sie kommt nicht hinterher, ich bin verschwunden. Warte. Lauere. Ich greife nach ihr, als sie vorbeischwimmt, ziehe sie in mein Versteck. Ich reiße ihr das Mundstück aus dem Mund. Sie wirbelt herum. Unsere Taucherbrillen berühren sich, sie sieht in meine Augen, ich drücke sie an mich, ich lasse sie nicht los. Ihre Arme unfähig, das Mundstück zu greifen. Ich sehe wie sie stirbt, wie das Licht in ihren Augen verblasst, wie das Leben aus ihr weicht. Ich schiebe ihr das Mundstück in den Mund zurück. Ich greife ihre Hand und ziehe sie hinter mir her. Ich drücke ihren Körper gegen die Korallen, bis der Atemschlauch beeinträchtigt ist. Bläschen steigen auf. Das ist der Unfall. Ich versetze mich in blankes Entsetzen. Ich presse meiner toten Frau mein Mundstück in den Mund, ich tauche mit ihr auf, ich schrei um Hilfe, ich bin außer mir. Ich denke an Konrad.

———-

Es ist kalt geworden. Schnee liegt in der Luft. Ich stehe im Garten und höre sie sagen:

„Meinem Sohn gefällt dieses Buch auch sehr.“

Die Kundin vor mir nimmt eine Reihe Kinderbücher wieder an sich. Petra steht hinter dem Schalter, ein gerahmtes Bild neben dem Monitor.

Ich habe mich in genau diesem Moment dazu entschieden. Sie scheint die richtige zu sein, habe ich gedacht. Diese große, junge Bibliothekarin, mit dem blonden Jungen im Arm. Ich hatte ein klares Bild vor Augen.

Erinnerungen. Wie ich sie wieder besuche, mit Büchern, die ich nicht lesen werde, in meinen Armen.

———-

Ich bin ihretwegen Anwalt geworden. Nicht dass sie einen Anwalt aus mir machen wollten, nein, ich wollte es ihnen zeigen. Ich wollte ihnen beweisen, dass ich ein guter Junge bin. Ihr guter Junge. Doch der war gestorben, getötet worden. Ich war da. Sie haben ihn mir weggenommen und mich vergessen. Der Fahrer weinte bitterlich. Paul war zwischen zwei Autos auf die Straße gefahren. Meine Eltern sprachen nie darüber. Sie haben ihn mir weggenommen und mich vergessen. Ich hätte Paul retten können. Ich hätte Paul beschützen sollen. Sie taten so, als hätte es ihn nie gegeben. Ich trauerte inmitten meiner Verwandten. Zerrissen, umklammert, gefangen. Ich hatte Schuld. Doch sie haben ihn mir weggenommen und mich vergessen. Ich lernte zu sprechen, zu überzeugen, zu manipulieren, touchieren, suggerieren, ich lernte ihnen die Schuld zu geben. Und sie waren schuldig. Paul. Sie starben früh genug und sie starben zu recht.

———-

Totenfeier, alle in schwarz, alle unsagbar alt. Erinnerungen.

„Oh Erik, es tut mir so leid. So unendlich leid.“

„Wenn wir etwas für Dich tun können, sag bitte Bescheid.“

„Lass Dir Zeit, wir alle stehen hinter Dir.“

„Sie war ein solcher Engel.“

Ich lasse nicht zu, dass sie ihn mitnehmen, ich lasse nicht zu, dass sie ihn an sich reißen, ihn einklammern, ihn erwürgen. Ich rette ihn. Ich werde ihn nicht noch einmal verlieren. Ich werde sich die Geschichte nicht wiederholen lassen. Der schwarze Kraken Trauer wird aufgefressen werden. Konrad weint, er wird Geborgenheit in mir wieder erlangen. Er rettet mich und ich rette ihn.

Petras Eltern akzeptieren Konrads Wunsch. Er möchte bei mir bleiben. Ich bin sein Vater. Ich werde für ihn da sein.

———-

Paul fragt mich, ob auch manchmal der Kraken gewinnt.

„Warum nicht“, sage ich zu Konrad. „Er muss sich nur befreien.“

Ich nicke ihm zu und deute auf die Karte.

„Noch etwas Nachtisch?“

 

hallo,

hier mal der versuch einer horrorgeschichte...
für mich passte sie nur eher in seltsam, als in horror, aber von mir aus kann sie auch verschoben werden.

viel spass beim lesen und ich hoffe auf kritik und anregungen!

liebe grüße,
tierwater

 

Hej tierwater,

richtig überzeugt bin ich leider nicht. Der Erzähler erklärt seine Motive in einem Absatz

Ich bin ihretwegen Anwalt geworden. Nicht dass sie einen Anwalt aus mir machen wollten, nein, ich wollte es ihnen zeigen. Ich wollte ihnen beweisen, dass ich ein guter Junge bin. Ihr guter Junge. Doch der war gestorben, getötet worden. Ich war da. Sie haben ihn mir weggenommen und mich vergessen. Der Fahrer weinte bitterlich. Paul war zwischen zwei Autos auf die Straße gefahren. Meine Eltern sprachen nie darüber. Sie haben ihn mir weggenommen und mich vergessen. Ich hätte Paul retten können. Ich hätte Paul beschützen sollen. Sie taten so, als hätte es ihn nie gegeben. Ich trauerte inmitten meiner Verwandten. Zerrissen, umklammert, gefangen. Ich hatte Schuld. Doch sie haben ihn mir weggenommen und mich vergessen. Ich lernte zu sprechen, zu überzeugen, zu manipulieren, touchieren, suggerieren, ich lernte ihnen die Schuld zu geben. Und sie waren schuldig. Paul. Sie starben früh genug und sie starben zu recht.
die in der Form keine große Wirkung auf mich haben.
Petra ist mir zu blass, ich empfinde sie kaum als Opfer, eher als notwendige Stütze.
Dass er sie töten muss, um das Kind zu beschützen, bleibt mir trotz seiner Erklärungen irgendwie unklar.

Andererseits hast Du dir einen Wahnsinnszeitraum (für ein Kurzgeschichte) ausgesucht, da ist es kein Wunder, wenn einiges auf der Strecke bleibt.

Für mich passt die von Dir gewählte Zeitform für die Rückblenden gut, weil sie das beschreiben, was den Erzähler (immer noch) an- und umtreibt, während es bei dem Petra-Konrad Teil eher etwas Aufzählerisches hat.

Ich finde die Geschichte nicht so sehr seltsam, unter Horror stelle ich mir aber auch etwas anderes vor, vllt Sonstige?

Mir gefällt, wie sie mit ihm spricht, wie sich ihre Lippen bewegen, wie ihr Haar auf den Schultern ruht.
Das hier passt nicht zu seinen späteren Absichten. Wirkt bei zweiten Lesen wie ein absichtlich eingebauter falscher Hinweis für den Leser, der ansonsten keine Sinn macht.

Ich winke den Kellner herbei und lasse sie sich das Eis bestellen.
Vorschlag: ... und sie bestellt sich ihr Eis.

Aus Kaffee habe ich mir nie etwas gemacht. Er schmeckt mir nicht sonderlich, daher verzichte ich meist auf ihn.
Wem erzählt er das jetzt und warum?

Er lässt uns zurück an unserem Tisch
Das klingt, als wäre der Tisch eine einsame Insel.

und schiebe meine Hand über den Tisch zu ihr hinüber. Getarnt.
Dieses "Getarnt" bezieht sich auf die Hand? Hat er sie geschminkt? Mit kleinblättrigen Ästchen umwunden?

Mein Name ist Erik Kraken. Ich bin zweiundvierzig, Rechtsanwalt, eigene Kanzlei, mit vier Angestellten. Ich bin unverheiratet. Ich treffe mich seit einigen Wochen mit Petra. Petra ist Bibliothekarin und sieben Jahre jünger als ich. Sie ist blond, schlank und groß, trägt gerne stilvolle Kleidung. Wir haben uns kennengelernt, als ich zur Bibliothek musste, um ein paar Bücher zurückzubringen.
So eine förmliche Vorstellung mitten im Geschehen reisst mich aus der Handlung und Du bringst das doch eigentlich gut im Text unter.

Sie versucht, ihre Wurzeln ausschlagen zu lassen.
Hab ich noch nie gehört.

Ich kann es nicht glauben, dass sie nichts bemerkt.
Wie sollte sie?

Doch Paul hat Angst. Er hat gelernt, dass man das nicht darf. Den Puller zeigen.
Was ist das jetzt für ein Hinweis. Das lernt jedes Kind, dass man/ein Erwachsener das nicht darf. Aber warum wird er von der Mutter geschlagen und vom Vater besucht?

Und dass sie es nicht merkt.
Was denn nur? Dass er sie nicht liebt? Dass er sie später umbringen will? Und was hat das mit Paul zu tun? Meinst du Konrad?

Ich übergebe mich hart.
Sich "hart übergeben" klingt für mich nach Quatsch.
Dass er ein Odol-Mann geworden ist, bedeutet, dass er Übung im Übergeben hat? Weswegen übergibt er sich? Vor Aufregung, Ekel oder aus purer Gewohnheit?

als sie vorbeischwimmt, ziehe sie in mein Versteck.
fehlt ein "ich"

Der schwarze Kraken Trauer
Krake ohne "n"

Viele Grüße
Ane

 

hallo ane,

mhmmm, mir scheint, Du hast die Geschichte nicht so gelesen, wie ich sie lese.
aber soll ich wirklich aufklären, was ich meine und wieso es so es umgesetzt ist?
ich dank Dir für Deine Kritik, und ja, Du hast recht, diese Geschichte sollte nicht bei seltsam stehen. leider eher bei horror als bei satire, wobei ich da gleiche anteile sehe...

der zeitraum ist schon lang...

aber den braucht es. vielleicht sollte dies gar keine kurgeschichte sein, sondern eher ein exposé?
mir gefällt sie so eigentlich ganz gut, werd aber nochmal dran gehen um einiges klarer zu machen.

also,
eine gute nacht,
tierwater

 

Moi tierwater,

ich habe momentan keine Zeit, einen echten Komm zu schreiben, aber nur kurz, da dies schon zum 2. Mal aufkommt: Horror im übertragenen Sinne ist das vllt, aber keineswegs im Sinne der Rubrik, wie sie auf dieser site definiert wird. Das sage ich nur, damit die Geschichte nicht zweimal verschoben werden muß, denn dort könnte sie nicht stehenbleiben.

Ich dachte ja Spannung/Krimi. Falls nichts richtig paßt (seltsam fand ich hier auch nichts), gibt es noch Sonstige, als cross-over-Rubrik, die übrigens eine sehr schöne ist.

Herzlichst,
Katla

P.S.
Es spricht nichts dagegen, den plot einer KG über mehrere Jahre oder ein ganzes Leben laufen zu lassen. Im Gegenteil, ich bin sehr froh, daß nicht alle Geschichten in Ausschnitten von ca. einer Stunde oder 5 Minuten spielen. Beides hat seine Berechtigung und seinen Reiz, aber es gibt hier keine formalen, genretypischen Vorgaben.

 

hallo katla,

jetzt ist sie hier, und sie macht sich ganz gut hier.

schönen abend noch,
tierwater

 

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