Krankenhausserien
Krankenhausserien
Ich hasse Krankenhausserien im Fernsehen.
Es gibt Situationen, in denen man genau weiß, was Sache ist, aber man fühlt es nicht. Es gibt Dinge, die man rational verstehen kann, jedoch nicht gefühlsmäßig; genau so wie es Sachen gibt, die man rational nicht verstehen kann, sondern höchstens mit seinem Herzen fühlen kann, zum Beispiel die Unendlichkeit. Als der Arzt zu mir sagte, ich habe einen bösartigen Tumor, war das eine dieser Situationen, die man rational versteht, aber nicht gefühlsmäßig. Natürlich wusste ich ganz genau, dass das bedeutete, dass ich Krebs hatte und dass damit eine Chemotherapie, möglicherweise auch eine Strahlentherapie verbunden war. Aber ich konnte nicht fühlen, was das für mich bedeutete. Also fragte ich nach:
„Was heißt das?“
Der Arzt zog darauf hin tief Luft ein, machte die Augen ganz groß und ernst und sagte:
„Das heißt, dass sie Krebs haben.“
Weiter fragen konnte ich nicht, doch meine Gefühle wussten immer noch nicht, was sie mich empfinden lassen sollten. Niedergeschlagenheit? Resignation? Mut? Tapferkeit? Ich wusste es nicht. Woher auch? Bis jetzt hatte ich Krebspatienten nur im Fernseher gesehen. Sie waren mir fremd, eine andere Welt. Nun sollte ich selber zu dieser Welt gehören, die ich beobachtete vom Fernsehsessel aus. Ich schaute mir selbst zu. Fast mit Spannung. Wie würde die Person im Fernsehen reagieren? Der Arzt hatte mich mitleidig angesehen. Ich glaube, die meisten Ärzte denken, der Zeitpunkt, wenn sie einem Patienten sagen, dass er Krebs hat, sei der schlimmste. Das stimmt aber nicht, denn niemand kann in dem Moment fühlen, was das bedeutet.
Ich beschloss also der Person im Fernsehsessel einen mutigen, tapferen Krebskranken zu bieten, der gegen seine Krankheit kämpft. Und so fragte ich auch meine Mutter, als sie ins Krankenzimmer kam, mit einem Grinsen auf den Lippen, ob sie denn noch nicht wüsste, dass ich Krebs hätte, nach dem Motto: „Siehst du, dass es nicht schlimm ist? Siehst du, dass ich kämpfen werde?“ Erst als mein Vater kurz darauf schluchzend und heulend in mein Zimmer stürzte, wurde mir richtig bewusst, wie wenig ich fühlte, dass ich Krebs hatte. Ihr müsst wissen, mein Vater ist ein großer Mann, zu seiner Zeit war er wohl ein Riese, aber heutzutage sind 1,90 Meter wohl nicht mehr so ungewöhnlich. Er ist ein starker Mann, sein Sternzeichen ist Löwe. Diesen Mann, meine jahrelange Stütze und Hilfe, diesen starken Beschützer so hilflos zu sehen, zeigte mir das erste Mal, dass der Kampf gegen diese Krankheit kein Spaziergang werden würde.
Diesmal fiel es noch mir zu der Tröster zu sein. Ich tat also als ob ich schon mehr wüsste über meine Krankheit als meine Eltern und tröstete sie mit wahrem Kämpferherz. Auch in den Tagen darauf spielte ich weiter diesen Kämpfer. Dass ich ihn gespielt hatte, fiel mir erst auf, als ich ihn nicht mehr spielte. Es war eine Rolle gewesen. Ich rief zum Beispiel Freunde an und jagte ihnen einen wahnsinnigen Schrecken ein. Die Gespräche verliefen dann ungefähr wie folgt:
„Hallo, ich bin‘s.“, näselte ich, denn der Tumor saß in meiner Brust und drückte mir die Luftröhre etwas ab, so dass ich mich wie erkältet anhörte.
„Hallo“, antworteten sie, „wie gehts?“
„Ja, ganz gut.“
„Du hörst dich krank an?“
„Ja, ich hab Krebs.“
Ein unwillkürlicher Lacher am an anderen Ende der Leitung. Die Meisten dachten, ich würde einen schlechten Scherz machen. Eine Freundin erzählte mir später, sie hätte in jenem Moment gedacht, dass ich doch keinen so schlechten Humor hätte.
Ich muss ihnen allen wie ein Wahnsinniger erschienen sein: Jemand, der Reih um seine Freunde anrief und ihnen in einem Atemzug erklärte, es ginge ihm gut und er habe Krebs und dann lachte, wenn man zu Tode erschrocken war. Ein Wahnsinniger.
Nun ja, 5 Zyklen a 3 Wochen später fühlte ich auch, was es bedeutete krebskrank zu sein. Alle 15 Tage musste ich für 6 Tage ins Krankenhaus. Dort bekam ich verschiedene zelltötende Mittel, in der Fachsprache Zytostatika, über die Venen verabreicht und jeden Tag Cortison. Zwei Tage ließ es sich gut im Krankenhaus aushalten, aber wenn am dritten Tag die Übelkeit sich in den Magen einschlich, dann ging es bergab. Übelkeit ist im Grunde viel schlimmer als Schmerz. Wenn man Schmerzen hat, kann man stöhnen und schreien, um den Schmerz abzulassen, aber wenn einem übel ist, dann kann man nicht stöhnen und schreien, weil einen die Übelkeit so schwach macht, dass man jede überflüssige Bewegung vermeidet. Man liegt also im Bett und erleidet diese durch Übelkeit hervorgerufenen subtilen Schmerzen, die mit nichts zu vergleichen sind. Und das den ganzen Tag. Da hilft kein Kamillentee. Deshalb fragt man sich am 4. Tag, wie man das noch zwei Tage durchhalten soll. Man empfindet Stunden voller Übelkeit und wenn man auf die Uhr schaut, sind fünf Minuten vergangen. Außerdem bringt der Schlaf keine rechte Erholung, denn es ist ein Erschöpfungsschlaf. Man träumt von den Wildschweinbraten, die Asterix und Obelix immer verzehren, denn tagsüber kann man sich keine Gedanken über das Essen leisten. Außerdem schwemmt das Cortison den Körper auf. Der Geruch verfeinert sich und man kann die Desinfektionsmittel nicht mehr riechen. Ob mir davon gar über geworden ist, kann ich schlecht sagen, denn mir war immer genügend übel.
Aber diese physischen Schmerzen waren nicht die schlimmsten. Auch wenn die Übelkeit sogar an deiner Psyche nagt, ist sie nicht im geringsten mit der Angst zu vergleichen. Die Angst, dass der Krebs wiederkommt , dass man das alles noch einmal durchmachen muss, dass alles umsonst gewesen ist. Diese Angst hatte sich Zyklus um Zyklus in mir angestaut, so dass ich, nachdem ich nach dem 5. Zyklus aus dem Krankenhaus nach Hause kam, in Tränen ausbrach. Diesmal waren es meine Eltern, die mich trösten mussten und mir versicherten, man dürfe einfach nicht daran zweifeln, dass alles gut werde. Das sei ja dasselbe wie aufzugeben.
Natürlich habe ich damals nicht aufgegeben und die Angst ist auch gewichen, aber ganz verschwunden ist sie nicht, denn nach dem heutigen Stand der Wissentschaft kann niemand sagen, ob der Krebs wiederkommt oder nicht. Es gibt zwar Statistiken, aber was ist wenn man selber die Ausnahme ist, die die Regel bestätigt? Wer garantiert mir, dass ich nicht zu den 20 oder 10 oder 1 Prozent gehöre, die einem Rückfall unterliegen. Doch ich bin zuversichtlich, dass nichts dergleichen passieren wird.
Aber deshalb hasse ich Krankenhausserien im Fernsehen, denn sie erinnern mich immer an die Übelkeit und die Angst.