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Kreatur

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16.08.2001
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Kreatur

Es war von Anfang an seine Ausstrahlung - seine Aura - die die meisten von uns in seinen Bann zog. Und dennoch hatte er immer etwas Unheimliches an sich. Wie ein geheimnisvoller Duft, der ihn umhüllte, konnte man seine Anwesenheit förmlich riechen. Ich erinnere mich noch so gut an jenen Tag, als er das erste Mal bei uns aufkreuzte, als wäre es erst gestern gewesen. Dabei liegt dieser Tag schon beinahe fünf Jahre zurück.
Einer der Jüngeren, ich glaube, es war Bob oder Charlie, hatte ihn zu uns ins Clubhaus eingeladen. Und schon bei seinem ersten Besuch fiel er auf. Nicht, daß er irgendwie anders aussah - weder von der Kleidung, noch von der Frisur oder seinem Gesicht - und dennoch stach er von Anfang an aus der Menge hervor. Ja, natürlich, jetzt erinnere ich mich! Er redete viel! Und weil er das, was er sagte, stets so treffend formulierte, rissen wir ihm jedes Wort von den Lippen. Und wir wollten immer mehr. Seine Vorräte an Anekdoten schienen unerschöpflich zu sein.
Es dauerte kurze zeit, da wurde er von den meisten respektiert, als wäre er einer von uns. Er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er ein paar Kilometer entfernt wohnte. Doch daß er - der Fremde - schon nach kurzer Zeit einen so hohen Stellenwert erreicht hatte, störte eine Menge von uns Älteren. Wir hatten den Club schließlich aufgebaut, und nun kam ER daher und übernahm ohne Murren auf Anhieb mehrere Ämter. Natürlich waren wir zum Teil auch froh darüber, uns um einige lästige Aufgaben weniger kümmern zu müssen. Doch gerade das, was uns zur Last gefallen war, nutzte er aus, um immer mehr Macht an sich zu reißen.
Nach knapp einem halben Jahr hatte sich sehr vieles im Club verändert. Ehe ER gekommen war, gab es eine Reihe kleinerer Cliquen, wahllos zusammengewürfelt, die sich untereinander mehr oder weniger gut verstanden. Doch inzwischen hatte er das Lager in zwei Hälften gespalten: Da waren zum einen seine Freunde - er nannte sie, warum auch immer "Brotherhood of Death" - und dann gab es eine Hand voll Leute, die ihn langsam aber sicher abgrundtief haßten. Dazu gehörte auch ich.
Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, aber durch den Versuch, uns alle zu einer großen Gemeinschaft - zu einem wirklichen Club - zusammen zu schweißen, hat er viele langjährige Freundschaften zerstört.
Wir hatten auch einen Betreuer in der Stadtverwaltung sitzen. Ohne diese gottverdammten Auflagen der Stadt wäre unser Club niemals genehmigt worden. Kein Alkohol, keine Drogen, blah, blah, blah, eben dieser ganze Scheiß, den wir Jugendlichen seit jeher zu hören kriegen.
Ja, dieser Betreuer eben war es, der schnell ein ganz besonderes Auge auf IHN geworfen hatte. ER schien irgendwie unfehlbar zu sein, und das war es, was ihm schnell zu noch mehr Ansehen verhalf.
Vier Wochen später war er auf "Taschengeldbasis" bei der Stadt angestellt - als unser Betreuer. Und damit nahm das Chaos seinen Lauf.
Durch die Möglichkeiten, die ihm jetzt von offizieller Seite her gegeben waren, verhalf er unserem Club innerhalb kürzester Zeit zu einem wahnsinnigen Ruf. Doch das Problem bestand darin, daß er UNS, die Alten, nicht mehr berücksichtigte. Er hatte SEINE Pläne, und er führte sie durch. Er hatte für jeden seiner Schritte ein gutes Argument, und dennoch glaubten wir ihm immer weniger. Ja, vielleicht hatten wir ein wenig Angst davor, früher oder später ganz aus unserem Club verdrängt zu werden.
Eines Tages gab es dann einen riesigen Streit. Alles drehte sich nur um IHN. Doch es passierte etwas, mit dem wir nicht gerechnet hatten: Sein Freundeskreis war inzwischen so groß geworden, daß er mit den meisten Clubmitgliedern in einen Partykeller in der Nähe umzog. Innerhalb kürzester Zeit hatte er dem Stadtrat seine Version der Geschichte dargelegt, von wegen, wie sehr ER die ewigen Streitereien haßte, und wie wenig das SEINEN Leuten gefiel. Es trat das ein, was wir schon befürchtet hatten: WIR wurden als störende Elemente dargestellt, die immer nur Unfrieden stifteten und Ärger verursachten. Natürlich legten auch wir dem Stadtrat unsere Version dar, daß alles noch still und friedlich gewesen war, ehe ER kam. Doch da er die Mehrheit unserer Clubmitglieder auf seiner Seite hatte, dachte die Stadt schon daran, den Club gänzlich zu schließen. Nachdem ihnen, so sagten sie, durch die Verlagerung in ein Privathaus keinerlei Kosten entstanden und der offizielle Club ohnehin nur noch sehr schlecht besucht war, wäre eine Schließung langfristig gesehen nicht mehr zu verhindern.
Das Chaos war perfekt. Das, wofür wir uns eingesetzt hatten, jene Stätte der Begegnung und der Geselligkeit, stand kurz davor, aus den Geschichtsbüchern gestrichen zu werden. Glühender Haß loderte in uns auf.
Und diese erste Flut von Gefühlen verursachte heiße Wut und nackte Gewalt. Nur eine Woche später besuchten wir eines IHRER Clubtreffen. Wir wollten nur IHN, doch er zog immer ein Rudel Leute wie einen Rattenschwanz hinter sich her, Leute, die früher zu UNS gehört hatten und jetzt gegen uns kämpften. Alle Drohungen halfen nichts. Sie alle brauchten IHN, als wäre er eine Art geistiger Dealer für sie.
Als versuchten wir es im guten. Einer von uns, ich glaube, es war Marc, rief IHN an und erklärte IHM die chaotische Situation. Und allen Vorsehungen zum Trotz war ER derjenige, der ein Einsehen hatte. Ja, er war bereit zu "Friedensverhandlungen". Wir atmeten alle auf. Vielleicht kam es doch noch zu einem guten Ende, oder besser gesagt, einem hoffnungsvollen Neuanfang. Am Samstag wurde im Club ein großes Palaver abgehalten, bei dem jeder zu Wort kam.
ER mußte große Abstriche machen. Jenes Imperium, das er sich so schnell aufgebaut hatte, zerbröckelte zu großen Teilen. Wir hatten IHN zum König gemacht, doch wir hatten IHN auch wieder abgesetzt. So war es das einzig Richtige. Natürlich hat IHM das gar nicht gefallen, und in den Tagen nach der Besprechung war seine Nähe den meisten recht unangenehm - sogar jenen, die ihm noch wenige Tage zuvor auf Schritt und Tritt gefolgt waren.
Dadurch, daß er wie ein wildes Tier in die Enge getrieben wurde, zeigte er uns endlich sein wahres Gesicht. Seine Clique war zersplittert, doch es gab noch immer ein paar, die zu ihm hielten. Doch all die alten Freundschaften machten IHM einen Strich durch die Rechnung. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchte er, den spärlichen Rest seiner Anhänger für seine Intrigen zu benutzen. Doch auch dieser Schuß ging nach hinten los, und so entschwand er und ließ eine Menge Verbitterung zurück.
Weil er zu feige war, uns seine Schuld einzugestehen, wurde er auch ein Jahr später, als er uns einen Besuch abstattete, verjagt wie ein räudiger Hund.

Warum ich das alles erzähle? Nun, vor wenigen Tagen bin ich IHM begegnet, und ohne das, was damals war, würde niemand das verstehen, was sich bei unserem Wiedersehen ereignet hat. Ich glaube nicht einmal, daß mir jetzt auch nur ein Mensch glaubt.
Es war einer jener klaren kalten Februartage, an dem ich, den Daumen erhoben, am Straßenrand stand. Weil ich wieder einmal keinen Job hatte, hoffte ich auf einen netten Autofahrer, der mich von dem schneidenden Wind erlöste, welcher mir permanent die Kleider an den Leib preßte. Unzählige Autos fuhren an mir vorbei, manche ärgerten mich mit unflätigen Gesten, und plötzlich sah ich IHN, oder besser gesagt SEINEN Wagen in der Schlange.
Ein dicker Kloß steckte mir urplötzlich im Hals, und ich hatte Mühe, zu schlucken. Ich war mir sicher, ER würde halten. ER hatte immer gehalten, das wußte ich, denn auch ich war in dem guten Zeiten schon etliche Male mit IHM gefahren. Ganz egal, wo ein Anhalter hinwollte, ER brachte ihn immer ans Ziel.
Und ich behielt Recht! Nur wenige Augenblicke später stand sein Wagen neben mir am Straßenrand. Nach einem kurzen Moment des Zögerns öffnete ich die Tür und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Sofort schlug mir dieser ungesunde Geruch in die Nase. Es roch irgendwie nach Fäulnis, Tod, Verwesung...
Eine drückende Spannung lag in der Luft. Es herrschte düsteres Schweigen. Das Atmen fiel mir schwer, meine Blicke trübten sich, kurz, mir war, als wäre ich in diesem Wagen irgendwo außerhalb jeder greifbaren Realität. Einzelne Bilder eröffneten sich meinem geistigen Auge, Erinnerungen an gute und schlechte Tage erstrahlten wie Blitzlichter, nur, um gleich wieder in der Finsternis meines Gehirns zu entschwinden. Ich nahm den Verkehr um uns herum gar nicht mehr war. Die Vergangenheit hatte voll und ganz von mir Besitz ergriffen. Ich weiß nicht, ob ER es bewußt verursachte, oder ob es einfach an unserem Wiedersehen lag.
Mittlerweile hatten sie den Club geschlossen, weil er zu einem Ärgernis für die Öffentlichkeit geworden war, und ein Teil von uns - ja, es ist wirklich so - sehnte sich nach IHM, weil ER trotz allem ein Vorbild gewesen war. Nur wollte er zuviel! Er wollte MACHT!
"Warum?" Hatte er zu mir gesprochen oder war dieses Wort über meine Lippen gekommen? Mit aller Gewalt riß ich mich aus meinen Erinnerungen. Plötzlich wandte er sein Gesicht zu mir. Noch einmal hörte ich es: "Warum?" Und diesmal war ich mir sicher, daß ER es gesagt hatte. Ich blinzelte ein paar Mal, denn die Welt - die Realität - außerhalb dieses Autos war verschwunden. In welche Richtung auch immer ich blickte, ich sah nur eine milchige trübe Substanz, die uns von allen Seiten her umschloß.
"Wo sind wir?" Unwirklich, heiser und krächzend schoß diese Frage aus meinem Mund. "An einem Ort fernab von Raum und Zeit", sagte er, und dann: "Beantworte mir nur eine Frage: Weshalb habt ihr mich damals fallengelassen, nach all dem, was ich für euch getan habe?" Mir stockte der Atem. Nach all den Freiheiten, die ER sich seinerzeit herausgenommen hatte, wagte er es, mir eine solche Frage zu stellen? "Daran bist doch nur DU schuld!" sagte ich. "Aber warum?" Wieder eine nichtssagende Frage. "DU hast doch die ganze Macht an DICH gerissen!" schrie ich IHN an.
"Macht..." flüsterte er. "Es läuft immer alles auf Macht hinaus!" Er machte eine Pause, und ich fand nicht das richtige Wort, um die Stille zu durchbrechen. "Weißt DU überhaupt, was MACHT bedeutet?" schluchzte er. "ICH bin eine KREATUR der MACHT!" Bei diesen Worten fuhr er sich mit der linken Hand ins Genick. Ein schmatzendes, saugendes Geräusch ertönte, und ich sah dünne Rinnsale von Blut wie rote Fäden um seinen Hals laufen. Schon im nächsten Moment zog er Haut und Fleisch wie eine Maske ab, und darunter kam der blanke Schädel zum Vorschein. Düstere Augenhöhlen starrten mich an, doch ich konnte meine Blickte nicht von dem lösen, was kurz zuvor sein Gesicht gewesen war. Blut tropfte von dieser deformierten Masse aus Fleisch und Haut und Haar.
"Ich bin eine KREATUR des Bösen!" schrie er mich an. "Die Finsternis hat mich ausgespuckt in eine Welt, in der das Licht allgegenwärtig ist!" Die Panik hatte von mir Besitz ergriffen. Jedes einzelne Haar meines Körpers richtete sich auf. Schließlich fuhr er fort: "ICH hatte es satt, den Menschen Böses anzutun. Ich wollte nichts, als Wärme, Liebe und Gemeinschaft. Und ich hätte es beinahe geschafft, doch dann kamst DU mit DEINEN Freunden, und ihr habt all das zerstört, wofür ich mein spärliches Dasein gegeben habe!" Ich hörte einen wehmütigen Seufzer und fauliger Atem schlug mir ins Gesicht.
"Aber...", begann ich schließlich, doch kein Einwand kam über meine Lippen. Eine Woge von Mitleid ergriff mein Herz, doch schon bald erfüllte mich ein tiefes Schamgefühl.
"Alles war vergebens!" schluchzte er. Eine wäßrige rote Substanz formte sich in den Höhlen seiner Augen zu Tropfen. Langsam glitten diese über die Wangenknochen zum Kinn. "Ich wollte doch nur glücklich sein, doch dann...! Jetzt ist alles aus! Ich muß wieder zurückkehren in diese Welt, in der die Nacht allgegenwärtig ist. Nie mehr darf ich das Licht des Tages erblicken, und das alles nur, weil kein Mensch die Liebe gesehen hat, welch ich immer an den Tag legte. Oh, hätte ich nur niemals damit angefangen, die Kälte und den Haß aus meinem Herzen zu verbannen, dann wären mir so unendlich viele Schmerzen erspart geblieben!"
Ein Teil des Schädels fiel nach innen. Es schien, als würde er implodieren. Schweflige gelbe Dunstwolken stiegen daraus empor und verbreiteten einen üblen Gestank im Inneren des Wagens. Und ich verlor die Besinnung.

Jetzt, da ich wieder wach bin, liege ich in einem großen, weißen Bett in einem unserer Krankenhäuser. Sie sagen, sie hätten mich aus einem Unfallwagen geborgen. Drei Tage lang war ich nicht bei Bewußtsein. Von dem Fahrer des Wagens fehle noch immer jede Spur, sagen sie.
Natürlich, denke ich bei mir, denn ER ist wieder zurückgekehrt in die Finsternis. All seine Versuche, für das Licht zu kämpfen, wurden mit Ablehnung behandelt. Doch schon jetzt sehne ich mich nach seiner Wärme, seiner Liebe, seiner Geborgenheit...

 

<IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0"> Hi Iwahn, dir ist da ein guter Geschichten Genre-Mix gelungen.

<IMG SRC="smilies/sleep.gif" border="0"> Also zunächst wirkt die Geschichte wie etwas für die Kategorie "Gesellschaft / Alltag", die Rede von einem Clubhaus und die Probleme durch ein neues Mitglied, etc.

<IMG SRC="smilies/cwm24.gif" border="0"> Später wo er sich in das Auto setzt springt die Szenarie um in Spannung.

Sofort schlug mir dieser ungesunde Geruch in die Nase. Es roch irgendwie nach Fäulnis, Tod, Verwesung...

<IMG SRC="smilies/afraid_thamorphman.gif" border="0"> Und wird fast zu Fantasy/Horror.
Schon im nächsten Moment zog er Haut und Fleisch wie eine Maske ab, und darunter kam der blanke Schädel zum Vorschein. [...] "Ich bin eine KREATUR des Bösen!"

:eek: Da dachte ich mir "Seltsam", dieses Ereignis am Schluss. Und nun der philosophsiche Aspekt. Das ganze Ereignis muss keine Fiktion sein, schliesslich wird er Bewusstlos und das vielleicht schon im Auto. Im Krankenhaus wird ihm diese Szenarie visionsähnlich wieder vor Augen geführt. Eine böse Kreatur die sich sozusagen auf Probe dem guten gewidmet hat. Nur das die Menschen nicht alles gute Akzeptieren und misstrauisch werden wenn jemand nur positives oder negatives macht. Die Menschen müssen/wollen verstehen und nicht hintergangen werden. Am Schluss machst du ja deutlich, dass er sich nun nach dieser "Kreatur" sehnt, eben weil er nun verstanden hat.

<IMG SRC="smilies/cwm12.gif" border="0"> Der langwirkende Anfang hat mir persönlich nicht so sehr gefallen. Da hat die Geschichte noch nicht den gewissen Reiz, aber der Schluss gleicht das wieder aus. Tja, da gibt es ein Sprichwort "Aller Anfang ist schwer".

 

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