Krimi für mich
Das nächste Mal werde ich sicherlich nicht wieder im Februar umziehen. Irgendwie scheint alles so trist, gar nicht freundlich einladend wie noch im September, als wir uns für dieses Haus entschieden haben.
Nun gut, innen ist es ja, was wir draus machen, aber der schöne große Garten, auf den wir uns so gefreut hatten, bietet zu dieser Jahreszeit nicht viel Freude. Für die Mädchen wurde extra ein überdachter Sandkasten angefertigt. Mit Spielhaus in der ersten Etage. Da sitze ich mit ihnen, wenn das Regenwetter drinnen nicht mehr zu ertragen ist.
Drei Wochen lang versuchen wir schon, es uns hier wohnlich zu machen, und gehen dabei täglich unsere Grundstücksbegrenzung ab, wenn wir frische Luft brauchen. Arm in Arm schlendern wir dann am Zaun entlang und besprechen voller Vorfreude, was im Frühjahr an Gartenarbeit auf uns zukommt.
Da wir so ziemlich auf der Hälfte unserer Sackgassensiedlung wohnen, haben wir von unserem Zaun aus alles im Blick, die Zufahrt zur Straße ebenso wie den kleinen Pfad am anderen Ende, welcher in den Wald führt.
Wer hier nicht hingehört, geht nicht unbemerkt die Straße entlang.
Ein tolles, sicheres Gefühl, gerade wenn die Kinder klein sind.
Darum waren wir an diesem Tag während unseres Streifzuges durch den Garten so unglaublich überrascht, als Motorenlärm aufheulte und sich ein Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit zu uns in die Siedlung verirrt zu haben schien. Wir waren uns jedenfalls sicher, dass es sich nur um einen Irrtum handeln könne. Das Fahrzeug erwies sich beim Vorbeifahren als Motorrad.
Wir sahen uns noch erstaunt an, als ein lauter Knall, quietschende Reifen und ein lauter, heller Schrei durch die Straße klangen.
Wir rannten an den Zaun. Mein Mann murmelte nur „Oh, nein“. Er war früher einmal Krankenpfleger und hoffte zu jeder Zeit, niemals Erste Hilfe anwenden zu müssen, wenn es wirklich ernst ist. Mit einem Satz war er über dem Jägerzaun und wollte weiter in die Richtung, aus welcher der Knall zu hören war.
Ich riss ihn am Ärmel zurück, denn die Situation, die sich uns bot, war ohne Bild eindeutiger als es jetzt der Fall war. Erschrocken kletterte Thilo über den Zaun zurück in den Garten. Wir versuchten uns nun so zu platzieren, dass uns die hohe Tanne an der Einfahrt ausreichend Sichtschutz gab.
Der helle Schrei schien von unserer Nachbarin, Frau Bell, zu stammen. Ihren Handschuhen nach zu urteilen, hatte sie im Garten gearbeitet und wurde davon überrascht, dass ein Motorrad gegen ihre Mauer geprallt war.
Jedoch sah der Fahrer alles andere als schwer verletzt aus. Er schrie Frau Bell an. „Kommen sie ja nicht näher. Denken sie nicht daran, die Polizei zu holen. Ich habe eine Waffe.“ Dann ein erneuter Schrei Frau Bells.
Was sollten wir tun? Er schien so panisch, und panische Menschen noch mehr zu stressen, macht sie nicht berechenbarer, geschweige denn einsichtiger, soviel war uns klar.
Uns blieb nichts übrig, als abzuwarten und zu beobachten, was er tat.
Der Unbekannte raffte zusammen, was er fassen konnte. Er kramte in den Gepäcktaschen seines Motorrads und schnappte sich mit einem versichernden Blick auf die verschreckte, alte Dame das verbliebene Jutetäschchen vom Lenker.
„Stehen bleiben, bis Sie mich nicht mehr sehen. Klar?!“
Die alte Dame schien nach Luft zu schnappen, sie schwankte sichtlich.
„Klar???“
Sie nickte schwach. Hielt sich an ihrem Rechen fest.
Ungeachtet des auf dem Boden liegenden Motorrades rannte der Mann los. Er schien mit einem Blick festgestellt zu haben, dass sein Fahrzeug durch den Aufprall fahruntüchtig geworden war. Er lief in Richtung Wald. Ein wenig humpelte er, ansonsten schien er nichts abbekommen zu haben.
Einige Male versicherte er sich, dass Frau Bell sich nicht rührte und dann war er im Wald verschwunden.
Thilo tippte die Nummer der Polizei in sein Handy. Mal wieder kein Netz hier am Ende der Zivilisation, wie wir es hier sonst recht spaßig nannten. Diesmal stieß mein Mann ein heiseres, angestrengtes Fluchen aus, als ob er sich noch nicht traute, seiner Stimme wieder die gewohnte Lautstärke zu geben. Hektisch machte er sich auf, das Festnetzgerät im Haus zu suchen.
Unglaublich, wie gefasst man angesichts solch einer Szene direkt zwei Häuser weiter sein kann, die man ansonsten nur im Fernsehen erwartet.
Diesmal sprang ich über den Zaun und sprintete zum Nachbarhaus. Frau Bell stand völlig aufgelöst an derselben Stelle, und ließ sich dankbar in meine Arme sinken.
„Es ist vorbei, Frau Bell. Haben sie keine Angst mehr. Die Polizei ist schon verständigt. Lassen sie uns ins Haus gehen. Ich mache ihnen eine gute Tasse Kaffee.“
Keine zwei Minuten später, wir hatten gerade das Haus betreten, traf die Polizei ein.
Bevor ich mich über das prompte Erscheinen wundern konnte, klärte einer der Herren uns auf.
Als der Anruf der Zentrale sie erreichte, waren sie zwei Straßen entfernt in der Privatvilla des Juwelierpaares Steinbrecher und nahmen ein Überfallprotokoll auf. Aller Geheimhaltung zum Trotz sei es einem Unbekannten gelungen, an die Information zu gelangen, dass Herr Steinbrecher eine komplette Kollektion wertvoller Steine bei sich zu Hause aufbewahrte, um sie in einigen Tagen an einen äußerst solventen Kunden zu veräußern.
Für die Polizei war es ein Leichtes, den Einbruch mit dem Vorfall in unserer Straße zusammenzubringen.
Nach Eintreffen des Anrufes vom Ehepaar Steinbrecher wurde eine Ringfahndung eingeleitet, aber nicht damit gerechnet, dass sich der Täter noch einige Zeit in der Nähe des Tatorts aufhalten würde.
Dieser hatte seine Opfer mit äußerster Gewalt geknebelt und gefesselt, und nur durch Zufall war es dem Ehemann gelungen, sich der Fesseln zu entledigen und dann seine Frau zu befreien.
Mittlerweile war Herr Bell zu Hause eingetroffen und nachdem wir unsere Beobachtungen vorgetragen hatten, gingen wir auch heim.
Es wurde Zeit, die Kinder aus dem Hort abzuholen, doch mit einem Mal war ich nicht mehr in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen.
Soviel also zur Sicherheit hier, schoss es mir in den Kopf. Ich fing an zu zittern. Thilo bestand darauf, dass ich eine Beruhigungstablette nehmen sollte und wollte mich ins Bett verfrachten.
„Schließ bloß alles ab, wenn du die Kinder holst!“ gab ich ihm mit auf den Weg.
Es fiel mir schwer, ihn gehen zu lassen. Ich würde alleine sein. Was, wenn der Mann uns doch gesehen hatte? Kompletten Sichtschutz hatte die Tanne uns nun wirklich nicht geboten.
Ich hatte Angst, immer wieder diese drohende Gestalt vor Augen.
Die Herren von der Polizei versprachen uns, dass wir auf dem Laufenden gehalten würden.
Hoffentlich kommt bald der Anruf und sie haben ihn.
Dann schlief ich ein.
Wie lange ich geschlafen hatte, wusste ich nicht. Ich fühlte mich aber gestärkt und war der sicheren Annahme, dass es nur Stunden dauern könnte, bis die Festnahme erfolgen würde. Schließlich hatte ich einige Angaben über sein Äußeres machen können. Wie wertvoll sie wirklich waren, reflektierte ich anscheinend aus Selbstschutz-Gründen nicht. Aber klar war, er trug die ganze Zeit einen Helm. Gesicht und Haare waren nicht sichtbar.
Was die Zeit bis zum Eintreffen der rettenden Nachricht betraf, stellte ich klare Regeln für mich und meine Familie auf:
Die Kinder dürfen nur in unserer Begleitung nach draußen und sollen keinesfalls erfahren, was sich mittags ereignet hatte. Zusätzlich beschlossen wir, die Türen sofort zu verschließen, wenn wir das Haus betreten hatten.
Am Abend jenes Tages sollten einige Freunde Thilos unser neues Zuhause kennen lernen und mein Mann wich trotz der Vorkommnisse nicht von diesem Plan ab.
Anstelle einer Einweihungsparty hatten wir unsere besten Freunde nach Männlein und Weiblein getrennt jeweils einen Abend zu uns eingeladen, um es uns richtig gemütlich zu machen. So konnte er am Frauenabend früh ins Bett und morgens ohne schlechte Laune und Kater die Kinder betreuen. Ich durfte ausschlafen. Andersherum dann am Männerabend.
An diesem Tag wäre ich lieber mit ihm alleine geblieben.
Er schaute mich mit seinen großen Augen, in die ich bis heute so verliebt bin, an und meinte gewollt witzig:
„Liebe Line, je voller das Haus, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Mann vorbeikommt. Und überhaupt, er hat uns nicht gesehen, was soll er schon von uns wollen. Er wird sich hüten, hier herumzuspionieren.“
Dankbar über jedes Wort, drückte ich seinen Arm, brachte die Kinder ins Bett und rollte mich gemütlich in eine Decke ein.
Viele Männer im Haus vermitteln einer Frau Sicherheit. Ich schlief durch.
Am nächsten Morgen waren die Bilder und Gedanken des gestrigen Tages nur noch schemenhaft abrufbar. Zu irreal das Ganze. Zu inkongruent zu unserem Leben.
Die Kinder hatten tatsächlich nichts mitbekommen, und so gingen wir mit den ersten zaghaften Sonnenstrahlen dieses Februars in den Garten.
Die Mädchen fingen sofort an zu spielen und ich wollte hier und dort einige Äste von den Obstbäumen schneiden. Irgendwo hatte ich kürzlich gelesen, die Zeit dafür sei im Moment optimal, wolle man im Herbst leckere Früchte ernten.
Ich hatte die erste Karre dünner Äste zum Kompost gefahren, da rief meine Große mit aufgeregter Stimme nach mir.
Der Schrecken von gestern saß mir doch noch in den Gliedern. Ich wollte, konnte aber im ersten Moment nicht reagieren. Dann setzte ich mich langsam in Bewegung.
Am Sandkasten kletterte ich die Leiter hoch und fand meine Lieben gespannt auf dem Boden sitzend. Beide starrten auf einen Gegenstand in Sophies Hand.
„Mama, schau mal! Wie toll er leuchtet! Ist das ein echter Edelstein?“
Edelstein?! In meinem Körper schienen gleichzeitig vier Herzen mein Blut zu pumpen. Ich fühlte meinen Puls an sämtlichen Stellen, meine Atmung wurde stoßartig.
Nur nicht panisch werden.
Wortlos streckte ich ihr meine Hand entgegen. Ich versuchte zu lächeln. Juwelen zu besitzen ist eigentlich ein Grund zur Freude
Sophie leerte ihre Hand in meiner aus. Paula machte große Augen. Sie schien fasziniert von der Idee, dass echte Edelsteine in ihrem Häuschen herum liegen könnten.
Ich betrachtete das edel glänzende Etwas. Mir war heiß und kalt zugleich und abwechselnd.
Suchend schaute ich mich in der Hütte um, und tatsächlich lag unter der Holzbank in der Ecke ein hübsches, dunkelblau schimmerndes Nickisäckchen.
Vorsichtig schaute ich durch die Holzfenster, um sicherzugehen, dass wir unbeobachtet waren. Hatte er sich heute Nacht unser Sandkastenhäuschen als Versteck für seine Beute ausgesucht? Kein wirklich gutes Versteck für so wertvolle Steine, und unauffällig auch nicht.
Trotzdem, welche weiteren Erklärungsansätze gab es?
In Sekunden liefen verschiedene Theorien wie Farbfilme vor meinem inneren Auge ab und ließen nichts Gutes vermuten.
Hätte mir jemand gesagt, mein Puls spränge mir innerhalb der nächsten fünf Minuten aus dem Hals, ich hätte es geglaubt.
Sind wir hier und jetzt sicher?, fragte ich mich.
Die Kinder wirkten angesichts ihrer hypernervösen, vor sich hin murmelnden Mutter auch nicht sehr entspannt.
Ein Krimi für mich, schießt es mir in den Kopf. Ich mittendrin.
Nun sollte ich mir schnell über meine Rolle klar werden, und eines wusste ich genau: Die des Täters war schon besetzt, und die eines Opfers wollte ich keinesfalls.
Zeugin schien mir angemessen, denn ich hatte nie Ambitionen, Polizist oder Detektiv zu spielen, geschweige denn zu werden.
Ich nahm also das Säckchen und die Mädchen mit ins Haus und schloss schnell und mit einem Blick durch den Garten die Tür zu.
Ich konnte Thilos und meine Freude über vier Außentüren auf einmal nicht mehr nachvollziehen. In der Situation waren sie für mich nur potenzielle „Tätereinlassmöglichkeiten“. An zwei Seiten ließ ich die Rollos herunter.
Dann schickte ich die Kinder mit einer halb vollen Tüte Chips auf ihre Zimmer. Sprechen konnte ich mit ihnen nicht.
Das Vorhaben, Thilo zu wecken, um ihm von dem Fund zu berichten, musste ich nach zwei Anläufen verschieben. Es war wohl spät geworden. Ich wollte ohne seine Einschätzung aber nicht die Polizei ins Haus holen. So beschloss ich, dass es nicht auf eine Stunde ankam. Schließlich wäre der Täter schön dumm, käme er im Hellen zurück, um seine Beute zu holen.
Während ich das Mittagessen vorbereitete, ließ ich im Radio den Lokalsender laufen, in der Hoffnung, es brächte die erlösende Nachricht von der Festnahme des Einbrechers.
Ich blickte auf die Juwelen und verkniff mir ein Lächeln. Wenn er tatsächlich schon erwischt wäre, würde sie die Juwelen melden?
Ich rief meine Lieben in die Küche. Niemand am Tisch sprach viel. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen. Mein Mann sah noch müde aus, und die Mädchen behingen sich im Geiste vielleicht schon mit den Edelsteinen aus der Hütte. Ähnlich ging es mir auch...
Als jeder auf seinem Platz saß, bat mich Thilo, das Radio auszuschalten. Ich stand auf und stutzte. Anstelle es abzustellen, drehte ich es lauter.
„...gegen sieben Uhr in der Früh gefasst werden. Er hatte die Nacht in einem Wald nahe Schönwalde auf einem Hochsitz verbracht. Die Beute konnte sichergestellt werden. Kommen wir nun zum Wetter...“. Erlöst schaltete ich ab.
Unterm Tisch nahm mein Mann meine Hand und drückte sie liebevoll.
Da war nur eine kleine Sache, die für mich nicht rund war. Nicht passte. „Die Beute konnte sichergestellt werden“ , hatte der Sprecher vorgelesen. Ehepaar Steinbrecher würde nachsehen und feststellen, dass sie nicht vollständig ist. Wenn aber niemand das Säckchen vermissen sollte...
Meine Gedanken entglitten mir. Ich sah uns in einem wunderschönen Wintergarten sitzen und auf den neuen Familienvan schauen, den wir uns schon so lange gewünscht hatten. Wir tranken Champagner und prosteten uns über die Urlaubsprospekte hinweg lächelnd zu.
„Ach Schatz“ unterbrach mein Mann meinen Tagtraum, „ich muss gleich unbedingt ins Hüttchen. Oder hast du nachgeschaut, ob wir alles mit ins Haus genommen haben. Du kennst die Jungs, die mussten erst mal alles testen, und so haben wir uns gestern Abend dort oben niedergelassen.“
„Jaja, ich war schon dort. IHR habt nichts liegengelassen, aber...“
Wieder unterbrach er mich: „Ach, und der Peter hat den Kindern etwas mitgebracht. Irgendein blaues Säckchen mit Edelsteinimitaten. Als wir aus der Hütte zurück im Haus waren hat er es nicht mehr gefunden. Muss ihm irgendwo aus der Tasche gefallen sein.“