Kunstwerk
Kunstwerk
„Befreie mich“, nur ein Flüstern, fremde Worte, gesprochen von einer fremden Stimme, ein echoloses Bitten. Die Worte wiederholen sich, werden zu einen nicht versiegenden Strom. Sie dringen in jede Region meines Gehirns, doch sie stammen nicht von einer hier anwesenden Person, denn ich bin allein, sondern aus dem hintersten Winkel meines Denkapparates. Ich versuche die Stimme geschlechtlich einzuordnen und entscheide mich für weiblich. Desto öfter ich sie höre, desto sicherer bin ich mir, dass sie von einer Frau stammt. Es muss ein telepatischer Ruf sein, der nicht für mich direkt bestimmt ist, sondern für irgendjemanden, der ihn empfangen und der hilflosen Person zur Rettung kommen kann. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf den sich endlos wiederholenden Ruf. Vor meinem Inneren Auge baut sich langsam ein dunkler Raum auf, flackerndes Licht, kalter Boden, schwarze Wände und eine braune Holztür mir direkt gegenüber.
Es geht dieses Mal relativ schnell. Das Opfer muss sehr begabt sein, denn sie spürt mich, spürt meinen Geist, der Besitz von ihren Körper nimmt und lässt es geschehen. Ihr Körper nimmt mich auf, stößt mich nicht ab. Oft lehnt sich der fremde Körper gegen meinen Geist auf, verschließt sich mir vollkommen. Ich schaue durch ihre Augen, sehe dass was sie sieht, fühle dass, was sie fühlt und dass stärkste Gefühl, das ich wahrnehme, ist die nackte Angst. Ihre Arme und Beine sind an die Wand gekettet, so dass sie sich nicht rühren kann. Ihr ganzer Körper bebt. „Bitte hilf mir, befreie mich. Ich habe so schreckliche angst.“, sie fängt zu weinen an. „Wovor hast du angst?“, es hat mich ganz schön Kraft gekostet, diese Frage zustellen. „Der Mann, er tut mir so schrecklich weh, er ist so böse.“ „Welcher Mann? Wie sieht er aus?“ Das verschwommen Bild eines Mannes trifft mich wie ein Schlag. Er trägt dunkle Kleidung und hat eine Sturmmaske übers Gesicht gezogen, so dass ich das Gesicht nicht erkennen kann.
Ich spüre, wie meine Kräfte schwinden, die letzte Frage hat mich meine letzten Reserven gekostet. Würde ich nicht schon im Bett liegen, wäre ich wohl stumpf zu Boden gefallen, doch so sinke ich nur erschöpft in mein Kissen. Ich brauche einige Zeit, bis sich mein eh schon schwacher Körper erholt. Ich muss ihr irgendwie helfen, doch wie hätte ich es tun können. Ich kann nicht mal aufstehen, so schwach ist mein Körper und außerdem würde man mich wohl kaum gehen lassen. Das Personal, dass mich hier gegen meinem Willen festhält, würde mir eher eine von diesen Spritzen geben, die mich ruhigstellt, als mich hier herausspazieren zu lassen. Und um aufzustehen zu können, müsste man mich erst mal von den Riemen befreien, die mich an das Bett fesseln. Wieder ein Ruf: „Hilf mir, bitte“, er trifft mich unerwartet und eine schwere Last lastet auf meinem Herzen. Ich kann dieser Frau nicht helfen, ich kann mir selbst nicht helfen. Es grenzte an reinster Ironie: beide gefesselt, beide in einer Lage, in der sie am Liebsten nicht sein wollen. Es tut so schrecklich weh, es zerreißt mir das Herz, zu wissen, dass da jemand ist, der Hilfe braucht und man kann nichts tun. Ich verfluchte diese Irrenanstalt und das gesamte Personal, all die Tabletten und Spritzen, Medikamente und auch den scheiß Typen der diese arme Frau misshandelte. „Ihr sollt alle verflucht sein“, schreie ich mit krächzender Stimme, so dass es von den Wänden des winzigen Zimmers nur so widerhallte.
Tränen schießen mir in die Augen und laufen mir die Wangen hinunter. „So eine Scheiße, noch mal!“ Ich zerre an den Fesseln, mit aller Kraft, versuche ich mich aufzurichten, fall dann aber wieder zurück auf die harte Matratze. Minuten vergehen, bis ich mich wieder beruhigt habe. Ich kann nichts tun, nicht für mich und schon gar nicht für sie. Dann wird mir klar, dass ich ihr beistehen kann, nicht körperlich aber doch immerhin mental. Ich schließe meine Augen und warte bis sie mir wieder eine Nachricht übermittelt. Es vergeht eine für mich schrecklich lange Zeit. Dann erreicht mich ein schwacher Ruf, sie muss schon sehr schwach sein. Sofort greife ich danach und setze alle Kraft ein. Wirre Gedanken gehen durch ihren Kopf, dass Bild eines blonden Mädchens, dass auf einer Schaukel sitzt, erscheint kurz, verschwindet aber genauso schnell, wie es aufgetaucht ist. Dann Bilder von einer Familie, Fotos auf der- ich nehme es an- die gesamte Familie versammelt ist. Verzweiflung, körperlich sowie auch seelische Schmerzen beherrschen ihren Körper und natürlich die nackte Angst. Sie scheint zu bluten, doch ich kann nicht sagen, ob es tiefe Wunden sind. Sie ist völlig aufgelöst in ihrer Angst und Verzweiflung, redet unsinniges Zeug, denkt einfach nur drauflos. Sie versucht auch nicht mehr direkt mit mir Kontakt aufzunehmen, sondern gerät immer mehr in Panik. „So bleib doch ruhig, bitte“, flehe ich sie an. All die Gedanken und Bilder hämmern wie Schläge auf mich ein. Immer wieder bin ich kurz davor, aus ihren Körper zugleiten, doch reiße ich mich zusammen und erschöpfe meinen Körper immer mehr. Plötzlich geht die Tür auf, das flackernde Licht wirft diffuse Schatten an die Wände und der Mann mit der Sturmmaske tritt in den Raum. Ausgerechnet jetzt! Er trägt einen Akkuschraubendreher in der rechten Hand, mit einen dieser gewundenen Aufsätze. Du widerliches Schwein, lass sie in Ruhe, schreie ich, doch er kann mich natürlich nicht hören. Stattdessen scheinen die Wände des Raumes, in dem ich mich befinde, zu erzittern. Langsamens Schrittes geht er auf sie (uns) zu, sie gerät in noch heftigerer Panik, zerrt an den eisernen Fesseln, als wolle sie die aus der Verankerung in der Wand ziehen. Sie schreit und zerrt weiter, versucht alles, um sich zu befreien, doch es nutzt nichts. „Oh, wie ich sehe, erwartet man mich schon sehnlichst. Man kann es wohl kaum erwarten, dass ich weiter an meinem Kunstwerk arbeite.“ In seiner Stimme hallt diese Art von
Überlegenheit wider, die der Arzt gegenüber dem hilflosen Patienten hat und die ich nur allzu gut kenne. Sie fleht ihn an, ihr nicht mehr weh zu tun, doch er geht nicht darauf ein. Stattdessen lässt er den Akkuschraubendreher kurz aufheulen und das Geräusch geht mir durch Mark und Bein.
Ich hätte es nicht ertragen, noch länger in ihren Körper zu stecken, selbst wenn ich die Kraft dafür noch aufgebracht hätte, doch so bricht der Kontakt auf eine für mich erträglichere Weise ab. Er ist jetzt gerade dabei, sein „Kunstwerk“ zu vollenden und ich kann nichts tun, um dass zu verhindern, rein gar nichts.