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Kurztrip nach Feierabend
Ich sitze im Café in der hintersten Ecke, schön versteckt, und trotzdem fühle ich mich wie auf dem Präsentierteller. Ich kann absolut sicher sein, hier niemandem zu begegnen, den ich nicht treffen will. Mein Handy ist ausgeschaltet. Dennoch ist da dieses merkwürdige Gefühl, als würde ich nackt über den Rathausmarkt marschieren. Ich bin hier, um zu schreiben, vielleicht liegt es daran. Schreiben kann eine sehr intime Angelegenheit sein, auch oder gerade wenn man nur ein paar Gedanken festhalten und sich ein wenig seinen Träumen nach einem anstrengenden Arbeitstag hingeben will. In diesem Moment wird ein Zitat für mich zum Lebensgefühl: Das Café ist der ideale Ort für alle, die alleine sein wollen, dafür aber Gesellschaft brauchen.
Das Café ist relativ leer, nur sechs Gäste sitzen plaudernd oder schweigend im Raum verteilt, aber hier herrscht immer ein gewisser Lautstärkepegel. Das Geklapper des Geschirrs, Dampfgeräusche der Kaffeemaschinen, das nagende Rattern der Kaffeemühle, Musik und die Unterhaltungen der Gäste. Alles vermischt sich mit dem Kaffeeduft zu einer betörenden Melange und verbreitet auf ganz eigene Weise eine Entspannung, die man nur hier findet.
Ich fühle mich beobachtet, gerade so, als ob ich etwas Verbotenes tun würde. Die Bedienung hinter dem Tresen sieht neugierig zu mir herüber, die Gäste ignorieren mich – hoffentlich. Ich schwitze, obwohl ich direkt unter der Lüftung sitze und mir ständig ein kühler Lufthauch in den Kragen schleicht. Seit gestern Abend freue ich mich auf diesen Moment, und vorhin, als es endlich so weit war, verließ mich fast der Mut. Ich habe ein Date – nur mit mir alleine. Ich genieße meine Kaffeekreation, wärme meine kalten Hände an der Tasse. Ein riesengroßer Cookie wartet darauf, von mir vernascht zu werden. Süß, verführerisch, gehaltvoll. Die Sünde pur. Der passende Feierabendlohn.
Aus den Lautsprecherboxen erklingt ein Lied, das ich einer Nacht auf dem Mont Martre in Paris gehört habe. Meine Gedanken befreien sich aus der Umklammerung der Anspannung und begeben sich auf die Reise. Langsam formiert sich vor meinem inneren Auge ein Bild. Wie auf einem belichtetem Stück Fotopapier im Bad der Entwicklerflüssigkeit erscheinen die Details, erst nur schemenhaft angedeutet und blaß, dann immer klarer und bunter. Ich lasse mich gehen und tauche ein in dieses Bild. Ich fühle einen kleinen Windhauch auf meinem Gesicht. Man fühlt sich so erhaben auf den Stufen des Sacre Coeur, hoch über der Stadt, und trotzdem spürt man noch Verbundenheit mit dem, was sich unter einem ausbreitet wie ein wild gemusterter Teppich – anders als beim Eiffelturm, wo man sich wie von einem Lufthauch davon geweht fühlt. Bei Einbruch der Dunkelheit an lauen Sommerabenden erwacht auf diesem höchsten natürlichen Punkt der Stadt ein ganz eigenes Leben. Es wird zum Treffpunkt vieler verschiedenster Menschen. In meiner Nacht hatte ein junger Mann seine Gitarre dabei und spielte ein bekanntes Lied. Auf einmal entstand ein Klangteppich, der alle Umstehenden einfing, als nach und nach alle anfingen, mitzusingen. Ein magisches Gefühl jagte mir warme Schauer über den Rücken. Ich sah hinunter. Tausende von Lichtern erweckten den Eindruck einer brennenden Stadt, wie tanzende Fackeln in der Ferne. Ich wünschte, dieser Moment würde ewig dauern.
Hier und jetzt, in der Hamburger City, erinnere ich mich daran. Ich entdecke, dass dieser Moment in jener Nacht tatsächlich ewig anhält, wenn man ihn nur leben lässt. Der Arbeitstag ist auf einmal so weit weg, als hätte er gar nicht stattgefunden. Ich bin so entspannt wie nach einem Kurztrip. Was so ein geistiger Ausflug, getragen von der Erinnerung durch ein Lied, bewirken kann!
Die Bedienung hinter dem Tresen hat es aufgegeben, mich zu beobachten. Habe ich wirklich die ganze Zeit hier gesessen? Sie hat ja keine Ahnung, wo ich wirklich gewesen bin!